bookmark_borderWolf Haas: Wackelkontakt

Franz Escher ist ein Meister im Puzzeln, er macht es nicht unter 500 Teilen, am liebsten hat er 1000teilige Puzzles, deren Bildmotive Werke aus der Kunstgeschichte zeigen. Bei einem aus seiner wahrhaft umfangreichen Sammlung jedoch, der Erschaffung Adams von Michelangelo, fehlt ein Puzzleteil. Nicht etwa, weil Escher es verloren hätte, es wurde aufgrund eines, wie sich herausstellt, seriellen Herstellungsfehlers nur mit 999 Teilen geliefert. Was fehlt, ist ausgerechnet das Nichts. Das entscheidende Puzzleteil zwischen Adam und Gott, der Abstand, die Leere, ein winziges Teil, doch von tragender Bedeutung.

Wolf Haas‘ neuer Roman lässt sich als eine Variation dieses Nichts lesen. Wackelkontakt ist ein Zauberspiel mit der Fiktion, die ja auch ein Kunstwerk sein kann. Hervorgezaubert wird, wie aus dem Nichts, eine wahnsinnig spannende und unterhaltsame und witzige Geschichte.

Zu Beginn wird eine fast Beckett’sche Situation des Absurden evoziert, der Protagonist wartet — nicht auf Gott oder Godot, sondern auf den Elektriker, der einen Wackelkontakt in der Küchensteckdose beheben soll. Auch der Tod bricht unversehens herein — nicht in Gestalt eines metaphysischen Schicksals, sondern in seiner ganzen Absurdität als geradezu kläglich anmutende Folge reiner Physik. Es ist faszinierend, wie es Wolf Haas gelingt, die absurde Banalität einer alltäglichen Situation humorvoll zu fassen und zugleich, von unerwarteter Seite, gleichsam durch die Hintertür, wieder einen kleinen Schimmer metaphysischer Bedeutsamkeit hineinlugen zu lassen, der, ganz bescheiden, wie es dem absurd-weisen Humor des Autors entspricht, fortan über dem gesamten weiteren Verlauf der wendungsreichen Romanhandlung schweben wird.

Franz Escher wartet also auf den Elektriker, und das dauert, wie man das so kennt, wenn man auf den Elektriker wartet. Er liest deshalb ein Buch, genauer gesagt einen Mafiaroman, da er in diesem doch recht speziellen Genre seine zweite Leidenschaft neben Puzzles gefunden hat. Sobald Franz Escher zu lesen beginnt, verschmelzen wir Leser der Geschichte von Franz Escher gleichsam mit dem Leser Franz Escher und tauchen in die Geschichte des italienischen Ex-Mafioso Elio ein, der im Gefängnis auf seine Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm wartet, ehe er seine abenteuerliche Reise in ein neues Dasein als der Deutsche Marko Steiner beginnt. So weit, so bekannt: Hier handelt es sich um die nicht ungewöhnliche Technik des Romans im Roman. Doch auch Elio befindet sich in einer quälenden Situation des Wartens, die ihrerseits absurd-komische Züge hat, und auch er liest, um diese Situation zu überbrücken, ein Buch, und zwar ein deutsches Buch über einen, der Escher heißt und auf einen Elektriker wartet. Damit ist eine weitere Treppenstufe der Fiktionsironie erreicht, auf der Wolf Haas von nun an in allmählich gesteigertem, am Ende furios rasantem Tempo, zwischen den Handlungsebenen springend, sie hinterhältig verzwirbelnd, immer weiter klettert, um am Ende… doch dazu später.

Von der pointenreichen, verblüffende Haken schlagenden Handlung soll hier gar nicht mehr verraten werden. Doch, vielleicht noch so viel: Es kommt auch eine Witwe vor, eine junge Witwe. Über das Wort stolpert der Protagonist Franz Escher, der sich als freiberuflicher Trauerredner davon eigentlich nicht aus der Fassung bringen lassen dürfte, immer wieder. Wir erfahren, dass das Wort „Witwe“ eine der wenigen Personenbezeichnungen ist, bei denen die männliche Form aus der weiblichen gebildet wird, also zur Abwechslung einmal Adam aus Eva erschaffen wird, und von einem althochdeutschen Ausdruck abgeleitet ist, der „Mangel haben“ bedeutet. Der Mangel, das Fehlen, die Leere, auch hier tauchen sie wieder auf, diesmal klar mit Tod und Trauer assoziiert, der metaphysischen Grundierung einer Handlung, die sich ihrerseits permanent in einem Wackelkontakt zwischen Absurdität, Komödie und Melodram befindet.

Überhaupt ist die Sprache auch in diesem neuen Buch des gerne mit Sprache spielenden österreichischen Schriftstellers wieder sehr bedeutsam und Quell zahlreicher komisch-abseitiger Abschweifungen auch von Seiten der Protagonisten, die sich beide durch ihr fast pingelig genaues Sprachbewusstsein auszeichnen. Während Escher über die etymologische Herkunft des Wortes „Witwe“ sinniert oder sich über den aus synchronisierten Filmen übernommenen fragwürdigen deutschen Gebrauch der Wendung „Oh mein Gott“ aufregt, legt der ehemalige Mafioso eine erstaunliche Sprachbegabung an den Tag und lernt mit Engagement und in einem zweiten Schritt auch mit Fingerspitzengefühl die deutsche Sprache, um seine neue Identität glaubhaft zu verkörpern. Den derben Slang, den er sich von einem Junkie im Knast abschaut, verfeinert er später im Privatunterricht bei einer älteren deutschen Dame, um schließlich infolge eines erzwungenen Umzugs nach Österreich sich auch dieser dialektalen Variante gekonnt anzupassen.

Konstruiert ist der Roman, wie bereits angedeutet, wie ein Bild von M. C. Escher, dem niederländischen Künstler und Erschaffer optischer Täuschungen und perspektivischer Unmöglichkeiten. Berühmt ist etwa das Bild einer Treppe, die ein geschlossenes Viereck bildet und doch endlos weiter bergauf zu führen scheint, oder das zweier Hände, die sich gegenseitig zeichnen. Diese unmöglichen Figuren entstehen durch klitzekleine logische bzw. perspektivische Fehler, ein winziges Detail, das das Irrationale in den Bereich der Wahrnehmung rückt, den Betrachter verwirrt und für einen Moment an die Unendlichkeit glauben lässt. In Wackelkontakt entstehen die unmöglichen Figuren auf narrativer Ebene infolge fiktionsironischer Elemente, die der Autor immer wieder einstreut. Es gibt Doppelungen, Unwahrscheinlichkeiten und kleine Verschiebungen in der Zeit, die mein Literaturwissenschaftlerherz gern mit Beispielen belegen würde, was ich mir in diesem Fall aber verkneife, um denen, die das Buch noch nicht gelesen haben, den Genuss der Überraschung zu bewahren.

Was den Roman zu einem so kurzweiligen und intelligenten Lesevergnügen macht, ist vor allen Dingen der Humor, der auf so vielen Ebenen gleichzeitig wirkt: auf der Ebene der Figuren, auf der Wolf Haas wieder so eigenwillige und verstockte wie zugleich einfach liebenswürdige Charaktere erschafft, wie man sie aus seinen anderen Romanen kennt; auf der Ebene der Sprache und auf der Meta-Ebene der Fiktionsironie. So wie sich die beiden Handlungsebenen mit den verschiedenen Protagonisten auf einmal ineinander verschränken, verschränken sich in diesem Roman Absurdität und Lebensnähe untrennbar miteinander. Und am Ende dieses Zauberspiels geschehen fast noch Wunder. Die Antwort auf die conditio humana, die in der bedrohlichen Langeweile des Wartens ihre Metapher gefunden hat, ist natürlich der Griff zum Buch, das Lesen, das Eintauchen in die Bildwelten der Fiktion. Auf diese Weise, so staunt man, wird sogar der Tod überwunden — oder ist alles nur ein Zaubertrick?

Bibliographische Angaben
Wolf Haas: Wackelkontakt, Hanser 2025
ISBN: 9783446282728

Bildquelle
Wolf Haas, Wackelkontakt
© 2025 Carl Hanser Verlag, München

bookmark_borderLeon de Winter: Stadt der Hunde

Jaap Hollander, jüdischer Arzt aus den Niederlanden, (ehemaliger) Frauenheld und Meister seines Fachs, der Neurochirurgie, reist alljährlich auf den Spuren seiner Tochter nach Israel, die dort vor inzwischen zehn Jahren verschwunden ist. Seine Frau, die längst seine Exfrau ist, fährt nicht mehr mit, er reist alleine, ein Einzelkämpfer, treu oder verblendet, der hartnäckig an das Überleben seiner Tochter glauben will. Bei seinem diesjährigen Aufenthalt bietet sich ihm eine einmalige und zugleich wahnsinnige Gelegenheit, im Gegenzug für seine chirurgischen Künste eine unglaubliche Summe Geld zu erhalten — mit der er die besten Geologen engagieren könnte, die Schichten der Höhle zu erforschen, in der seine Tochter zusammen mit ihrem Freund verschwunden ist.

Leon de Winter entwirft einen wendungsreichen, spannenden Plot, ein kurzweiliges Spiel mit verschiedenen Bewusstseinsebenen, in denen die Hauptfigur zeitweise sogar mit einem streunenden Hund kommunizieren kann und im Reich der Toten wandelt, doch hinter der Oberfläche guter Unterhaltung verbergen sich tiefere Schichten. Die Geschichte zeichnet im Grunde einen komplexeren psychologischen Verarbeitungsprozess nach. Jaap Hollander kämpft nicht nur mit dem Älterwerden und einer zunehmenden kognitiven Schwäche, was die Erinnerung an fremde Gesichter betrifft — die er sich im Rückgriff auf sein noch immer reiches Gedächtnisarchiv an Filmsequenzen über Vergleiche mit Filmschauspielern einzuprägen versucht. Ihn plagen auch Gewissensbisse verschiedener Art; angesichts der einschneidenden, auch bedrohlichen, sich überstürzenden Ereignisse drängt sich ihm eine reflektierende Rückschau auf sein bisheriges Leben auf. Von zentraler Bedeutung ist darin die Verarbeitung des Verschwindens der Tochter, es geht um Verlust und Trauer, um das langsame und schmerzhafte Sich-Eingestehen von etwas, was er lange Zeit nicht wahrhaben wollte. Und schließlich geht es auch immer wieder um das Jüdischsein, dem Jaap gleichgültig bis ablehnend gegenüberstand, während seine Tochter es im jungen Erwachsenenalter auf einmal zu praktizieren begann. Sie bemühte sich, als Vaterjüdin anerkannt zu werden, und war deshalb auch zu ihrer fatalen Reise nach Israel aufgebrochen.

Das Israel, in dem sich Jaap Hollander bewegt, ist das Israel kurz vor dem siebten Oktober, ein Israel mit realistischen und halluzinatorischen Elementen, sogar der israelische Premierminister und ein saudiarabischer Herrscher tauchen auf. Es ist auch ein Israel mit vielen Widersprüchen, die sich im Gegensatz der Landschaften abbilden. In der Wüste, wo die Tochter verschwunden ist, begegnet er auch zum ersten Mal dem Hund, der ihn noch lange verfolgen wird, im modernen Großstadtleben in Tel Aviv löst sich die Privatheit in Öffentlichkeit auf, man kann flanieren oder aber in der protestierenden Menge auf- oder untergehen.

Was auf den ersten Blick wie eine ganz persönliche Geschichte mit Krimi-Elementen erscheint, wie ein privater Prozess von Trauer und Verarbeitung, öffnet sich immer wieder ins Politische. Und wirft einen ebenso kritischen und selbstironischen wie einfühlsamen Blick auf seine Hauptfigur, die in ihrer verzweifelten Männlichkeit letztlich sehr menschlich wirkt.

Bibliographische Angaben
Leon de Winter: Stadt der Hunde, Diogenes 2025
Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
ISBN: 9783257072815

Bildquelle
Leon de Winter, Stadt der Hunde
© 2025 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderSally Rooney: Intermezzo

Dass das Leben nicht immer geradlinig verläuft, kann man als Binsenweisheit betrachten. Und dennoch ist es eine Erfahrung, die, obwohl sie sich seit Generationen endlos wiederholt, uns Menschen immer wieder von neuem überrumpelt und deshalb natürlich auch unerschöpflichen Stoff für Romane bereithält. In Widerspruch mit der Gesellschaft, mit einer von außen oder auch selbst gesetzten Moral, mit einer wie auch immer gearteten Normalität zu geraten, ist eine oft konfliktreiche, schmerzhafte Erfahrung, die uns die Romanfiguren nicht abnehmen können. Aber wenn sie literarisch einfühlsam und überzeugend gestaltet sind, fühlt man sich beim Lesen vielleicht ein bisschen weniger allein, als wäre man im Gespräch mit einem guten Freund.

Wie in ihren früheren Romanen erzählt die irische Autorin Sally Rooney in Intermezzo einfühlsam und auch sehr packend von Anziehungskraft, von Verlangen, von Zuneigung jenseits geradliniger, gesellschaftskonformer Biographien. Im Zentrum steht diesmal aber keine Freundschaft, wie zuletzt in Schöne Welt, wo bist du (vgl. Rezension vom 8.2.2024), sondern die Beziehungsgeschichte zweier auf den ersten Blick sehr ungleicher Brüder, Ivan und Peter. Ivan ist Anfang 20, ein eher introvertierter junger Mann, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und mit Leidenschaft und ziemlich viel Talent Schach spielt. Sein deutlicher älterer Bruder Peter ist Anfang 30, ein erfolgreicher junger Anwalt, Gutverdiener, der sich in ganz anderen gesellschaftlichen Kreisen bewegt. Die Handlung setzt ein, kurz nachdem der Vater der beiden gestorben ist. Von Beginn an legt sich der Schatten der Vergänglichkeit über die Beziehungswirren, wodurch einiges Schmerzhaftes anders, melancholischer, auch schärfer, herausgearbeitet wird, als dies in Rooneys Vorgängerromanen passiert ist. Es geht um Trauer, um Verlust, um Verletzungen, und um den Umgang damit. Denn wenngleich Ivan und Peter ein unterschiedlich inniges Verhältnis zu ihrem Vater hatten, wirft die Trauer das Leben und die Beziehungen beider Brüder ziemlich heftig durcheinander, konfrontiert sie mit sich selbst und auch miteinander, mit ihrem seit Jugendzeiten angespannten Verhältnis.

Ivan, der sehr eng mit seinem Vater war, lernt ausgerechnet in der Trauerphase eine Frau kennen, entbrennt in Liebe und muss nicht nur zwei so unterschiedliche wie intensive Gefühlszustände in sich miteinander in Einklang bringen, sondern außerdem damit umgehen, dass diese neue und so leidenschaftliche Liebe auch in anderer Hinsicht Konventionen verletzt. Margaret, so ihr Name, ist deutlich älter als er und hat sich erst vor kurzem von ihrem alkoholsüchtigen Mann getrennt. Mit großem Aufwand versuchen die Liebenden ihre Beziehung, deren Entstehen sie nicht abbremsen können und auch nicht wollen, zu verheimlichen.

Auch Ivans älterer und scheinbar so viel lebenstüchtigerer Bruder Peter hat sein Leben nicht wirklich unter Kontrolle. Seit einem Jahr ist er in einer halboffenen Beziehung mit einer deutlich jüngeren, freizügig lebenden Studentin, Naomi. Da sie einem anderen Milieu entstammt, will es Peter lange Zeit nicht wahrhaben, dass er sich ernsthaft in sie verliebt haben könnte. Die beiden tun so, als hätten sie eine rein sexuelle Beziehung, Peter unterstützt Naomi finanziell und flüchtet sich weiterhin in das Gespräch und in die lang vertraute Nähe seiner Exfreundin Sylvia. Sylvia ist seine große, nie überwundene Liebe, sie hatte vor einigen Jahren einen Unfall mit lebenslangen Verletzungen und anhaltenden Schmerzen, die ihr ein „normales“ (Liebes-)Leben unmöglich machen. Ihre Liebesbeziehung hatte Sylvia damals beendet, trotzdem macht Peter sich noch immer Hoffnungen, dass aus ihrer besonderen Freundschaft eines Tages wieder mehr werden könnte.

Ungeachtet der modern anmutenden äußeren Form der Beziehungskomplikationen, die an Eva Illouz‘ philosophische Analysen von Liebe und Verbindlichkeit im 21. Jahrhundert erinnern, ist Intermezzo im Grunde ein psychologischer Entwicklungsroman. Der Titel spielt auf eine begrenzte, entscheidende Spanne im Leben an, eine Zwischenzeit, in der vieles noch ungeklärt, unausgesprochen, unverarbeitet ist, in der die Figuren, die noch in der Luft hängen, motiviert werden, ihr Leben, wie auch immer, zu gestalten. So begreifen Ivan und Peter allmählich, dass sie nicht glücklich damit werden, wenn sie sich aus dem Weg gehen und hassen, ja, dass die an den Tag gelegte Gleichgültigkeit am Schicksal des anderen nicht ehrlich ist, und dass sie, so schwer es angesichts all der gegenseitigen Verletzungen scheint, aufeinander zugehen wollen, um all das Unausgesprochene endlich zur Sprache zu bringen. Fast schien es mir am Ende des Romans, dass trotz der wirklich innig geschilderten Liebe zwischen Ivan und Margaret die eigentliche Liebesgeschichte diejenige zwischen den beiden Brüdern ist. Von Enttäuschung bis zum Geständnis, von Unsicherheit über Ablehnung, Wut bis zur innigen Zuneigung ist die Geschichte der beiden Brüder voller Emotionen und Projektionen, die sich auf unterschiedliche Weise in den anderen Beziehungsgeschichten spiegeln, die die Autorin um diese zentrale Geschichte herum gruppiert hat.

Der dialogische Stil erinnert übrigens wieder sehr an Rooneys frühere Romane, die Form von Gesprächen mit Freunden, so der Titel ihres ersten Romans, oder wahlweise unter Brüdern oder Liebenden, ist die Ausdrucksweise, die ihr liegt und die es ihr, mit der wechselnden inneren Perspektive der verschiedenen Liebes- und Gesprächspartner, ermöglicht, nicht nur in die Innenwelt der Brüder, sondern ergänzend auch in die der mit ihnen in Beziehung stehenden Frauenfiguren einzutauchen, uns die Ängste, Sorgen, Vorbehalte, Enttäuschungen, Ausflüchte, Sehnsüchte und Wünsche ihrer Figuren so nahezubringen, als wären wir mit ihnen befreundet.

Bibliographische Angaben
Sally Rooney: Intermezzo, Claassen 2024
Aus dem Englischen von Zoë Beck
ISBN: 9783546100526

Bildquelle
Sally Rooney, Intermezzo
© 2025 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderDavid Almond: Ein finsterheller Tag

Ein heißer Sommerferientag in einer Kleinstadt, ein Junge, der in seinen Spielsachen kramt, für die er schon ein bisschen zu alt ist, und eine Mutter, die ihren Sohn liebevoll, aber mit Nachdruck nach draußen schickt, an die Luft, in die Bewegung, ins Leben. Noch ahnt niemand, auch nicht der Leser, dass dieser eine Tag, an dem sich die ganze Geschichte abspielen wird, ein ganz und gar außergewöhnlicher Tag werden wird, ein finsterheller Tag, an dem so vieles passiert, Schönes und Schreckliches, Bizarres und Vertrautes, Traumhaftes und ganz Reales, dass man immer mehr ins Staunen gerät über diesen Jungen namens Davie, der gerade erst seinen Vater verloren hat, gerade erst der Kindheit entwächst und so unbeirrt und unverwandt seine Wanderung durch die Stadt und aus der Stadt heraus immer weiter fortsetzt, hin zu einem Ziel, dass er mehr zu ahnen als zu kennen scheint.

Zu Beginn erfährt Davie von einem Freund, dass ein Mord passiert sein soll, ein Junge liegt hingeschlagen auf dem Asphalt, Polizei und Priester sind schon zur Stelle, man ist sich in der Kleinstadt schnell einig, dass ein anderer Junge aus einer verfeindeten Familie ihn erstochen haben muss, die Vorbereitungen zu einem Rachefeldzug sind schon im Gange. Davie läuft indes weiter, läuft er davon, läuft er dem geflohenen Täter nach, oder folgt sein Lauf einer ganz eigenen, sich entziehenden Logik?

David Almond, bereits preisgekrönter britischer Kinder-und Jugendbuchautor, macht aus dem Stoff, der auch eine solide Basis für eine klassische Coming-of-age-Geschichte abgeben würde, etwas anderes, Überraschendes, Poetisches, eine Initiationsreise, in der die narrative Kraft des Mythos die wahrhaft treibende und gestaltende zu sein scheint. Auf dieser Reise begegnet Davie nacheinander vielen, oft skurrilen Gestalten aus dem Reich der Lebenden und der Toten, er spürt die Trauer um seinen Vater, spürt den Hunger und vor allem den Durst in der zermürbenden Sommerhitze, er wird zum ersten Mal geküsst und erfährt schließlich die intime Nähe des mutmaßlichen Mörders in einer schmerzhaft realen Inszenierung, die ihm die ganz andere Wahrheit über die Gewaltszene, die die Stadt in Unruhe stürzt, offenbart.

So haben die Begegnungen, die Davies Weg unterbrechen, fast immer etwas Verstörendes, Irritierendes, Groteskes an sich und wühlen dadurch etwas im Unterbewusstsein des Jungen auf, der jedoch jedesmal auch etwas Schönes, Vertrautes in ihnen erahnt, ertastet, so dass sich immer wieder ein zartes zwischenmenschliches Band zu knüpfen beginnt. Denn Davie ist jemand, der alles um sich herum aufmerksam betrachtet, auf Zwischentöne horcht und denen, die auf seinem Weg auftauchen, zugewandt begegnet, ihnen zuhört, wirklich zuhört, vorurteilsfrei, so seltsam ihre Geschichten auch anmuten mögen, der sich dann aber auch wieder loslöst, frei macht, um unabhängig seinen Weg weiterzugehen und in sich selbst hinein zu lauschen. Und dort, in ihm, sind unzählige, auf ihn einstürmende, sich verselbständigende Gedanken, denen er auf ihren verzweigten, kühnen, ausgefallenen Wegen nachspürt, um die Welt und seinen Platz darin besser zu begreifen. Immer wieder neigt Davie dabei dazu, sich in diesen Gedanken zu verlieren, so dass die Grenzen zwischen Außen- und Innenwelt, zwischen Realität und Traum veschwimmen und die Erzählung fast unmerklich ins Surrealistische, Onirische, Mythische gleitet. Doch das wird weder pathologisiert noch verklärt, vielmehr weiten diese Ausflüge ins Traumhafte Davies emotionalen und intellektuellen Erkenntnisraum, ohne sein Ich zu spalten oder zu zerreiben. Der Kinder entführende und vertauschende Bussard, von dem ihm eine Frau, der er begegnet, halb belustigt, halb ernsthaft erzählt, ist für den Jungen keine bedrohliche, sondern eher eine inspirierende mythische Gewalt, er kommt von seinem fantastischen Höhenflug gereift und um viele Bilder reicher, aber doch innerlich als derselbe Davie zurück, als der er aufgebrochen ist, nämlich als einer, der die Welt um sich staunend betrachtet und dem Dasein offen für jedes seiner Wunder entgegenblickt.

Ein witziges und melancholisches, wunderbar poetisches Abenteuer, skurril, berührend und voller kleiner Überraschungen!

Bibliographische Angaben
David Almond: Ein finsterheller Tag, FISCHER Sauerländer (2021)
Übersetzt aus dem Englischen von Alexandra Ernst
ISBN: 9783737356282

Ab 12 Jahren

Bildquelle
David Almond, Ein finsterheller Tag
© FISCHER Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main

bookmark_borderBritta Teckentrup: Der blaue Vogel

Wenn Farben sprechen könnten… dann würden sie so aussehen wie in Britta Teckentrups wundervollem Bilderbuch, das in wenigen Worten und intensiven Bildern eine so zarte und so berührende Geschichte erzählt!

Die Illustration, collagenhaft und mit Farben, die aus sich heraus zu leuchten scheinen, harmoniert wunderbar mit dem Text und taucht ihn zugleich ins Geheimnisvolle, Zauberhafte, Mythische. Erzählt wird auch eine Art Mythos, ein Märchen, in dem es um Trauer, Einsamkeit und ihre Überwindung geht — ist es Zufall, dass das Bilderbuch den Titel von Maurice Maeterlincks Theaterstück L’Oiseau bleu trägt, in dem er in seinem unvergleichlich suggestiv-poetischen Stil ein traumartiges Kindermärchen erzählt, das tief in die Nacht der Erinnerung und eine von Seelen erfüllte Natur führt…?

In Teckentrups Bilderbuch lebt ein kleiner blauer Vogel ganz unten im Schatten des Waldes, antriebslos, ohne Freude, ohne Spiel, ohne Gesang, vergessen von seinen Freunden, die hoch oben am sonnenbeschienenen Himmel, unendlich weit von ihm entfernt, das Dasein genießen. Der Kontrast von Schatten und Licht tritt in den Farbkompositionen eindrücklich hervor und spiegelt die Stimmung, die Gefühle, das Innenleben des Vogels, in dessen Welt die Farben ihre Leuchtkraft verloren haben.

Doch auf einmal taucht ein gelber Vogel auf, der von Licht umspielt wird und sich zunächst ganz oben auf dem Baum niederlässt, in dessen schattigem Geäst sich der traurige blaue Vogel vergraben hat. Außer Farbe, Licht und Gesang bringt der gelbe Vogel aber vor allem eine große Geduld und Sanftmut mit, er nähert sich dem blauen Vogel ganz langsam, ganz behutsam, in kleinen Etappen. Nach und nach halten so auch wieder Licht und Wärme Einzug in die Welt des blauen Vogels, als fasste er allmählich wieder Vertrauen. Gemeinsam mit dem gelben Vogel beginnt er wieder zu singen, Hoffnung breitet sich aus, und zusammen öffnen die beiden ihre Flügel und schwingen sich empor in den von sonnengelbem Licht durchfluteten Himmel.

Vielleicht können Farben nicht sprechen, aber trösten können sie und einen Horizont der Fantasie eröffnen, der die ganz Kleinen genauso wie die schon Großen ergreifen wird.

Altersempfehlung
Ab vier Jahren bis unendlich, schreibt der Verlag, und ich schließe mich an.

Bibliographische Angaben
Britta Teckentrup: Der blaue Vogel, Ars Edition (2020)
ISBN: 9783845837536

Bildquelle
Britta Teckentrup, Der blaue Vogel
© 2020 arsEdition GmbH, München

bookmark_borderEspen Dekko: Sommer ist trotzdem

In sehr zarter, sensibler Sprache entwirft der norwegische Kinderbuchautor, Geschichtenerzähler und Puppenspieler Espen Dekko den komplexen Horizont eines Kindes, dessen Welt durch einen schweren Verlust durcheinander geraten ist, und verfolgt das Auf und Ab der Gefühle, das Reifen der Gedanken ebenso wie die nicht nachlassende Neugier auf das Leben, die sinnstiftende Freude an der Natur und dem Zusammensein mit Menschen, denen man vertraut.

Er zeigt auf meinen Ellenbogen. Er blutet immer noch. Opa holt ein Taschentuch aus der hinteren Tasche seiner Latzhose. Er fragt nicht, was passiert ist. (…) Als er fertig ist, pustet er noch drei Mal auf meinen Ellenbogen. Das macht er immer, wenn ich mich verletzt habe. Jetzt glaube ich, dass es ein bisschen länger dauert, bis alles wieder heil ist.

Espen Dekko: Sommer ist trotzdem

Die Ich-Erzählerin ist ein kleines Mädchen, das seinen Vater durch eine schwere Krankheit verloren hat und den Verlust noch lange nicht bewältigt hat. Den Sommer verbringt sie wie jedes Jahr bei den Großeltern am Meer, doch auch wenn sie mit Oma und Opa im eisigen Meerwasser herumplantscht, die Oma ihr liebevoll Zöpfchen flicht und der Opa sogar mit ihr zum Walebeobachten auf die See hinausfährt, irgendwie ist dieses Mal alles anders. Ein mulmiges Gefühl drängt sich immer wieder auf, auch wenn es gerade noch wunderschön war. Sie entdecken einen kranken Wal, den es an Land geschwemmt hat, und dann gebiert die schwangere Katze Mim auch noch zwei tote Kätzchen. Tod und Verlust lassen sich nicht verdrängen, doch dem kleinen Mädchen gelingt es, zusammen mit seinen liebevollen und zugleich ehrlichen, die Wahrheit offen aussprechenden Großeltern, die Trauer — zunächst über den Umweg der Tierwelt — durch Rituale des Abschieds Stück für Stück anzunehmen und dennoch zugleich Freude, Liebe und Ausgelassenheit ganz bewusst zu erleben. Schließlich kann das Erwachen aus der behüteten Kindheit auch positive Seiten haben, z.B. wenn man zum ersten Mal allein zum Fischen das Ruderboot benutzen darf.

Ich muss über so vieles nachdenken. Und es wird immer mehr. Gedanken, die nicht verschwinden. Gedanken, die sich festkrallen und nicht lockerlassen. Kann man zu viele Gedanken im Kopf haben?

Espen Dekko: Sommer ist trotzdem

Der Roman ist nachdenklich, aber gleichzeitig auch in doppeltem Sinne aufregend geschrieben — ein Sturm auf dem Meer bildet den spannenden Höhepunkt der Geschichte.

Ein durch und durch lebensbejahender Trauer-, Familien- und Abenteuerroman!

Ab 9 Jahren

Altersempfehlung
Ab 9 Jahren

Bibliographische Angaben
Espen Dekko: Sommer ist trotzdem, Thienemann (2020)
Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe
ISBN: 9783522185318

Bildquelle
Espen Dekko, Sommer ist trotzdem
© 2020 Thienemann-Esslinger Verlag

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