bookmark_borderLeon de Winter: Stadt der Hunde

Jaap Hollander, jüdischer Arzt aus den Niederlanden, (ehemaliger) Frauenheld und Meister seines Fachs, der Neurochirurgie, reist alljährlich auf den Spuren seiner Tochter nach Israel, die dort vor inzwischen zehn Jahren verschwunden ist. Seine Frau, die längst seine Exfrau ist, fährt nicht mehr mit, er reist alleine, ein Einzelkämpfer, treu oder verblendet, der hartnäckig an das Überleben seiner Tochter glauben will. Bei seinem diesjährigen Aufenthalt bietet sich ihm eine einmalige und zugleich wahnsinnige Gelegenheit, im Gegenzug für seine chirurgischen Künste eine unglaubliche Summe Geld zu erhalten — mit der er die besten Geologen engagieren könnte, die Schichten der Höhle zu erforschen, in der seine Tochter zusammen mit ihrem Freund verschwunden ist.

Leon de Winter entwirft einen wendungsreichen, spannenden Plot, ein kurzweiliges Spiel mit verschiedenen Bewusstseinsebenen, in denen die Hauptfigur zeitweise sogar mit einem streunenden Hund kommunizieren kann und im Reich der Toten wandelt, doch hinter der Oberfläche guter Unterhaltung verbergen sich tiefere Schichten. Die Geschichte zeichnet im Grunde einen komplexeren psychologischen Verarbeitungsprozess nach. Jaap Hollander kämpft nicht nur mit dem Älterwerden und einer zunehmenden kognitiven Schwäche, was die Erinnerung an fremde Gesichter betrifft — die er sich im Rückgriff auf sein noch immer reiches Gedächtnisarchiv an Filmsequenzen über Vergleiche mit Filmschauspielern einzuprägen versucht. Ihn plagen auch Gewissensbisse verschiedener Art; angesichts der einschneidenden, auch bedrohlichen, sich überstürzenden Ereignisse drängt sich ihm eine reflektierende Rückschau auf sein bisheriges Leben auf. Von zentraler Bedeutung ist darin die Verarbeitung des Verschwindens der Tochter, es geht um Verlust und Trauer, um das langsame und schmerzhafte Sich-Eingestehen von etwas, was er lange Zeit nicht wahrhaben wollte. Und schließlich geht es auch immer wieder um das Jüdischsein, dem Jaap gleichgültig bis ablehnend gegenüberstand, während seine Tochter es im jungen Erwachsenenalter auf einmal zu praktizieren begann. Sie bemühte sich, als Vaterjüdin anerkannt zu werden, und war deshalb auch zu ihrer fatalen Reise nach Israel aufgebrochen.

Das Israel, in dem sich Jaap Hollander bewegt, ist das Israel kurz vor dem siebten Oktober, ein Israel mit realistischen und halluzinatorischen Elementen, sogar der israelische Premierminister und ein saudiarabischer Herrscher tauchen auf. Es ist auch ein Israel mit vielen Widersprüchen, die sich im Gegensatz der Landschaften abbilden. In der Wüste, wo die Tochter verschwunden ist, begegnet er auch zum ersten Mal dem Hund, der ihn noch lange verfolgen wird, im modernen Großstadtleben in Tel Aviv löst sich die Privatheit in Öffentlichkeit auf, man kann flanieren oder aber in der protestierenden Menge auf- oder untergehen.

Was auf den ersten Blick wie eine ganz persönliche Geschichte mit Krimi-Elementen erscheint, wie ein privater Prozess von Trauer und Verarbeitung, öffnet sich immer wieder ins Politische. Und wirft einen ebenso kritischen und selbstironischen wie einfühlsamen Blick auf seine Hauptfigur, die in ihrer verzweifelten Männlichkeit letztlich sehr menschlich wirkt.

Bibliographische Angaben
Leon de Winter: Stadt der Hunde, Diogenes 2025
Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
ISBN: 9783257072815

Bildquelle
Leon de Winter, Stadt der Hunde
© 2025 Diogenes Verlag AG, Zürich

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