bookmark_borderRebecca Makkai: Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Beeindruckend! Ich hatte Die Optimisten, Rebecca Makkais Vorgängerroman über Kunst und Krankheit und ihre Stigmatisierung, mit Begeisterung gelesen und war deshalb gespannt auf diesen neuen Roman. Wieder hat sich die Autorin in ein komplexes Thema hineingearbeitet und hineingefühlt, diesmal in das vielgestaltige Thema von „Me too“ mit all seinen Konsequenzen und Verwicklungen, privat, öffentlich, rechtlich und medial.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive von Elizabeth/Bodie Kane, die viele Jahre später, als sie selbst als Lehrbeauftragte an das Internat ihrer Jugend zurückkehrt, zusammen mit ihren Studenten einen Fall wieder aufrollt, der sich ereignete, als sie selbst dort zur Schule ging. Eine Schülerin wurde ermordet in der Schwimmhalle aufgefunden, der junge schwarze Sporttrainer beschuldigt und nach schludrig geführten Ermittlungen zu lebenslanger Haft verurteilt. Nicht nur Bodie drängt sich der schreckliche Verdacht auf, dass seit Jahren der falsche Mann im Gefängnis sitzt.

Rebecca Makkai hat einen kritischen, Ambivalenzen zulassenden Gesellschaftsroman geschrieben, der sich stellenweise wie ein Krimi, dann wieder wie ein Internatsroman und vor allem gegen Ende wie ein Justizroman liest; einen Roman, der die Lebensgeschichte einer Frau in den Vordergrund stellt, mit ihr verknüpft aber zahlreiche weitere weibliche Lebensgeschichten mit ihren Beschädigungen, Verletzungen, Rissen, Wunden, Traumata um die zentrale Gestalt herum auffächert. So gelingt es der Autorin, ein großes gesellschaftliches Thema mit der fiktionalen Kraft des Romans, der Individuen und ihre persönlichen Erlebnis- und Gefühlswelten in den Vordergrund stellt, facettenreich auszuleuchten. An keiner Stelle hat man das Gefühl, dass die Handlung nur zur Illustration einer These oder eine Figur nur zur Demonstrierung einer Haltung da wäre, und trotzdem bringt sie mit ihrer bunten Figurenwelt eine schillernde Palette an Positionen ein, die zeigen, dass die Geschichte lange durchdacht wurde und das Ergebnis intensiver Recherche ist.

Bibliographische Angaben
Rebecca Makkai: Ich hätte da ein paar Fragen an Sie, Eisele 2023
Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell
ISBN: 9783961611737

Bildquelle
Rebecca Makkai, Ich hätte da ein paar Fragen an Sie
© 2023 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderDelia Owens: Der Gesang der Flusskrebse

Als Der Gesang der Flusskrebse in Buchform erschienen ist und alle meine Kolleginnen in der Buchhandlung und bald auch die Bestsellerlisten helle Begeisterung zeigten, war ich zwar sehr versucht, den Roman auch zu lesen, entschied mich dann aber dagegen, ein wenig misstrauisch gegenüber so viel Huldigung für einen Roman, der dem Klappentext nach auch nah am Kitschigen konstruiert sein könnte.

Nun, zwei Jahre später und mit Baby statt mit Büchern auf dem Arm, habe ich mich an die Hörbuchfassung des Romans gewagt, zugegebenerweise doch immer noch neugierig auf die Geschichte. Und es war genau die richtige Entscheidung, das Hörbuch zu wählen! Die Sprecherin Luise Helm stellt wirklich Zauberhaftes mit ihrer Stimme an, die im einen Moment ganz zart und behutsam erzählt und im nächsten ohne Bruch in den rauen Duktus eines Mordermittlers wechselt. Jede der zahlreichen Figuren hat ihre eigene sofort wiedererkennbare Färbung, ohne dass es zu stark oder übertrieben intoniert wirkt. Die elf Stunden der Hörfassung sind für mich so wie im Flug vergangen und haben es in den Hintergrund treten lassen, dass die Geschichte tatsächlich an ein paar Stellen zur Rührseligkeit neigt: Immerhin hat das von allen verlassene Mädchen, das im Amerika der 1950er und 1960er Jahre alleine in der Marsch lebt und zahlreichen Vorurteilen und Feindseligkeiten zum Trotz zu einer feinfühligen, künstlerisch und naturkundlich hoch talentierten schönen Frau heranwächst, die dann eines schweren Verbrechens bezichtigt wird, schon etwas sehr Märchenhaftes — das moderne Märchen unserer Sehnsucht nach Unversehrtheit der Natur und der Rückkehr zum ursprünglichen Leben in Einklang mit dieser. Doch kann das heute in solcher Unschuld geschehen? Selbst die Romanhandlung setzt hier ganz zum Ende hin doch noch ein Fragezeichen, das die Geschichte in ein angenehm uneindeutigeres Licht taucht.

Bibliographische Angaben
Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse, hanserblau 2019
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
ISBN: 9783446264199

Hörbuch:
Hörbuch Hamburg 2019
Gesprochen von Luise Helm
ISBN: 9783869092881

Bildquelle
Delia Owens, Der Gesang der Flusskrebse
 © 2019 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderDavid Almond: Ein finsterheller Tag

Ein heißer Sommerferientag in einer Kleinstadt, ein Junge, der in seinen Spielsachen kramt, für die er schon ein bisschen zu alt ist, und eine Mutter, die ihren Sohn liebevoll, aber mit Nachdruck nach draußen schickt, an die Luft, in die Bewegung, ins Leben. Noch ahnt niemand, auch nicht der Leser, dass dieser eine Tag, an dem sich die ganze Geschichte abspielen wird, ein ganz und gar außergewöhnlicher Tag werden wird, ein finsterheller Tag, an dem so vieles passiert, Schönes und Schreckliches, Bizarres und Vertrautes, Traumhaftes und ganz Reales, dass man immer mehr ins Staunen gerät über diesen Jungen namens Davie, der gerade erst seinen Vater verloren hat, gerade erst der Kindheit entwächst und so unbeirrt und unverwandt seine Wanderung durch die Stadt und aus der Stadt heraus immer weiter fortsetzt, hin zu einem Ziel, dass er mehr zu ahnen als zu kennen scheint.

Zu Beginn erfährt Davie von einem Freund, dass ein Mord passiert sein soll, ein Junge liegt hingeschlagen auf dem Asphalt, Polizei und Priester sind schon zur Stelle, man ist sich in der Kleinstadt schnell einig, dass ein anderer Junge aus einer verfeindeten Familie ihn erstochen haben muss, die Vorbereitungen zu einem Rachefeldzug sind schon im Gange. Davie läuft indes weiter, läuft er davon, läuft er dem geflohenen Täter nach, oder folgt sein Lauf einer ganz eigenen, sich entziehenden Logik?

David Almond, bereits preisgekrönter britischer Kinder-und Jugendbuchautor, macht aus dem Stoff, der auch eine solide Basis für eine klassische Coming-of-age-Geschichte abgeben würde, etwas anderes, Überraschendes, Poetisches, eine Initiationsreise, in der die narrative Kraft des Mythos die wahrhaft treibende und gestaltende zu sein scheint. Auf dieser Reise begegnet Davie nacheinander vielen, oft skurrilen Gestalten aus dem Reich der Lebenden und der Toten, er spürt die Trauer um seinen Vater, spürt den Hunger und vor allem den Durst in der zermürbenden Sommerhitze, er wird zum ersten Mal geküsst und erfährt schließlich die intime Nähe des mutmaßlichen Mörders in einer schmerzhaft realen Inszenierung, die ihm die ganz andere Wahrheit über die Gewaltszene, die die Stadt in Unruhe stürzt, offenbart.

So haben die Begegnungen, die Davies Weg unterbrechen, fast immer etwas Verstörendes, Irritierendes, Groteskes an sich und wühlen dadurch etwas im Unterbewusstsein des Jungen auf, der jedoch jedesmal auch etwas Schönes, Vertrautes in ihnen erahnt, ertastet, so dass sich immer wieder ein zartes zwischenmenschliches Band zu knüpfen beginnt. Denn Davie ist jemand, der alles um sich herum aufmerksam betrachtet, auf Zwischentöne horcht und denen, die auf seinem Weg auftauchen, zugewandt begegnet, ihnen zuhört, wirklich zuhört, vorurteilsfrei, so seltsam ihre Geschichten auch anmuten mögen, der sich dann aber auch wieder loslöst, frei macht, um unabhängig seinen Weg weiterzugehen und in sich selbst hinein zu lauschen. Und dort, in ihm, sind unzählige, auf ihn einstürmende, sich verselbständigende Gedanken, denen er auf ihren verzweigten, kühnen, ausgefallenen Wegen nachspürt, um die Welt und seinen Platz darin besser zu begreifen. Immer wieder neigt Davie dabei dazu, sich in diesen Gedanken zu verlieren, so dass die Grenzen zwischen Außen- und Innenwelt, zwischen Realität und Traum veschwimmen und die Erzählung fast unmerklich ins Surrealistische, Onirische, Mythische gleitet. Doch das wird weder pathologisiert noch verklärt, vielmehr weiten diese Ausflüge ins Traumhafte Davies emotionalen und intellektuellen Erkenntnisraum, ohne sein Ich zu spalten oder zu zerreiben. Der Kinder entführende und vertauschende Bussard, von dem ihm eine Frau, der er begegnet, halb belustigt, halb ernsthaft erzählt, ist für den Jungen keine bedrohliche, sondern eher eine inspirierende mythische Gewalt, er kommt von seinem fantastischen Höhenflug gereift und um viele Bilder reicher, aber doch innerlich als derselbe Davie zurück, als der er aufgebrochen ist, nämlich als einer, der die Welt um sich staunend betrachtet und dem Dasein offen für jedes seiner Wunder entgegenblickt.

Ein witziges und melancholisches, wunderbar poetisches Abenteuer, skurril, berührend und voller kleiner Überraschungen!

Bibliographische Angaben
David Almond: Ein finsterheller Tag, FISCHER Sauerländer (2021)
Übersetzt aus dem Englischen von Alexandra Ernst
ISBN: 9783737356282

Ab 12 Jahren

Bildquelle
David Almond, Ein finsterheller Tag
© FISCHER Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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