bookmark_borderAnna Maria Ortese: Il mare non bagna Napoli

Neapel liegt nicht am Meer“ — Italienkenner und -liebhaber mögen sich wundern, doch die Schriftstellerin Anna Maria Ortese (1914-1998), die diesen Band mit Erzählungen und literarischen Reportagen über Neapel zum ersten Mal 1953 veröffentlichte und selbst lange Jahre in der Stadt lebte, wirft hier einen anderen, ungewohnten und dennoch wahrhaftigen Blick auf die berühmte Stadt am Mittelmeer: ein Blick, geprägt von Elend, Armut, Verzweiflung, aber auch von träumerischen Anwandlungen der Hoffnung und einem mal kämpferischen, mal resignierten Durchhaltevermögen, von sozialen Ungleichheiten und engen Familienstrukturen, und bevölkert von all den vielen und vielseitigen, zugleich abstoßenden und faszinierenden Charakteren, denen die Autorin bei ihrer Rückkehr in die Stadt ihrer Jugend nach dem Krieg begegnete.

Der Matthes & Seitz Verlag hat nun das Buch, das bisher nur noch antiquarisch unter dem Titel „Neapel — Stadt ohne Gnade“ in einer Übersetzung von 1955 zu haben war, in neuer und zum ersten Mal vollständiger Übersetzung herausgebracht — und schon ist das Buch wieder vergriffen und harrt einer Neuauflage. Turbulent ist die Verlagsgeschichte des Buches von Beginn an. Als es 1953 beim Verlag Einaudi erscheint, wird es von großen Teilen der italienischen Kulturszene als Buch „contro Napoli“, gegen Neapel, verurteilt; die Stadt Neapel — und vor allem auch die jungen journalistischen und schriftstellerischen Kollegen, die Ortese in einem der in diesem Band versammelten Texte mit einem für sie typischen, desillusionierend scharfen Blick wohl allzu kritisch porträtiert, erscheinen der intellektuellen Öffentlichkeit in so unlieb düsterem Licht, dass die talentierte junge Schriftstellerin ungeachtet der Preise, die sie für ihre Werke erhält, lange Zeit als Außenseiterin der damaligen Kulturwelt Italiens gilt und mit Geldsorgen zu kämpfen hat. Damals hielt sie es übrigens für das Beste, Neapel zu verlassen; sie lebte nie mehr in der Stadt, deren Charakter sie literarisch so beeindruckend eingefangen hatte; nur in ihren literarischen Texten kehrte sie doch immer wieder an diesen Ort zurück.

1994 legte der Adelphi Verlag ihr Neapel-Buch neu auf; im Vorwort ordnet die Autorin ihren einst so heftig kritisierten hoffnungs- und skrupellosen Blick auf Neapel in ihre Poetik des Irrealen ein, das ihren literarisch verdichteten schriftstellerischen Blick auf die Wirklichkeit charakterisiert, der, wie sie betont, immer auch ein subjektiv-poetischer ist. Ortese verlor in der Zeit, als sie an dem Buch arbeitete, nacheinander beide Eltern, davor waren schon zwei ihrer Brüder verunglückt. Der Tod ihres ersten Bruders, den sie mit dem Schreiben von Gedichten verarbeitete, war wohl auch der Anstoß zu ihrer literarischen Karriere. Vor diesem biographischen Hintergrund lässt sich die folgende Äußerung über ihren auch persönlich geprägten Blick auf Neapel besser verstehen:

Io, invece, mancava di radici, o stavo perdere le ultime, e attribuii alla bellissima città questo ’spaesamento‘ che era soprattutto il mio.

Ich hingegen hatte keine Wurzeln mehr, oder war gerade dabei, die letzten zu verlieren, und schrieb daher der wunderschönen Stadt ein ‚Unbehagen‘ zu, das vor allem mein persönliches war.

Ortese, Vorwort zur Neuauflage 1994 (Übersetzung der Rezensentin)

Nicht nur in ihren literarischen Reportagen, in denen sich Journalistisches und Poetisches mischt, sondern etwa auch in der 1975 erschienenen neuartigen autobiographischen Erzählung Il Porto di Toledo. Ricordi della vita irreale — das die der Wirklichkeit eingeschriebene Irrealität bereits im Titel trägt — experimentiert sie mit Stilen und Genres. Trotzdem bezeichnet Ortese auch Jahrzehnte später ihre Neapel-Texte, wenn auch als subjektiv literarisiert, so doch unbedingt als wahrhaftig:

Erano molto veri i dolore e il male di Napoli, uscita in pezzi dalla guerra.

Sie waren sehr real, der Schmerz und das Leid Neapels, das in Trümmern aus dem Krieg hervorgegangen war.

Ortese, Vorwort zur Neuauflage bei Adelphi 1994 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Gattungsfrage ist auch in Il mare non bagna Napoli hochspannend und es ist überaus faszinierend, wie der sehr wiedererkennbare, poetisch dichte Stil, ihr entlarvend-einfühlsames und auf sehr genauen, in die Tiefe und ins Detail gehenden Beobachtungen beruhendes Schreiben sich fast unmerklich von der fiktiven Erzählung weg und ins Essayistische hineinbewegt. Während die ersten beiden Texte noch eindeutig als Fiktion bezeichnet werden können, würde man die folgenden doch eher Reportagen nennen, in denen das Journalistische jedoch nie ohne das Literarische, Poetische auskommt.

„Un paio di occhiali“ heißt die Erzählung, mit der man als Leser in Orteses neapolitanische Welt eingeführt wird. Die Hauptfigur ist Eugenia, ein kleines Mädchen, das sehr schlecht sieht und daher ihre ärmliche Umwelt noch nie in all ihrer Schärfe zu Gesicht bekommen hat. Voll Stolz und Vorfreude, ja geradezu euphorisch, wartet sie auf ihre erste Brille, die sich ihre arme Familie gewissermaßen vom Leibe abgespart hat; immer wieder wird betont, dass ihre Tante Nunzia beim Optiker dafür 800 Lire bezahlt hat. Endlich ist es nun soweit, ihre Mutter holt die Brille ab und die ganze Nachbarschaft hat sich auf dem schmutzigen Innenhof versammelt, um das fast biblische Ereignis zu verfolgen, wenn Eugenia zum ersten Mal ihre neue Brille aufsetzt und sehend wird. Doch alle Erwartungen werden gebrochen, Eugenia ist völlig überfordert mit dem, was sie nun auf einmal in aufdringlicher Schärfe zu sehen bekommt — und ihr wird übel:

Come un imbuto viscido il cortile, con la punta verso il cielo e i muri lebbrosi fitti di miserabili balconi; (…) il selciato bianco di acqua saponata, le foglie di cavolo, i pezzi di carta, i rifiuti, e, in mezzo al cortile, quel gruppo di cristiani cenciosi e deformi, coi visi butterati dalla miseria e dalla rassegnazione, che la guardavano amorosamente. Cominciarono a torcersi, a confondersi, a ingigantire.

Der Hof wie ein klebriger Trichter, dessen Spitze zum Himmel zeigte, und die Mauern wie Aussätzige mit erbärmlichen Balkonen übersät; (…) das vom Seifenwasser weiße Pflaster, die Blätter von Kohlköpfen, die Papierfetzen, der Müll und in der Mitte des Hofes jene zerlumpte und entstellte Christengruppe, mit ihren vom Elend und der Resignation pockennarbigen Gesichtern, die sie liebevoll anschauten. Sie begannen sich zu verdrehen, zu verschwimmen, sich riesenhaft zu vergrößern.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 33 (Übersetzung der Rezensentin)

Im entsetzten Blick des Mädchens, das die sie umgebende Hässlichkeit der Armut wie ein Schock trifft, offenbart sich das ganze Elend der Hausgemeinschaft. Doch selbst innerhalb dieses einen Wohnblocks zeigt sich auch die soziale Ungleichheit, die Ortese im Nachkriegsneapel immer wieder beobachtet. Denn das obere Stockwerk gehört einer wohlhabenderen Dame, die Verwandte im reichen Viertel Posillipo hat und der alle übrigen Hausbewohner mit geradezu andächtiger Ehrfurcht begegnen. Die Arroganz, die ihrer zur Schau gestellten Großzügigkeit innewohnt, entlarvt die Autorin in einer Szene, als Eugenia die Gnade erfährt, ein altes, abgetragenes, fadenscheiniges Kleid von ihr zum Geschenk zu bekommen. Doch wie staunt Eugenia, als sie auf den Balkon ihrer reichen Nachbarin tritt, der mit seiner Aussicht auf das nahe und doch so ferne Meer zum Zeichen des höheren gesellschaftlichen Ranges wird, während das Sehen für die Armen entweder unmöglich ist oder zur Qual wird.

Uscì sul balcone. Quant’aria, quanto azzurro! Le case, come coperte da un velo celeste, e giù il vicolo, come un pozzo, con tante formiche che andavano e venivano… come i suoi parenti (…). E intorno, quasi invisibile nella gran luce, il mondo fatto da Dio, col vento, il sole, e laggiù il mare pulito, grande… Stava lì, col mento inchiodato sui ferri, improvvisamente pensierosa, con un’espressione di dolore che la imbruttiva, di smarrimento.

Sie trat auf den Balkon hinaus. Wie viel Luft, wie viel Blau! Die Häuser, wie bedeckt von einem himmlischen Schleier, und unten die Gasse, wie ein Schacht, mit lauter Ameisen, die hin und herliefen… wie ihre Eltern (…). Und ringsum, fast unsichtbar in all dem Licht, die Welt, die Gott gemacht hatte, mit dem Wind, der Sonne, und da unten das saubere, weite Meer… Dort stand sie, das Kinn wie festgenagelt auf dem Geländer, plötzlich ganz nachdenklich, mit einem Ausdruck des Schmerzes, des Verlustes, der sie hässlich aussehen ließ.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 30 (Übersetzung der Rezensentin)

Die zweite Erzählung, „Interno familiare“, schildert ein kleinbürgerliches „Familienintérieur“. Schonungslos und zugleich einfühlsam werden wir als Leser in das für Frauen ab einem gewissen Alter hoffnungslose Milieu herangeführt sowie an die nicht mehr ganz junge Anastasia, die älteste Tochter einer Familie, deren väterliches Oberhaupt gestorben ist, und die sich in einem letzten Aufbäumen ihrer Sehnsucht für die kurze Dauer eines Tages einer unerfüllbaren Hoffnung hingibt. Als Anastasia nämlich von der Rückkehr eines Jugendfreundes erfährt, der lange auf See unterwegs war, gerät sie in Tagträume — Träume ganz bescheiden anmutender Art, dass sie als Frau doch noch begehrt werden, ja vielleicht sogar noch heiraten könnte –, die den Familienfrieden dennoch zu erschüttern drohen:

Con una vera angoscia, capiva che l’equilibrio, la pace della famiglia erano in pericolo, se la colonna di quella casa s’inteneriva.

Mit einer wahren Angst begriff sie (die Mutter), dass das Gleichgewicht, der Familienfrieden in Gefahr waren, wenn die Säule dieses Hauses in Rührung geriete.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 52 (Übersetzung der Rezensentin)

Denn Anastasia, die „Säule des Hauses“, verdient nach dem Tod des Vaters mit ihrem eigenen Strickwarenladen das Geld für die ganze Familie, sie übernimmt auf Kosten ihrer eigenen Träume die Verantwortung für ihre Geschwister und deren künftige Kinder, für ihre Tante und für ihre Mutter, die ihr ihre jüngere, kränkliche Tochter vorzieht und Anastasia unsanft, fast abfällig behandelt und doch zugleich liebt und genau weiß, welches Opfer sie von ihrer Ältesten wie selbstverständlich erwartet. Angesichts der erstickenden Strukturen, in denen sich die Frauen ihrer sozialen Schicht damals in Neapel bewegten, begreift man die Kühnheit und Vergeblichkeit, ja die Irrealität des so harmlos anmutenden Traums von Anastasia:

Non poteva pensare, vivere. Qualche cosa era vivo in lei, e neppure poteva dirlo. Questa era la sua bontà, la sua forza, questa incapacità d’intendere e di volere una vita sua. Soltanto ricordare poteva, di quando in quando, vedere, e poi subito quel lume, quel paesaggio era spento.

Sie konnte nicht denken, nicht leben. Etwas in ihr war lebendig, und sie konnte es nicht einmal ausdrücken. Dies war ihre Güte, ihre Stärke, diese Unfähigkeit, etwas anzustreben und ein eigenes Leben haben zu wollen. Sie konnte sich nur erinnern, von Zeit zu Zeit etwas sehen, und dann plötzlich war jenes Licht, jene Landschaft wieder erloschen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 40 (Übersetzung der Rezensentin)

Vor Tränen sieht auch Anastasia — wie Eugenia in der ersten Erzählung — kaum etwas, ihr verschwommener Blick weiß den Hafen, an dem das Schiff ihres Jugendfreundes ankert, nur einen Kilometer entfernt, der für sie jedoch eine unüberbrückbare Distanz darstellt; doch der Schmerz erlischt zusammen mit ihrer Sehnsucht so schnell, wie er gekommen ist, und Anastasia fügt sich ohne Hoffnung und ohne Klage wieder in die von ihr erwartete Rolle.

Die sich anschließenden Kapitel nähern sich dem Genre der Reportage und des Essays an und sind allesamt aus einer Ich-Perspektive erzählt, die man wohl mit derjenigen der jungen Journalistin Ortese gleichsetzen kann. In „Oro a Forcella“ läuft sie, mit wachem Blick alle möglichen Szenen und Charaktere einfangend, durch eine Straße, in der sich die Menschen dicht an dicht drängen, beobachtet und macht sich Gedanken über das so eigene Elend der Stadt:

Una miseria senza più forma, silenziosa come un ragno, disfaceva e rinnovava a modo suo quei miseri tessuti, invischiando sempre più gli strati minimi della plebe, che qui è regina. (…) Qui, il mare non bagnava Napoli. Ero sicuro che nessuno lo avesse visto (…). In questa fossa oscurissima, non brillava che il fuoco del sesso, sotto il cielo nero del sovrannaturale.

Ein Elend, das keine Form mehr annahm, das still war wie eine Spinne, zerstörte und erneuerte auf seine Weise jene elenden Netze, indem es die kleinsten Schichten des Pöbels, der hier regierte, immer dichter einwickelte. (…) Hier lag Neapel nicht am Meer. Ich war sicher, dass niemand hier es gesehen hatte. (…) In dieser stockfinsteren Grube leuchtete nichts als das Feuer des Sex, unter dem schwarzen Himmel des Übernatürlichen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 67 (Übersetzung und Hervorhebung der Rezensentin)

Dieser extrem verdichtete, bildhafte Stil ist typisch für Ortese und zeigt, welche Literarizität und fast ins Mythische reichende psychologische Tiefenbohrung auch denjenigen ihrer Texte innewohnt, die bereits mehr in Richtung Reportage gehen.

In diesem Sinne weist auch das auf den ersten Blick sehr journalistisch anmutende Kapitel „La città involuntaria“ irrealisierende, mythisch-metaphorische Tendenzen auf, die Ortese aber unmittelbar aus sehr präzisen Beobachtungen der Wirklichkeit hervorgehen lässt. Wie in ihren Kurzgeschichten verwendet sie auch hier eine große literarische Einfühlsamkeit auf jede einzelne der beschriebenen Figuren, auch dann, wenn die berichterstattende Erzählerin nur einen kurzen, aber nicht weniger intensiven Blick auf sie erhaschen kann. Die „unfreiwillige Stadt“ ist ein riesiges Industriebauwerk am Hafen — die III e IV Granili, ehemalige Kornspeicher –, in dem nach dem Krieg unzählige Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht leben. Wiederum befindet sich dieses Gebäude räumlich ganz nah an Neapels Meer, doch die meisten seiner Bewohner bekommen es nie ins Gesicht; statt in mediterranem Ambiente leben sie inmitten einer feuchten Dunkelheit, die allenfalls von künstlichem Licht durchbrochen wird.

Die Journalistin folgt einer „guida“, die sie in einer Art Céline’schen Reise ans Ende der Nacht tief hinein in das riesige kerkerkafte Gebäude führt und ihr Szenen zu sehen gibt, in denen sich das Elend der eingepferchten Menschen nackt und schonungslos offenbart. Es ist wie ein Eintritt in die Hölle, Schmutz, Blut, Urin, Finsternis, Hunger, Tod beherrschen das Innere des Gebäudes. Und wie in Dantes Unterwelt gibt es auch hier gewisse hierarchische Abstufungen der Qual; je höher die Etage liegt, desto größer der Komfort und Lebensmut, und sei er nur illusorisch, und je tiefer, desto schmutziger, dunkler und erbärmlicher ist auch der Zustand der Zimmer und ihrer Bewohner. Letztlich gibt es nur eine Richtung, die nach unten:

Evitavano qualsiasi contatto con i cittadini dei primi piani, mostrando per la loro abiezione una severità non priva di compassione (…). Non risaliva più nessuno, da giù. Non era facile risalire quei gradini in apparenza piani e comodissimi. C’era qualcosa che chiamava, da giù, e chi cominciava a scendere era perduto (…).

Sie (die Bewohner der oberen Etage) vermieden jeden erdenklichen Kontakt mit den Bürgern aus den ersten Etagen und legten dabei für deren Verworfenheit eine Strenge an den Tag, die nicht ohne Mitleid war (…). Von dort unten kam niemand mehr nach oben. Es war nicht leicht, jene dem Schein nach so ebenen und bequemen Stufen zu erklimmen. Da war etwas, das nach einem rief, einen nach unten zog, und wer den ersten Schritt nach unten getan hatte, war verloren (…).

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 87 f. (Übersetzung der Rezensentin)

Besonders unter die Haut geht die Schilderung der Kinderschicksale, von denen die Erzählerin berichtet. Ein Junge bricht plötzlich tot zusammen, eine Trauerfeier wird improvisiert und niemand ist allzu überrascht über das Vorkommnis, das längst kein Einzelfall ist; ein kleines zweijähriges Mädchen, das so klein und schwächlich ist, dass es die Erzählerin erst für ein Neugeborenes hält, hat in ihrem Leben bisher nur ein einziges Mal das Tageslicht gesehen.

Questa infanzia, non aveva d’infantile che gli anni. Pel resto, erano piccoli uomini e donne, già a conoscenza di tutto, il principio come la fine delle cose, già consunti dai vizi, dall’ozio, dalla miseria più insostenibile, malati nel corpo e stravolti nell’animo, con sorrisi corrotti o ebeti, furbi e desolati nello stesso tempo. Il novanta per cento, mi disse la Lo Savio, sono già tuberculotici o disposti alla tubercolosi (…). Assistono normalmente all’accoppiamento dei genitori, e lo ripetono per giuoco. Qui non esiste altro giuoco, poi, se si escludono le sassate.

Diese Kindheit hatte nichts Kindliches außer der Zahl der Lebensjahre. Ansonsten waren sie kleine Männer und Frauen, die schon über alles Bescheid wussten, über den Anfang wie über das Ende der Dinge, die schon aufgezehrt waren von den Lastern, dem Nichtstun, dem unerträglichsten Elend, die körperlich krank waren, seelisch verwirrt, deren Lächeln verdorben oder schwachsinnig war, die listig und trostlos zugleich dreinblickten. 90 Prozent von ihnen, so sagte es mir die Lo Savio, litten schon an Tuberkulose oder würden es bald (…) Es war ganz normal, dass sie dabei waren, wenn ihre Eltern Sex hatten, und sie wiederholten es, wenn sie spielten. Hier gibt es kein anderes Spiel, wenn man das Steinewerfen mal ausnimmt.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 93 (Übersetzung der Rezensentin)

Im letzten und längsten Kapitel, „Il silenzio della ragione“ („Das Schweigen der Vernunft“) erzählt Ortese, wie sie quer durch Neapel pilgert, um ihre früheren Journalistenkollegen aufzusuchen, über die sie eine Reportage plant. Ihre Porträts sind wenig schmeichelhaft; so wie sie den jahrhundertealten Mythos der Stadt entzaubert, entzaubert sie auch die junge Intellektuellenszene im Nachkriegsneapel. Einst engagiert und idealistisch neigten sie, so das harte Urteil der Autorin, nun zu hohlen, unaufrichtigen Posen und fänden keine Sprache mehr, um der Stadt und ihren Bewohnern gerecht zu werden:

Quello che vedevo al mio lato, fra gli altri ragazzi muti, era un piccolo uomo dal viso appassito, dallo sguardo monotono. Uno che non aveva più il coraggio di alzare gli occhi, di riprendere un discorso, di pensare un pensiero chiaro, logico. La città lo aveva distrutto. (…) Tutti erano caduti, qui, quelli che avevano desiderato pensare o agire, tutte le lingue si erano confuse ed erano andate a incrementare la dolorosa vegetazione umana.

Jener, der da neben mir lief, inmitten der anderen stummen Jungen, war ein kleiner Mann mit verwelktem Gesicht, mit eintönigem Blick. Einer, der nicht mehr den Mut aufbrachte, den Blick zu erheben, eine Unterhaltung aufzunehmen, einen klaren, logischen Gedanken zu fassen. Die Stadt hatte ihn zerstört. (..) Alle waren sie hier gefallen, jene, die einmal unbedingt denken oder handeln wollten, alle Sprachen waren verwirrt und dazu übergegangen, die schmerzensreiche menschliche Vegetation sprießen zu lassen.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 168 (Übersetzung der Rezensentin)

Die große Stärke Orteses, die diesen Band trotz all seiner desillusionierenden und schockierenden Elemente so reizvoll macht, sind meiner Ansicht nach ihre Porträts; sie beobachtet ganz genau und findet für die feinsten Charakterzüge eine differenzierte und hochpoetische Sprache, die einem bisweilen Schauer über den Rücken laufen lässt und einen immer wieder staunen lässt.

Als Ferrante-Leserin erkennt man auch einige der Viertel Neapels wieder, in denen Lenùs und Lilas Geschichte spielt, sowie gewisse soziale Strukturen, die sich im Stadtbild abzeichnen. Orteses Neapelbild inspirierte Ferrante, wie sie selber sagt, und auch wenn sie der Schönheit und Lebenslust einen größeren Platz in ihrer großen Neapelsaga einräumt als Ortese in ihren kurzen, auf Desillusion zielenden Texten, so ist doch auch Elena Ferrantes Neapel von einem genauen Blick auf die verschiedenen sozialen Milieus geprägt und alles andere als eine hübsche mediterrane Kulisse.

Questa limpida e dolce bellezza di colline e di cielo, solo in apparenza era idillica e soave. Tutto, qui, sapeva di morte, tutto era profondamente corrotto e morto, e la paura, solo la paura, passeggiava nella folla da Posillipo e Chiaia.

Diese reine und sanfte Schönheit der Hügel und des Himmels war nur dem Schein nach idyllisch und süß. Alles hier wusste vom Tod, alles war zutiefst verdorben und tot, und die Angst, nur die Angst, wanderte in der Menge zwischen Posillipo und Chiaia.

Ortese: Il mare non bagna Napoli, S. 156 (Übersetzung der Rezensentin)

Bibliographische Angaben
Anna Maria Ortese: Il mare non bagna Napoli, Adelphi (1994)
ISBN: 9788845910548

Zur neuen deutschen Übersetzung bei Matthes & Seitz:

Bildquelle
Anna Maria Ortese, Neapel liegt nicht am Meer
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider
© 2019 Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

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