Wieder greift Zoë Beck gesellschaftlich brisanten Stoff auf und formt daraus eine spannende Krimihandlung mit durchaus beklemmenden Zügen, so nah ist ihr Near-Future-Szenario wieder an unserer Realität. Während es im Vorgängerroman Paradise City (vgl. Rezension vom 25.9.2020) um ein totalitäre Gestalt annehmendes Gesundheitssystem ging, versetzt sie uns diesmal bereits mit der Eingangsszene — ein verheerender Waldbrand — in eine von den nicht mehr fernen Folgen des Klimawandels in Aufruhr versetzte Welt. Doch Gänsehaut macht vor allem, dass diese Katastrophe in der Welt der Protagonistin Harriet schon fast zu einer neuen Normalität geworden ist. Wie beiläufig erfährt man, dass Temperaturen über 40 Grad nicht zum ersten Mal über die Katastrophenapp angekündigt werden, und auch die sozialen Verhältnisse in Deutschland, wo der Roman spielt, haben sich nun in aller Sichtbarkeit prekarisiert: Harriet wohnt, auch das gehört zur neuen Normalität, obwohl längst erwachsen und berufstätig, in einem kleinen Wohnheimzimmer mit rationierten Strom- und Warmwassertarifen und arbeitet als gelernte Klavierbauerin im Sicherheitsdienst eines Kaufhauses, dessen Waren sie sich selbst, wie auch die Mehrheit der Bevölkerung, nicht im Traum leisten kann.
Durch die eingangs geschilderte Brandkatastrophe gerät Harriet nun in einen Strudel von Ereignissen, die sie in ihre Vergangenheit zurückversetzen und irritierende Bruchstücke von teils widersprüchlichen, teils auch sehr gewaltsamen Erinnerungen wachrufen, die ihr gesamtes gegenwärtiges Leben umstürzen. Harriet beginnt, allem zu misstrauen, nicht zuletzt sich selbst und ihrem eigenen Gedächtnis. Doch mutig, wie Zoë Becks Protagonistinnen es sind, folgt sie auf eigene Faust den Spuren in ihre Vergangenheit und in die tieferen Schichten ihres beschädigten Gedächtnisses. Sie geht von Frankfurt nach München, in die Stadt, in der sie aufgewachsen ist und in der sie als junges Mädchen eine vielversprechende Karriere als Konzertpianistin begonnen hatte; und sie stellt im Umfeld ihres an Demenz erkrankten Vaters Nachforschungen zum Abbruch ihrer Pianistenkarriere und zum Unfalltod ihrer Mutter an.
Was einen außer der spannend konstruierten Geschichte in Atem hält, die man zusammen mit der Protagonistin Seite um Seite und Bruchstück für Bruchstück zu rekonstruieren versucht und die übrigens in der hörenswerten Audiofassung von Milena Karas mit Gespür für den richtigen Tonfall gelesen wird, ist das Geschick der Autorin, gleich mehrere gesellschaftsrelevante Stoffe auf glaubhafte und nachvollziehbare Weise zusammenzubringen. Klimakrise, K.I. und Gedächtnisforschung, Mobbing, Gewalt an Frauen und überhaupt eine beklemmende Auffächerung der verschiedenen Gesichter der Gewalt — auf dem Wege der Fiktion wird deutlich, wie all dies viel mehr miteinander zusammenhängt, als man es auf den ersten Blick vermuten würde. Das ist erschreckend, spannend und nicht zuletzt höchst erkenntnisreich.
Bibliographische Angaben
Zoë Beck: Memoria, Suhrkamp 2023
ISBN: 9783518472927
Hörbuch: Argon Verlag 2023
Gelesen von Milena Karas
ISBN: 9783839820339
Bildquelle
Zoë Beck, Memoria
© 2023 Suhrkamp Verlag AG, Berlin