Franz Escher ist ein Meister im Puzzeln, er macht es nicht unter 500 Teilen, am liebsten hat er 1000teilige Puzzles, deren Bildmotive Werke aus der Kunstgeschichte zeigen. Bei einem aus seiner wahrhaft umfangreichen Sammlung jedoch, der Erschaffung Adams von Michelangelo, fehlt ein Puzzleteil. Nicht etwa, weil Escher es verloren hätte, es wurde aufgrund eines, wie sich herausstellt, seriellen Herstellungsfehlers nur mit 999 Teilen geliefert. Was fehlt, ist ausgerechnet das Nichts. Das entscheidende Puzzleteil zwischen Adam und Gott, der Abstand, die Leere, ein winziges Teil, doch von tragender Bedeutung.
Wolf Haas‘ neuer Roman lässt sich als eine Variation dieses Nichts lesen. Wackelkontakt ist ein Zauberspiel mit der Fiktion, die ja auch ein Kunstwerk sein kann. Hervorgezaubert wird, wie aus dem Nichts, eine wahnsinnig spannende und unterhaltsame und witzige Geschichte.
Zu Beginn wird eine fast Beckett’sche Situation des Absurden evoziert, der Protagonist wartet — nicht auf Gott oder Godot, sondern auf den Elektriker, der einen Wackelkontakt in der Küchensteckdose beheben soll. Auch der Tod bricht unversehens herein — nicht in Gestalt eines metaphysischen Schicksals, sondern in seiner ganzen Absurdität als geradezu kläglich anmutende Folge reiner Physik. Es ist faszinierend, wie es Wolf Haas gelingt, die absurde Banalität einer alltäglichen Situation humorvoll zu fassen und zugleich, von unerwarteter Seite, gleichsam durch die Hintertür, wieder einen kleinen Schimmer metaphysischer Bedeutsamkeit hineinlugen zu lassen, der, ganz bescheiden, wie es dem absurd-weisen Humor des Autors entspricht, fortan über dem gesamten weiteren Verlauf der wendungsreichen Romanhandlung schweben wird.
Franz Escher wartet also auf den Elektriker, und das dauert, wie man das so kennt, wenn man auf den Elektriker wartet. Er liest deshalb ein Buch, genauer gesagt einen Mafiaroman, da er in diesem doch recht speziellen Genre seine zweite Leidenschaft neben Puzzles gefunden hat. Sobald Franz Escher zu lesen beginnt, verschmelzen wir Leser der Geschichte von Franz Escher gleichsam mit dem Leser Franz Escher und tauchen in die Geschichte des italienischen Ex-Mafioso Elio ein, der im Gefängnis auf seine Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm wartet, ehe er seine abenteuerliche Reise in ein neues Dasein als der Deutsche Marko Steiner beginnt. So weit, so bekannt: Hier handelt es sich um die nicht ungewöhnliche Technik des Romans im Roman. Doch auch Elio befindet sich in einer quälenden Situation des Wartens, die ihrerseits absurd-komische Züge hat, und auch er liest, um diese Situation zu überbrücken, ein Buch, und zwar ein deutsches Buch über einen, der Escher heißt und auf einen Elektriker wartet. Damit ist eine weitere Treppenstufe der Fiktionsironie erreicht, auf der Wolf Haas von nun an in allmählich gesteigertem, am Ende furios rasantem Tempo, zwischen den Handlungsebenen springend, sie hinterhältig verzwirbelnd, immer weiter klettert, um am Ende… doch dazu später.
Von der pointenreichen, verblüffende Haken schlagenden Handlung soll hier gar nicht mehr verraten werden. Doch, vielleicht noch so viel: Es kommt auch eine Witwe vor, eine junge Witwe. Über das Wort stolpert der Protagonist Franz Escher, der sich als freiberuflicher Trauerredner davon eigentlich nicht aus der Fassung bringen lassen dürfte, immer wieder. Wir erfahren, dass das Wort „Witwe“ eine der wenigen Personenbezeichnungen ist, bei denen die männliche Form aus der weiblichen gebildet wird, also zur Abwechslung einmal Adam aus Eva erschaffen wird, und von einem althochdeutschen Ausdruck abgeleitet ist, der „Mangel haben“ bedeutet. Der Mangel, das Fehlen, die Leere, auch hier tauchen sie wieder auf, diesmal klar mit Tod und Trauer assoziiert, der metaphysischen Grundierung einer Handlung, die sich ihrerseits permanent in einem Wackelkontakt zwischen Absurdität, Komödie und Melodram befindet.
Überhaupt ist die Sprache auch in diesem neuen Buch des gerne mit Sprache spielenden österreichischen Schriftstellers wieder sehr bedeutsam und Quell zahlreicher komisch-abseitiger Abschweifungen auch von Seiten der Protagonisten, die sich beide durch ihr fast pingelig genaues Sprachbewusstsein auszeichnen. Während Escher über die etymologische Herkunft des Wortes „Witwe“ sinniert oder sich über den aus synchronisierten Filmen übernommenen fragwürdigen deutschen Gebrauch der Wendung „Oh mein Gott“ aufregt, legt der ehemalige Mafioso eine erstaunliche Sprachbegabung an den Tag und lernt mit Engagement und in einem zweiten Schritt auch mit Fingerspitzengefühl die deutsche Sprache, um seine neue Identität glaubhaft zu verkörpern. Den derben Slang, den er sich von einem Junkie im Knast abschaut, verfeinert er später im Privatunterricht bei einer älteren deutschen Dame, um schließlich infolge eines erzwungenen Umzugs nach Österreich sich auch dieser dialektalen Variante gekonnt anzupassen.
Konstruiert ist der Roman, wie bereits angedeutet, wie ein Bild von M. C. Escher, dem niederländischen Künstler und Erschaffer optischer Täuschungen und perspektivischer Unmöglichkeiten. Berühmt ist etwa das Bild einer Treppe, die ein geschlossenes Viereck bildet und doch endlos weiter bergauf zu führen scheint, oder das zweier Hände, die sich gegenseitig zeichnen. Diese unmöglichen Figuren entstehen durch klitzekleine logische bzw. perspektivische Fehler, ein winziges Detail, das das Irrationale in den Bereich der Wahrnehmung rückt, den Betrachter verwirrt und für einen Moment an die Unendlichkeit glauben lässt. In Wackelkontakt entstehen die unmöglichen Figuren auf narrativer Ebene infolge fiktionsironischer Elemente, die der Autor immer wieder einstreut. Es gibt Doppelungen, Unwahrscheinlichkeiten und kleine Verschiebungen in der Zeit, die mein Literaturwissenschaftlerherz gern mit Beispielen belegen würde, was ich mir in diesem Fall aber verkneife, um denen, die das Buch noch nicht gelesen haben, den Genuss der Überraschung zu bewahren.
Was den Roman zu einem so kurzweiligen und intelligenten Lesevergnügen macht, ist vor allen Dingen der Humor, der auf so vielen Ebenen gleichzeitig wirkt: auf der Ebene der Figuren, auf der Wolf Haas wieder so eigenwillige und verstockte wie zugleich einfach liebenswürdige Charaktere erschafft, wie man sie aus seinen anderen Romanen kennt; auf der Ebene der Sprache und auf der Meta-Ebene der Fiktionsironie. So wie sich die beiden Handlungsebenen mit den verschiedenen Protagonisten auf einmal ineinander verschränken, verschränken sich in diesem Roman Absurdität und Lebensnähe untrennbar miteinander. Und am Ende dieses Zauberspiels geschehen fast noch Wunder. Die Antwort auf die conditio humana, die in der bedrohlichen Langeweile des Wartens ihre Metapher gefunden hat, ist natürlich der Griff zum Buch, das Lesen, das Eintauchen in die Bildwelten der Fiktion. Auf diese Weise, so staunt man, wird sogar der Tod überwunden — oder ist alles nur ein Zaubertrick?
Bibliographische Angaben
Wolf Haas: Wackelkontakt, Hanser 2025
ISBN: 9783446282728
Bildquelle
Wolf Haas, Wackelkontakt
© 2025 Carl Hanser Verlag, München