bookmark_borderHelmut Krausser: Freundschaft und Vergeltung

Den Schriftsteller Helmut Krausser habe ich erst kürzlich entdeckt, mit seinem letzten Roman Wann das mit Jeanne begann, der sich über die ansprechenden Assonanzen im Titel hinaus als sehr überraschende, unkonventionelle und bis zuletzt hochspannende Spiel-Art eines historischen Romans entpuppte (cf. Rezension vom 11.10.2024). Freundschaft und Vergeltung scheint auf den ersten Blick erzählerisch, dramaturgisch und thematisch ganz anders geartet, auch wenn wieder ein Geheimnis von krimineller Aura den Bogen über die gesamte Erzählung spannt: An einem sehr britischen Internat verschwinden in einer Silvesternacht Mitte der 1960er Jahre vier Personen spurlos, ein eigenwilliger, sich über Regeln munter hinwegsetzender Internatsschüler, sein reicher Vater, der als Geldgeber der Schule wie eine machtvolle graue Eminenz im Hintergrund wirkt, eine junge Lehrerin, die Begehrlichkeiten weckt, und die Direktorin des College. Auch Jahrzehnte später, als der Ich-Erzähler, der damals als Schüler das Internat besuchte und als Teil der Clique, oder vielleicht eher Anhängerschaft, des aufmüpfigen Mäzenatensohns eher nur am Rande in die Ereignisse involviert war, weitere Nachforschungen anstellt, bleibt der Fall voller Rätsel — eben das „Raven Hall Mystery“.

Was auf der ersten Ebene wie ein Internatsroman oder Collegeroman mit Mystery-Flair anmutet, wird erzählerisch jedoch so komponiert und gestaltet, dass die scheinbar wohlbekannte Form Risse bekommt, aus denen unerwartete neue Elemente hervortreten. Wie auch der Vorgängerroman ist Freundschaft und Vergeltung keinem bereits existierenden Genre eindeutig zuzuordnen. Vielmehr ist das Charakteristische des Textes gerade seine Stilmischung. In den Text schleicht sich, poststrukturalistisch gesprochen, eine différance ein, eine kleine Verschiebung: Aus dem College-Roman wird ein Collage-Roman. Während im ersten Teil die Zeugenschaft des Ich-Erzählers, seine tagebuchartigen subjektiven Erinnerungen an die Personen und Ereignisse im Internat im Jahr 1965 im Vordergrund stehen, kommen im nächsten größeren Abschnitt die nach dem Verschwinden angefertigten Verhörprotokolle von Lehrern, Hausmeister und anderen Zeugen oder Verdächtigen an die Reihe, in die sich der Ich-Erzähler 20 Jahre später Einblick verschaffen konnte. Noch einmal 20 Jahre später hat die Neugier des Ich-Erzählers noch immer nicht nachgelassen; der Drang, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, oder vielleicht sogar den verschwundenen Personen selbst, ist für ihn zur lebenslangen Mission geworden, zum zentralen Inhalt seines Daseins, für das er das Unverständnis, ja Missfallen seiner Frau in Kauf zu nehmen bereit ist. Man ahnt, dass sein detektivischer Forscherdrang seinen heimlichen Antrieb aus der Liebe gewinnt, wobei nicht ganz klar ist, ob aus Liebe zu der attraktiven Lehrerin, die damals verschwand, oder zu seinem damaligen Mitbewohner. Im Sinne des mimetischen, also nachahmenden Begehrens, wie es der französische Literaturwissenschaftler René Girard formulierte, wären die beiden Begehren ohnehin untrennbar verknüpft, da es über den verschwundenen Schüler und seine Lehrerin Gerüchte gab, die dieser selbst fleißig mit schürte.

Das Faustische eines Charakters, in das untrennbar das Begehren verwoben ist, scheint jedenfalls ein wiederkehrendes, allzumenschliches Thema des Autors zu sein. Ebenso wie das Spiel mit Fiktion und Realität, Erfundenem und tatsächlich Geschehenem, das vor dem Hintergrund unserer medienabhängigen Gegenwart, der im letzten Teil des Romans eine wichtige Rolle zukommt, auf die erzählerische Spitze getrieben wird. Denn während in den 1960er Jahren Gerüchte und pikante Unterstellungen noch eher durch Briefe verbreitet werden konnten, haben die neuen Medien im 21. Jahrhundert eine ganz andere Reichweite und Brisanz. Der Ich-Erzähler nutzt diese denn auch für seine Spurensuche zum „Raven Hall Mystery“. Auf den ersten Blick mit ziemlichem Erfolg: Er bekommt viele Klicks, viel Resonanz, viele neue heiße Spuren in Reaktion auf seinen Blog, den er zu den damaligen Vorfällen eingerichtet hat. Doch zugleich mit den neuen Möglichkeiten, die eine solche Internetrecherche bietet, treten auch ihre Schattenseiten zutage. Auf den Triumph, auf die Hoffnung folgt die Unsicherheit, und der Ariadne-Faden, an dem sich der Ich-Erzähler über die Jahre und Jahrzehnte an das Geheimnis heranzutasten schien, erweist sich im Spiel der Identitäten, das im Ineinander der virtuellen und wirklichen Welt entstehen kann, auf einmal als ziemlich fadenscheinig.

Freundschaft und Vergeltung ist auf der ersten Ebene ein spannender Roman über Macht und Leidenschaft und auf der zweiten eine formverspielte und medienreflektierte Erzählung über die schwere Unterscheidbarkeit von Wahrheit und Täuschung, über die Manipulierbarkeit von Geschichten und die faszinierenden und fatalen Gespinste der Imagination.

Bibliographische Angaben
Helmut Krausser: Freundschaft und Vergeltung, Piper 2024
ISBN: 9783827014160

Bildquelle
Helmut Krausser, Freundschaft und Vergeltung
© 2025 Piper Verlag GmbH, München

bookmark_borderRebecca Makkai: Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Beeindruckend! Ich hatte Die Optimisten, Rebecca Makkais Vorgängerroman über Kunst und Krankheit und ihre Stigmatisierung, mit Begeisterung gelesen und war deshalb gespannt auf diesen neuen Roman. Wieder hat sich die Autorin in ein komplexes Thema hineingearbeitet und hineingefühlt, diesmal in das vielgestaltige Thema von „Me too“ mit all seinen Konsequenzen und Verwicklungen, privat, öffentlich, rechtlich und medial.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive von Elizabeth/Bodie Kane, die viele Jahre später, als sie selbst als Lehrbeauftragte an das Internat ihrer Jugend zurückkehrt, zusammen mit ihren Studenten einen Fall wieder aufrollt, der sich ereignete, als sie selbst dort zur Schule ging. Eine Schülerin wurde ermordet in der Schwimmhalle aufgefunden, der junge schwarze Sporttrainer beschuldigt und nach schludrig geführten Ermittlungen zu lebenslanger Haft verurteilt. Nicht nur Bodie drängt sich der schreckliche Verdacht auf, dass seit Jahren der falsche Mann im Gefängnis sitzt.

Rebecca Makkai hat einen kritischen, Ambivalenzen zulassenden Gesellschaftsroman geschrieben, der sich stellenweise wie ein Krimi, dann wieder wie ein Internatsroman und vor allem gegen Ende wie ein Justizroman liest; einen Roman, der die Lebensgeschichte einer Frau in den Vordergrund stellt, mit ihr verknüpft aber zahlreiche weitere weibliche Lebensgeschichten mit ihren Beschädigungen, Verletzungen, Rissen, Wunden, Traumata um die zentrale Gestalt herum auffächert. So gelingt es der Autorin, ein großes gesellschaftliches Thema mit der fiktionalen Kraft des Romans, der Individuen und ihre persönlichen Erlebnis- und Gefühlswelten in den Vordergrund stellt, facettenreich auszuleuchten. An keiner Stelle hat man das Gefühl, dass die Handlung nur zur Illustration einer These oder eine Figur nur zur Demonstrierung einer Haltung da wäre, und trotzdem bringt sie mit ihrer bunten Figurenwelt eine schillernde Palette an Positionen ein, die zeigen, dass die Geschichte lange durchdacht wurde und das Ergebnis intensiver Recherche ist.

Bibliographische Angaben
Rebecca Makkai: Ich hätte da ein paar Fragen an Sie, Eisele 2023
Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell
ISBN: 9783961611737

Bildquelle
Rebecca Makkai, Ich hätte da ein paar Fragen an Sie
© 2023 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

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