Kaum eine internationale politische Situation scheint so verfahren wie die Lage von Israel und Palästina. Und jetzt fuhrwerkt auch noch der amerikanische Präsident in der ohnehin schon fragilen Konstellation herum und stiftet die israelische Regierung geradezu an, die vom Rest der Welt seit Jahrzehnten mühsam verfolgte Möglichkeit einer Zweistaatenlösung beiseite zu fegen und in Form offensiver Siedlungspolitik einen weiteren gewaltsamen Schritt in Richtung eines vergrößerten israelischen Staates zu gehen.
Omri Boehm, israelischer Jude, deutscher Staatsangehöriger und in den USA lehrender Philosoph, der über Kant promovierte, sieht in diesem scheinbar radikalen Bruch mit der bisher verfolgten Strategie zur israelisch-palästinensischen Konfliktlösung nicht nur die sich zuspitzende Gefahr der Eskalation, sondern im Gegenteil auch eine Chance des Denkens, das sich mit der längst nurmehr pro forma, aber als alternativlos proklamierten Zweistaatenlösung in seinen Augen in einer Sackgasse verirrt hatte, die längst keine realistische Option mehr versprach.
Für die Sache brennend und scharf analysierend, zugleich differenziert und ohne Überheblichkeit, entwirft Boehm auf der philosophischen Grundlage eines universalistischen und humanistischen Denkens seine kühnen Gedanken zu einem möglichen Ausweg aus dem Konflikt, zu einer Utopie, die aber seiner Ansicht nach ein deutlich realistischeres Potential hat als die gegenwärtige Politik, und die zudem nicht aus dem Nichts kommt, sondern an politische Ansätze des frühen Zionismus anknüpft, die heute in Vergessenheit geraten sind.
Sein schmales Buch ist eine radikale Analyse des israelischen Selbstverständnisses, das Boehm wahrlich auf Herz und Nieren prüft und das bei vielen Empörung auslösen dürfte, hinterfragt er doch sehr deutlich scheinbar fundamentale Selbstverständlichkeiten des sich in erster Linie als jüdisch verstehenden israelischen Staates. Schon im Vorwort warnt der Autor — und richtet sich dabei explizit auch an seine deutschen Leser — vor den Fallstricken, in denen man sich verfängt, wenn man Israels Politik aufgrund der Vergangenheit des Holocaust mit anderem Maße misst und seiner Meinung nach durchaus berechtigte Kritik vermeidet:
Er [Kant] und andere Aufklärer neigten dazu, couragiert für einen aufklärerischen Universalismus einzutreten, dann aber die Juden als ein diesem Universalismus fremdes Element und damit als das „Andere“ der Aufklärung zu denken. Das ist die Falle, von der ich spreche, und man sollte nicht ein zweites Mal hineintappen, indem man eine allgemeingültige Ethik formuliert, und dann die Juden als Ausnahme behandelt.
Omri Boehm, Israel — eine Utopie
Boehm plädiert für eine Rückkehr zu Kant — und macht das auch zum Ausgangspunkt seiner überzeugenden Argumentation; nicht zu Kant als Privatperson, der nicht frei war von antisemitischen Vorstellungen, sondern zu Kants Philosophie. Diese Rückkehr zur Vernunft steht im Übrigen nicht im Gegensatz zur religiösen Tradition, ist vielmehr auch eine Rückkehr zur hinterfragenden Kritik der frühen jüdischen Rabbiner, wie er betont. Mit Foucault spricht er hier auch von „parrhesia“, dem Mut zur Wahrheit, so dass sich der Kreis zum Aufklärer Kant wieder schließt.
Seine Forderungen erscheinen dennoch auf den ersten Blick fast skandalös: Anstelle der vom israelischen Staat praktizierten jüdischen Erinnerungspolitik verlangt er eine Politik des Vergessens — aber eben als Bedingung der Möglichkeit eines neuen, gemeinsamen Erinnerns aller in Israel lebenden Menschen, von Juden, Christen und Arabern. Denn das auf einem, wie er schreibt, sakralisierten Holocaust basierende ethnisch-jüdische Souveränitätsverständnis stehe einem Staat, in dem Juden und Palästinenser als israelische Staatsbürger friedlich zusammenleben könnten, im Weg. Und sei außerdem auch weder liberal noch demokratisch, führe vielmehr zu einem Ausschlussdenken, das die ohnehin explosive Lage in der Region weiter befeuert. Der Gewaltspirale zwischen Arabern und Juden, den Racheaktionen und Ressentiments ist schwer zu entkommen, aber mit einer gespaltenen Identitätspolitik, in der jeder nur seine eigene Erinnerung zulässt, geradezu unmöglich. Deshalb, so sein Plädoyer, sollte man die Erinnerung an den Holocaust entnationalisieren, und gemeinsam mit den Palästinensern auch der so genannten Nakba gedenken, der gewaltsamen Zwangsumsiedlung und Vertreibung unzähliger Araber im Zuge der Staatsgründung 1948.
Die Nakba ist für Boehm auch ein wesentliches Argument gegen eine Zweistaatenlösung, lässt sich doch kaum verhandeln, wo überhaupt die Grenze zwischen den zwei Staaten verlaufen sollte, wenn schon das Israel in den Grenzen von 1948 teilweise auf zerstörten arabischen Siedlungen errichtet ist. Boehm denkt daher lieber verschiedene binationale Ansätze weiter, die bei den frühen Zionisten durchaus zu finden waren. So beruft er sich mit der seiner Ansicht nach dringend notwendigen Unterscheidung zwischen Souveränität und Selbstbestimmung nicht nur auf die kritische Philosophin Hannah Arendt, sondern auch auf Politiker, die als einwandfreie Zionisten gelten, und arbeitet heraus, dass das israelische Selbstverständnis ein historisch gewachsenes ist, dass es sich gewandelt hat und daher auch weiter wandeln kann und muss.
Sie [die Gründerväter des Zionismus] glaubten, dass die Juden das Recht auf politische Selbstbestimmung, die autonome Verwaltung ihres eigenen Lebens und die Wiederbelebung der jüdischen Kultur und Bildung hatten. Sie glaubten aber nicht, dass dies in einem souveränen jüdischen Staat erfolgen solle.
Omri Boehm, Israel — eine Utopie
So kommt einem seine Forderung gar nicht mehr so radikal, seine Utopie gar nicht mehr ganz so utopisch vor, wenn er die israelische Staatsbürgerschaft für Araber, Christen und Juden verlangt, einen gemeinsamen israelischen Staat mit autonomen Regionen, für ihn eine absolut denkbare „Alternative zur Zweistaatenpolitik aus liberalzionistischer Perspektive“:
Als wahre israelische Patrioten müssen wir heute die bekannten zionistischen Tabus auf den Prüfstand stellen und den Mut haben, uns einen Umbau des Landes vorzustellen: vom jüdischen Staat in eine föderale, binationale Republik.
Omri Boehm, Israel — eine Utopie
Die Erde dreht sich immer weiter. Und es wird — neben denen, die sich in scheinbar unumkehrbaren Denkrichtungen verloren haben oder ihren Opportunismus auf Kosten der Gesellschaft durchdrücken — auch immer Menschen geben, die es wagen, auf humane Weise ihren Verstand zu gebrauchen. So manche Idee, die einem heute kühn und fast aussichtslos erscheint, ist ein paar Jahre später völlig selbstverständlich, man denke nur — auch wenn das ein ganz anderes Beispiel ist — an den Atomausstieg in Deutschland. Es wäre Omri Boehms Utopie von Herzen zu wünschen, dass sie sich in nicht allzu langer Zeit in einen politisch und gesellschaftlich verhandelbaren Weg aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt verwandelt, in einen Ausweg aus der Spirale von Feindschaft und Gewalt, so dass ein friedliches Zusammenleben für alle Menschen in dieser Region einer künftigen Generation zum gemeinsam erinnerten Selbstverständnis und zur Selbstverständlichkeit werden kann… Eine Utopie vielleicht, aber eine, die schon jetzt und heute zum Umdenken inspiriert, dazu, ein neues Denken zu wagen, wenn das bisherige an seine Grenzen gestoßen ist!
Bibliographische Angaben
Omri Boehm: Israel — eine Utopie, Propyläen 2020
Aus dem Englischen übersetzt von Michael Adrian
ISBN: 9783549100073
Bildquelle
Omri Boehm, Israel — eine Utopie
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