bookmark_borderTeju Cole: Tremor

Tunde, den man großteils als fühlenden und denkenden Protagonisten des neuen Buches von Teju Cole ausmachen kann, ist wie dieser in Lagos geboren, er ist Fotograf und unterrichtet an einer amerikanischen Universität, doch verschwindet sein Autor, so wie das Buch trotz aller biographischen Einflüsse keine Biographie ist, auch sprachlich-stilistisch hinter dieser literarischen Stimme, die ihrerseits hinter anderen Stimmen verschwindet, sich auflöst in ein vielstimmiges Textgewebe.

Wie sein Autor ist Tunde ein Intellektueller, in der doppelten Bedeutung des lateinischen Herkunftsverbs, „wahrnehmen“, „empfinden“ genauso wie „begreifen“, „verstehen“. Und vielleicht mehr noch in der ersten, sinnesnahen Bedeutung… einer, der verstehen will, und dieses Verstehen über den (Um)Weg der intensiven Wahrnehmung sucht, eine Wahrnehmung, die in diesem eher kurzen Text allerhand damit zu tun hat, mit den vielen Reizen und Impressionen, und den Gefühlen und Gedanken, die diese auslösen, klarzukommen. Das Buch bietet also viel Gedankenstoff, historische, gesellschaftliche, ethische Themen und Diskurse, die im Blick des Fotografen, zahlreichen irrlichternden optischen Reizen gleich, versinnlicht werden. Es geht um Kolonialismus, um Rassismus, um „afrikanische“ und „westliche“ Kunst und Musik, aber auch um Sozialkritik, um Tradition und Religion in Nigeria, um Krankheit, Liebe, Freundschaft, also eigentlich um das ganze Leben aus dem Blickwinkel eines Mannes, der in seiner Jugend aus Nigeria ausgewandert ist und im akademisch-künstlerischen Milieu der amerikanischen Großstädte heimisch, na ja, eben nur zum Teil heimisch geworden ist. Der Protagonist lotet Grauzonen aus, wirft Fragen auf und sucht, wieder und wieder, von Thema zu Thema, nach einer — zugleich individuell mit ihm übereinstimmenden und universell gültigen — Haltung, ein anspruchsvolles Unterfangen, das in der thematischen Sprunghaftigkeit des Textes zumindest auf Figurenebene zum Scheitern verurteilt ist.

Augenöffnend ist diese Sprunghaftigkeit aber allemal, der fotografische Blick ist sezierend und fängt auch kleinste Nuancen ein. Teju Cole arbeitet in diesem sehr visuellen, sehr oberflächenstarken Text, für den wirklich mal das inflationär gebrauchte Adjektiv „schillernd“ gut passen würde, mit der Technik der Collage, und zwar sowohl in Bezug auf die Form als auch auf die Perspektive. Mal taucht man über einen personalen Erzähler in Tundes Perspektive ein, mal wird ein Du angeredet, und vor allem gegen Ende des Textes, ab seinem Vortrag über Kolonialismus und Kunst, geht die Erzählung in die Ich-Perspektive über. Ein bisschen, als wäre der Autor nun vertrauter mit seiner Figur, als würde er sich noch mehr in ihr Innerstes trauen; jedoch findet der Text dann ziemlich bald ein ziemlich abruptes Ende. Dazwischen aber, im Mittelteil des Buchs werden die Reflexionen für einen Moment unterbrochen und Tundes Stimme von einer aus seiner Geburtsstadt Lagos herausklingenden Polyphonie ihrer männlichen und weiblichen, jungen und alten, aus allen Schichten stammenden Bewohner abgelöst. Hier findet ein Stück Realismus Eingang in den ansonsten sehr reflexiven Text. Motiviert ist diese Vielstimmigkeit durch einen Besuch von Tunde in Lagos, und in dieser Stadt, in der er einst zuhause war und die ihm nun fremd und vertraut zugleich vorkommt, legt er seine Kamera für eine Weile auf die Seite und hört den Menschen zu, die sich dem nur vorübergehend Verweilenden in großer Offenheit mitteilen. Sie erzählen ihm, was sie bewegt, und es entstehen Geschichten von Armut und Reichtum, von Macht und Ohnmacht, von Religion, Kult und Kultur, von Familie und Tradition. Die Sinnlichkeit der Stadt und ihrer Bewohner wird hier so greifbar, dass sie eine spannende Reibungsfläche für die Intellektualität des Besuchers und des Autors bietet, und die Stärken und Schwächen des Buches gleichermaßen offenlegt. Das erzählerische Eintauchen in das Leben der Bewohner hätte man sich auch für Tunde noch mehr gewünscht, der als Hauptfigur eines fiktional angelegten Textes etwas blass bleibt. Und dies, obwohl die Ebene des Privaten als untrennbar zum Politischen, zum Gesellschaftlichen durchaus mit dem Anspruch der Gleichrangigkeit eingeführt wird: Die kriselnde Beziehung zu seiner Frau, der Austausch mit seinen Kollegen, die Beziehung zu seinen in Lagos verbliebenen Geschwistern, die Nachricht der schweren Erkrankung einer nahestehenden Kollegin — in diesen ganzen zwischenmenschlichen Bereich hätte der Autor gerne noch tiefer eintauchen können, auch um die vielen aufgeworfenen Fragen und Themen ethischer und politischer Natur nicht nur zu streifen und fraglos sehr facettenreich von außen zu beleuchten, sondern sie darüber hinaus literarisch zu vertiefen.

Tremor ist ein fließender Dialog des Autors mit seiner Figur und der Welt, der einen stark fragmentarischen Charakter aufweist, der Autor fingiert für seine Figur Streifzüge, die sie mit weit geöffneten Augen und Sinnen unternimmt, die zugleich aber daran leidet, all die Eindrücke zu ordnen und zu verarbeiten. Das (medizinische) Phänomen des Tremors kommt nicht direkt vor, doch Tundes optische Überreizung, das migräneartige Flimmern vor seinen Augen hat etwas von einem Zittern und Beben, das die nach Orientierung suchende Figur über den medizinischen Befund hinaus charakterisiert. So ist das Buch letztlich der Versuch, Optisches in Sprache zu überführen, und zumindest mit der paradoxen Integration des vielstimmigen Mittelteils deutet sich diese dann doch als sehr literarisch zu bezeichnende Vorgehensweise im Text selbst an. Denn zwar kehrt der Fotograf Tunde aus Scheu vor der Form des Porträts ohne ein einziges Foto mit einem menschlichen Motiv aus Lagos zurück, doch bringt er in Form all der Stimmen, denen er gelauscht hat, sehr wohl menschliche Porträts mit nachhause, die in Coles Buch in die Schriftlichkeit der Literatur überführt werden.

Bibliographische Angaben
Teju Cole: Tremor, Claassen 2024
Aus dem Englischen von Anna Jäger
ISBN: 9783546100656

Bildquelle
Teju Cole, Tremor
© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderCatherine Cusset: Janes Roman

Ein eigenwilliges Stück Literatur hat die Autorin da verfasst: auf den ersten Blick einen im amerikanischen Universitätsmilieu situierten Beziehungsroman, die Geschichte einer etwas speziellen jungen Frau und Akademikerin, die kein Glück mit den Männern zu haben scheint, ebensowenig wie in ihrer universitären Laufbahn, die am seidenen Faden einer Veröffentlichung über den französischen Schriftsteller Flaubert hängt, gegen die sich die Verlage des Landes verschworen haben. Doch das ist nur die blendende Oberfläche des Textes, in der sich immer wieder kleine Risse zeigen, um daran zu erinnern, dass das Leben einer Frau, die beruflich und erotisch gleichermaßen nach Erfüllung sucht, nicht so schwarzweiß gestrickt ist, wie es den Anschein hat — genauso wenig wie der Roman, der diesem Leben auf der Spur ist. In Cussets Text fließen viele Diskurse und Traditionslinien spielerisch ineinander, es geht um französische Literatur und amerikanische Universitätsstrukturen, um Schreiben und Geschlecht, um (fiktions)ironische Spiegelungen, um die Konstruktion und Dekonstruktion von Identitäten. Hier steht die französische Autorin, die selbst lange Jahre als Literaturdozentin in den USA gelebt und gelehrt hat, in der — über den Atlantik gespiegelten — Tradition von Paul Auster, dem Frankreich verehrenden amerikanischen Schriftsteller, der in seinen Romanen immer wieder auf gut lesbare Weise mit der Metaebene der Literatur experimentierte. Bemerkenswert ist außerdem, dass Catherine Cusset diesen Roman, der sich heute als eine vielschichtige Auseinandersetzung mit „MeToo“ lesen lässt, bereits 1999, viele Jahre bevor die überfällige Debatte von Amerika aus die Weltöffentlichkeit beschäftigte, geschrieben wurde.

Die Fiktionsironie bezieht sich schon gleich auf den Titel. Janes Roman heißt nämlich auch ein Roman in Cussets Roman, der somit aus einer äußeren und einer inneren Handlungsebene konstruiert ist; es ist der Titel eines Manuskripts, das der Protagonistin und Ich-Erzählerin Jane anonym zugestellt wird und in dem, ebenfalls in der Ich-Perspektive einer nun doppelt fiktionalisierten Jane, ihr Beziehungs- und Universitätsleben haarklein und unter Preisgabe intimster Details nacherzählt wird. In beiden Textebenen geht es um Literatur und Liebe, um intellektuelle und sexuelle Anziehung, um Illusionen und Hoffnungen, um Enttäuschung und Sehnsucht, um Frauen- und Männerbilder. Die Jane der äußeren Handlung verdächtigt nacheinander verschiedene Personen aus ihrem Umfeld, das Manuskript verfasst zu haben, und man rätselt mit ihr während einer Lektüre, in der man sich mehr und mehr in einen Krimi oder Thriller versetzt fühlt, zumal ein Überfall und gleichfalls anonyme anzügliche Botschaften an Jane die Atmosphäre zunehmend bedrohlich erscheinen lassen.

Dass man es nicht mit einem kitschigen Beziehungsroman zu tun hat, merkt man sehr schnell auch daran, dass eigentlich alle Figuren unsympathisch sind, oder zumindest unangenehme Seiten haben, Jane selbst nicht ausgenommen. Das liegt natürlich auch daran, dass das Manuskript, das Janes Leben re- oder auch dekonstruiert, durchaus etwas Manipulatives hat; die Jane der Rahmenhandlung glaubt mehr und mehr an einen im Schreiben ausgetragenen Akt der Rache. Auf diese Weise gestaltet sich die Geschichte, in der es viel um Begehren und Eifersucht geht, aber auch ambivalenter und spannender; man blickt umso kritischer auf das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, auf zu wenig hinterfragte Machtstrukturen und Ausbeutungsmechanismen, gleichermaßen erotischer wie beruflicher Art. Doch Jane ist weder selbst schuld an ihren vermeintlichen Niederlagen, wie es im Manuskript teilweise suggeriert wird, noch ist sie ein passives Opfer, auch wenn sie männlicher Übergriffigkeit ausgesetzt ist und ihre literaturwissenschaftlichen Thesen plagiiert werden. Man verfolgt auch den immerwährenden inneren Kampf der Protagonistin, sich gerade nicht zur Gefangenen ihrer Angst, ihrer Scham oder traditioneller und neuer Rollenvorstellungen machen zu lassen. Es geht um die Frage, wie ein weibliches Selbstbewusstsein aussehen kann, das weder Gefühle noch Ambitionen verleugnen muss, und inwiefern ein Beharren auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit auch mit einer aktivistischeren Interpretation von Engagement und Solidarität kollidieren kann. Die Debatte um Geschlechterrollen und -identitäten wird in Cussets diskursreichem Text zudem ausgedehnt von der sozialen auf eine literarisch-philosophische Problematik, unter anderem dadurch, dass die Protagonistin, die sich als Romanistin intensiv mit Flaubert auseinandersetzt, sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit der von ihr postulierten verdrängten weiblichen Seite des berühmten französischen Schriftstellers auseinandersetzt.

Im Roman gibt es eine augenzwinkernde Stelle, in der sich zwei Figuren darüber unterhalten, ob Universitätsromane einfach nur schrecklich langweilig sind. Catherine Cusset beweist mit ihrer Geschichte auf jeden Fall das Gegenteil.

Bibliographische Angaben
Catherine Cusset: Janes Roman, Eisele 2024
Aus dem Französischen von Annette Meyer-Prien
ISBN: 9783961611904

Bildquelle
Catherine Cusset, Janes Roman
© 2024 Julia Eisele Verlags GmbH, München

bookmark_borderAyelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert

Die größte Unbekannte in unserem Leben sind unsere Kinder“, so eine Romanfigur in Ayelet Gundar-Goshens aufwühlendem vierten Roman „Wo der Wolf lauert“. Elternschaft ist, wenn auch nicht das einzige, so doch das in meinen Augen zentrale Thema dieses vielschichtigen Textes, der Familien- und Gesellschaftsroman ist und stark mit Spannungselementen arbeitet. Die israelische Autorin, die auch als Psychologin tätig ist, erforscht hier auf literarische Weise das Thema der zwischenmenschlichen Beziehungen in vielen Variationen.

Erzählt wird die Geschichte durchgehend aus der Perspektive der israelischen Jüdin Lilach Schuster, Mutter des Teenagers Adam und Ehefrau von Michael, mit dem sie als junge Frau aus Israel in die USA ausgewandert ist. Man erhält einen intimen Einblick in ihr Leben als Familie sowie in Lilachs Hoffnungen, Ängste, Sorgen und Wertvorstellungen — als Frau, als Mutter, als Ausgewanderte. So erfährt man, dass sie damals mit ihrem Mann die gemeinsame Heimat verließ, weil dieser ein überzeugendes Jobangebot in Amerika bekommen hatte; Lilach hingegen gab ihren eigenen Beruf auf und arbeitet nun mehr oder weniger ehrenamtlich als Kulturbeauftragte in einem Altenheim – das Thema der sozialen Rollen scheint im ganzen Roman immer wieder durch. Mit dem Ortswechsel war für sie aber auch die Hoffnung auf ein friedlicheres Leben verbunden, darauf, das eigene Kind fern der gewaltsamen Konflikte im Nahen Osten aufwachsen zu sehen. Umso größer ist der Schock, als — und hier setzt die Romanhandlung ein — ihr scheinbar so beschauliches und weltoffenes Palo Alto im Silicon Valley von einem Anschlag auf eine Synagoge erschüttert wird. Und der Täter ist ausgerechnet ein Schwarzer. Kurz darauf stirbt ein schwarzer Junge auf einer Party, auf der auch Lilachs Sohn Adam zugegen war. Als wenn das nicht ohnehin schon das Leben der jüdischen Familie in Aufruhr versetzen würde, drängt sich der Ich-Erzählerin mehr und mehr ein schrecklicher Verdacht auf: Hat ihr Junge, ihr geliebtes Kind, ihr Sohn, der heftige Prügel von tierquälenden Altersgenossen eingesteckt hat, um einem kleinen unansehlichen Straßenhund das Leben zu retten, etwas mit dem Tod seines schwarzen Mitschülers zu tun?

Der Roman ist ein hörbares Echo auf Antisemitismus und Black Live Matters, doch er enthält sich jeder vereinfachenden Eindeutigkeit, dringt vielmehr tief und mit psychologischem Feinsinn in die widersprüchlichen und nicht weniger gewaltsamen Grauzonen der in unserer Zeit fortwährend schwelenden gesellschaftlichen Konflikte ein. Wer ist Opfer, wer ist Täter — ohne etwas zu verharmlosen, zeigt die Autorin mit ihrer Geschichte, dass beide Begriffe fließend und ungenau sind, ohne klare Linien. Dass das nicht leicht zu akzeptieren ist, wird an ihren Romanfiguren deutlich; Adams Vater Michael, der wie seine Frau durchaus sympathisch gezeichnet ist, sein Vatersein auf seine Weise ebenso ernst nimmt wie Lilach ihr Muttersein, vertritt die Meinung, jeder sei entweder Täter oder Opfer und bleibe dies ein Leben lang, weshalb er seinen Sohn, der im Kindergarten von anderen Kindern malträtiert wird, dazu erziehen will, sich zu behaupten und lieber selbst zu schlagen als sich schlagen zu lassen. Diese Weltsicht ist ihrerseits das Ergebnis von Michaels eigener Biographie, seiner Herkunft und sicher auch der Prägung durch das kollektive Trauma seiner jüdischen Vergangenheit. Doch Adam lässt sich nicht so einfach verbiegen, er ist ein zurückgezogener Junge, der lieber Schach spielt und in seinem eigenem Chemielabor experimentiert als Sport zu machen oder Partys zu feiern, und der auch in der High School gemobbt wird. Bis der Anschlag auf die Synagoge passiert, bis er auf Drängen seines Vaters an einem Selbstverteidigungskurs teilnimmt, der von dem fast rattenfängerhaft charismatischen Israeli Uri geleitet wird, und bis kurz darauf sein schwarzer Mitschüler stirbt…

Die Erzählperspektive der Mutter Lilach ist sehr überzeugend gestaltet. Sie ist diejenige, die nach der Wahrheit sucht, die, auch wenn es weh tut, Fragen stellt, Indizien nachgeht und auf ihr Bauchgefühl hört, die Gedanken und Spuren zu folgen wagt, denen man als Mutter eigentlich nicht folgen möchte. Vor allem versucht sie, in all den aufwühlenden Ereignissen ein Mensch zu bleiben, mitfühlend und im Wissen darum, dass auch sie nicht frei von Irrtümern ist. Auch die anderen Charaktere sind lebendig und plastisch dargestellt, wobei das Interesse der Autorin vor allem auf dem sozialem Gefüge liegt, das sie gekonnt aus den individuellen Geschichten der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander aufscheinen lässt.

Gruppenzugehörigkeiten sind im Amerika von heute, in dem der Roman spielt, als gesellschaftliche Diskurse natürlich omnipräsent und prägen auch das Selbstverständnis und das zwischenmenschliche Verhalten der Figuren, werden zugleich aber in ihrer Neigung zur Reduktion und zur Pauschalisierung hinterfragt. Auch der damit eng zusammenhängende Täter-/Opferdiskurs wird auf vielschichtige Weise und, genauso wie das Thema der Elternschaft, in verschiedenen Konstellationen aufgegriffen und durchgespielt. So sind die beiden Opfergruppen, „die Juden“ und „die Schwarzen“ in den beiden kurz aufeinander folgenden Gewalthandlungen nacheinander und wechselweise „Opfer“ und „Täter“. Die Anführungszeichen verraten es — auch diese Zusammenfassung wäre zu kurz gegriffen.

Der Roman, der in der Hörbuchfassung von Milena Karas (synchron)filmreif gesprochen wird, löst vieles bei seinem Leser aus, Mitgefühl, Empörung, Bestürzung, Erkenntnis, aber auf keinen Fall die Anmaßung eines endgültigen oder einziggültigen Urteils. Ein fesselndes Porträt unserer gegenwärtigen Gesellschaft und eine einfühlsame und intelligente Analyse der komplexen Zusammenhänge von Biographien, Diskursen und eigenem Handeln.

Bibliographische Angaben
Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert, Kein & Aber 2021
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
ISBN: 9783036958491 [Taschenbuch: Kein & Aber 2022, ISBN: 9783036961477]

Hörbuch: Argon Verlag AVE GmbH 2021
Gesprochen von Milena Karas
ISBN: 9783839819364

Bildquelle

Ayelet Gundar-Goshen, Wo der Wolf lauert
© 2022 Kein & Aber AG, Zürich, Berlin

bookmark_borderJames Baldwin: Giovannis Zimmer

Die Bücher von James Baldwin (1924-1987) sind inzwischen Klassiker und sie sind Texte von großer literarischer Qualität, in denen sich die Stimme eines Autors erhebt, der sich in zweierlei Hinsicht einer Minderheit zuordnen lässt. In diesem Sinne könnte man Giovannis Zimmer als Roman eines schwarzen Autors über Homosexualität bezeichnen, aber gegen diese doch auch wieder vereinnahmenden Zuschreibungen hätte Baldwin, der sich durchaus in der Bürgerrechtsbewegung engagierte, sich jedoch als Mensch und als Schriftsteller keinesfalls zur Symbolfigur reduzieren lassen wollte, sich wohl mit Sicherheit gewehrt. Umso schöner ist es, dass seine Literatur, die Vorurteile aufdeckt und immer den Menschen sieht, nicht die Gruppe, in neuen deutschen Übersetzungen gerade jetzt wiederentdeckt wird, zu einem Zeitpunkt, wo eine teils überfällige und dringend notwendige, teils aber auch sich ins Gegenteil verkehrende, ihre eigentlichen Ziele ad absurdum führende Debatte um kulturelle Aneignung im Bereich von Kunst und Literatur geführt wird.

Giovannis Zimmer ist Baldwins zweiter Roman nach Go tell it on the mountain, in dem er von Glaube, Bigotterie und sexueller Unsicherheit in einem afroamerikanischem Milieu erzählte. Trotz expliziter Wünsche seines amerikanischen Verlags weigerte er sich aber, erneut einen Roman mit afroamerikanischen Protagonisten vorzulegen, da er sich nicht auf ein bestimmtes Herkunftsmilieu — „Identität“ würden wir heute sagen — festlegen und dadurch eben auch begrenzen lassen wollte. In Giovannis Zimmer sind daher nun eben alle wichtigen Figuren Weiße, weiße Amerikaner und weiße Franzosen. Das hat in den 1950er Jahren, als der Roman erschien, durchaus für Furore gesorgt, so manch einer empfand diese „kulturelle Aneignung“ als Skandal und Tabubruch…

Die Handlung entwickelte Baldwin, der selbst einige Zeit in Frankreich verbrachte, aus einem autobiographischen fait divers, den er jedoch zu einem psychologisch vielschichtigen Roman ausgebaut hat, zu einer auch stilistisch beeindruckenden Erzählung: Mit den ersten Sätzen wird man schon von ihr gefangen genommen, und das Poetische, Nachdenkliche, Empathische des Textes, der zugleich nie vor schonungsloser (Selbst-) Kritik seiner Figuren zurückscheut, begleitet einen bis zur letzten Seite. Manchmal ist die Lektüre geradezu schmerzhaft, aber immer auch intensiv, schön und flüssig lesbar und der Stil auf unprätentiöse Weise komplex in seinen psychologischen Beobachtungen und metaphorisch-literarischen Verdichtungen.

Ich weiß gar nicht, wie ich das Zimmer beschreiben soll. In gewisser Weise wurde daraus jedes Zimmer, in dem ich je war, und jedes Zimmer, in dem ich fortan sein werde, wird mich an Giovannis Zimmer erinnern. Wirklich lange habe ich dort nicht gewohnt — wir lernten uns vor Frühlingsbeginn kennen, und im Sommer zog ich aus –, aber noch immer ist mir, als hätte ich dort ein Leben verbracht. Das Leben in diesem Zimmer schien sich, wie gesagt, unter Wasser abzuspielen, und fest steht, dass dort alles umgewälzt wurde.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive eines jungen Amerikaners namens David in Form einer Rückschau, die an eine Beichte erinnert. David quält das Gewissen, er empfindet Mitschuld am unmittelbar bevorstehenden und durch nichts mehr aufzuhaltenden Tod eines Menschen, den er liebte und doch fallen ließ. Indem er in Rückblenden sein Leben und die Begegnung mit Giovanni Revue passieren lässt, unternimmt er auch eine Selbstbefragung, die immer wieder in Selbstverachtung umschlägt, welche sich wiederum mehr und mehr als Movens seines schließlich verhängnisvollen Verhaltens entlarvt.

So erfährt man in eindringlichen Szenen vom romantischen Beginn und erst prosaischen, dann tragischen Ende der Liebesgeschichte zwischen ihm und dem Barista Giovanni in Paris, aber auch von viel weiter in seine Kindheit und Jugend zurückreichenden Episoden: vom frühen Tod der Mutter, vom instabilen Verhältnis zu seinem Vater, von den ihn überfordernden sexuellen Gefühlen zu seinem Schulfreund, seiner Flucht und seinem Verrat an ihm, von seinen jugendlichen Alkoholexzessen und schließlich von seiner Verlobung mit der Amerikanerin Hella und seiner weiteren Flucht nach Paris, wo er in Hellas Abwesenheit in Schwulenbars verkehrt, ohne sich jedoch in der Öffentlichkeit oder auch nur sich selbst gegenüber zu seiner Sexualität zu bekennen.

James Baldwin zeichnet natürlich auch ein subtiles Gesellschaftsporträt und übt indirekt Kritik an homophoben Machtstrukturen und Vorurteilen gegenüber Außenseitern der Gesellschaft, die Sündenböcke braucht, um sich ihrer selbst zu versichern. So fällt, als der schmierige Barbesitzer Guillaume umgebracht wird, der Verdacht sofort auf den homosexuellen Giovanni, der zudem auch noch Ausländer ist. Wie sich die Geschichte wirklich abgespielt, welche Situation der Ausbeutung zu der Tat geführt hat, will die Öffentlichkeit hingegen gar nicht so genau wissen.

Es war ein entsetzlicher Skandal. (…) Ein solcher Skandal droht immer, noch bevor das Echo verhallt, einen Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Man braucht eine Erklärung, eine Lösung und so schnell wie möglich ein Opfer. Die meisten in Verbindung mit diesem Verbrechen aufgegriffenen Männer wurden nicht wegen Mordverdachts aufgegriffen. Sondern weil sie im Verdacht standen, wie die Franzosen es mit einer wohl hämischen Behutsamkeit nennen, les goûts particuliers zu pflegen.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Trotzdem ist das Buch kein politisches Manifest, versteht es sich nicht als Protestliteratur — sondern als Literatur. Baldwin selbst legte Wert darauf zu betonen, dass das Thema des Romans nicht die Homosexualität sei, sondern die Angst, jemanden zu lieben. Damit stellt er eine universale menschliche Eigenschaft in den Vordergrund, eine existentielle Erfahrung, die unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung usw. ist.

„Du findest mein Leben schändlich“, setzte er nach, „weil meine Bekanntschaften schändlich sind. Sind sie ja auch. Aber du solltest dich fragen, warum.“
„Warum sind sie — schändlich?“, fragte ich ihn.
„Weil keine Zuneigung in ihnen steckt und keine Freude. (…)“

Baldwin, Giovannis Zimmer

Darüber hinaus ist sein Roman auch ein Text über Scham, Verdrängung und (Selbst-) Erkenntnis, über den Prozess einer Bewusstwerdung, die den schmerzhaften Weg des Sich Erinnerns geht, das ein wahrer Kraftakt ist und damit auch ein würdiger und mitreißender Gegenstand der modernen (Liebes-) Tragödie, die uns Baldwin mit Giovannis Zimmer hinterlassen hat.

Menschen, die sich erinnern, beschwören Wahnsinn durch Schmerz, den Schmerz ihrer fortwährenden Unschuld; Menschen, die vergessen, beschwören eine andere Form des Wahnsinns, den Wahnsinn, den Schmerz zu leugnen und die Unschuld zu hassen. Die Welt ist im Wesentlichen unterteilt in Wahnsinnige, die sich erinnern, und Wahnsinnige, die vergessen. Helden sind rar.

Baldwin, Giovannis Zimmer

Bibliographische Angaben
James Baldwin: Giovannis Zimmer [engl. Orig. 1956], dtv 2020
Mit einem Nachwort von Sasha Marianna Salzmann
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
ISBN: 9783423282178

Bildquelle
James Baldwin: Giovannis Zimmer
© 2020 dtv Literatur in der dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

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