Die Bücher von James Baldwin (1924-1987) sind inzwischen Klassiker und sie sind Texte von großer literarischer Qualität, in denen sich die Stimme eines Autors erhebt, der sich in zweierlei Hinsicht einer Minderheit zuordnen lässt. In diesem Sinne könnte man Giovannis Zimmer als Roman eines schwarzen Autors über Homosexualität bezeichnen, aber gegen diese doch auch wieder vereinnahmenden Zuschreibungen hätte Baldwin, der sich durchaus in der Bürgerrechtsbewegung engagierte, sich jedoch als Mensch und als Schriftsteller keinesfalls zur Symbolfigur reduzieren lassen wollte, sich wohl mit Sicherheit gewehrt. Umso schöner ist es, dass seine Literatur, die Vorurteile aufdeckt und immer den Menschen sieht, nicht die Gruppe, in neuen deutschen Übersetzungen gerade jetzt wiederentdeckt wird, zu einem Zeitpunkt, wo eine teils überfällige und dringend notwendige, teils aber auch sich ins Gegenteil verkehrende, ihre eigentlichen Ziele ad absurdum führende Debatte um kulturelle Aneignung im Bereich von Kunst und Literatur geführt wird.
Giovannis Zimmer ist Baldwins zweiter Roman nach Go tell it on the mountain, in dem er von Glaube, Bigotterie und sexueller Unsicherheit in einem afroamerikanischem Milieu erzählte. Trotz expliziter Wünsche seines amerikanischen Verlags weigerte er sich aber, erneut einen Roman mit afroamerikanischen Protagonisten vorzulegen, da er sich nicht auf ein bestimmtes Herkunftsmilieu — „Identität“ würden wir heute sagen — festlegen und dadurch eben auch begrenzen lassen wollte. In Giovannis Zimmer sind daher nun eben alle wichtigen Figuren Weiße, weiße Amerikaner und weiße Franzosen. Das hat in den 1950er Jahren, als der Roman erschien, durchaus für Furore gesorgt, so manch einer empfand diese „kulturelle Aneignung“ als Skandal und Tabubruch…
Die Handlung entwickelte Baldwin, der selbst einige Zeit in Frankreich verbrachte, aus einem autobiographischen fait divers, den er jedoch zu einem psychologisch vielschichtigen Roman ausgebaut hat, zu einer auch stilistisch beeindruckenden Erzählung: Mit den ersten Sätzen wird man schon von ihr gefangen genommen, und das Poetische, Nachdenkliche, Empathische des Textes, der zugleich nie vor schonungsloser (Selbst-) Kritik seiner Figuren zurückscheut, begleitet einen bis zur letzten Seite. Manchmal ist die Lektüre geradezu schmerzhaft, aber immer auch intensiv, schön und flüssig lesbar und der Stil auf unprätentiöse Weise komplex in seinen psychologischen Beobachtungen und metaphorisch-literarischen Verdichtungen.
Ich weiß gar nicht, wie ich das Zimmer beschreiben soll. In gewisser Weise wurde daraus jedes Zimmer, in dem ich je war, und jedes Zimmer, in dem ich fortan sein werde, wird mich an Giovannis Zimmer erinnern. Wirklich lange habe ich dort nicht gewohnt — wir lernten uns vor Frühlingsbeginn kennen, und im Sommer zog ich aus –, aber noch immer ist mir, als hätte ich dort ein Leben verbracht. Das Leben in diesem Zimmer schien sich, wie gesagt, unter Wasser abzuspielen, und fest steht, dass dort alles umgewälzt wurde.
Baldwin, Giovannis Zimmer
Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive eines jungen Amerikaners namens David in Form einer Rückschau, die an eine Beichte erinnert. David quält das Gewissen, er empfindet Mitschuld am unmittelbar bevorstehenden und durch nichts mehr aufzuhaltenden Tod eines Menschen, den er liebte und doch fallen ließ. Indem er in Rückblenden sein Leben und die Begegnung mit Giovanni Revue passieren lässt, unternimmt er auch eine Selbstbefragung, die immer wieder in Selbstverachtung umschlägt, welche sich wiederum mehr und mehr als Movens seines schließlich verhängnisvollen Verhaltens entlarvt.
So erfährt man in eindringlichen Szenen vom romantischen Beginn und erst prosaischen, dann tragischen Ende der Liebesgeschichte zwischen ihm und dem Barista Giovanni in Paris, aber auch von viel weiter in seine Kindheit und Jugend zurückreichenden Episoden: vom frühen Tod der Mutter, vom instabilen Verhältnis zu seinem Vater, von den ihn überfordernden sexuellen Gefühlen zu seinem Schulfreund, seiner Flucht und seinem Verrat an ihm, von seinen jugendlichen Alkoholexzessen und schließlich von seiner Verlobung mit der Amerikanerin Hella und seiner weiteren Flucht nach Paris, wo er in Hellas Abwesenheit in Schwulenbars verkehrt, ohne sich jedoch in der Öffentlichkeit oder auch nur sich selbst gegenüber zu seiner Sexualität zu bekennen.
James Baldwin zeichnet natürlich auch ein subtiles Gesellschaftsporträt und übt indirekt Kritik an homophoben Machtstrukturen und Vorurteilen gegenüber Außenseitern der Gesellschaft, die Sündenböcke braucht, um sich ihrer selbst zu versichern. So fällt, als der schmierige Barbesitzer Guillaume umgebracht wird, der Verdacht sofort auf den homosexuellen Giovanni, der zudem auch noch Ausländer ist. Wie sich die Geschichte wirklich abgespielt, welche Situation der Ausbeutung zu der Tat geführt hat, will die Öffentlichkeit hingegen gar nicht so genau wissen.
Es war ein entsetzlicher Skandal. (…) Ein solcher Skandal droht immer, noch bevor das Echo verhallt, einen Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Man braucht eine Erklärung, eine Lösung und so schnell wie möglich ein Opfer. Die meisten in Verbindung mit diesem Verbrechen aufgegriffenen Männer wurden nicht wegen Mordverdachts aufgegriffen. Sondern weil sie im Verdacht standen, wie die Franzosen es mit einer wohl hämischen Behutsamkeit nennen, les goûts particuliers zu pflegen.
Baldwin, Giovannis Zimmer
Trotzdem ist das Buch kein politisches Manifest, versteht es sich nicht als Protestliteratur — sondern als Literatur. Baldwin selbst legte Wert darauf zu betonen, dass das Thema des Romans nicht die Homosexualität sei, sondern die Angst, jemanden zu lieben. Damit stellt er eine universale menschliche Eigenschaft in den Vordergrund, eine existentielle Erfahrung, die unabhängig von Hautfarbe, sexueller Orientierung usw. ist.
„Du findest mein Leben schändlich“, setzte er nach, „weil meine Bekanntschaften schändlich sind. Sind sie ja auch. Aber du solltest dich fragen, warum.“
Baldwin, Giovannis Zimmer
„Warum sind sie — schändlich?“, fragte ich ihn.
„Weil keine Zuneigung in ihnen steckt und keine Freude. (…)“
Darüber hinaus ist sein Roman auch ein Text über Scham, Verdrängung und (Selbst-) Erkenntnis, über den Prozess einer Bewusstwerdung, die den schmerzhaften Weg des Sich Erinnerns geht, das ein wahrer Kraftakt ist und damit auch ein würdiger und mitreißender Gegenstand der modernen (Liebes-) Tragödie, die uns Baldwin mit Giovannis Zimmer hinterlassen hat.
Menschen, die sich erinnern, beschwören Wahnsinn durch Schmerz, den Schmerz ihrer fortwährenden Unschuld; Menschen, die vergessen, beschwören eine andere Form des Wahnsinns, den Wahnsinn, den Schmerz zu leugnen und die Unschuld zu hassen. Die Welt ist im Wesentlichen unterteilt in Wahnsinnige, die sich erinnern, und Wahnsinnige, die vergessen. Helden sind rar.
Baldwin, Giovannis Zimmer
Bibliographische Angaben
James Baldwin: Giovannis Zimmer [engl. Orig. 1956], dtv 2020
Mit einem Nachwort von Sasha Marianna Salzmann
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
ISBN: 9783423282178
Bildquelle
James Baldwin: Giovannis Zimmer
© 2020 dtv Literatur in der dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
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