bookmark_borderDorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik

Dass es ein Buch wie Dorothee Elmigers jüngste Schöpfung, Aus der Zuckerfabrik, in die engere Auswahl des Buchpreises geschafft hat, finde ich ebenso bemerkenswert wie entzückend. Denn was uns hier erwartet, ist alles andere als ein klassischer Erzähltext, der uns — ob traditionell oder modern verfremdet — in eine fiktive Geschichte eintauchen lässt. Die junge Schweizer Autorin hat sich, wie sie es uns im Text selbst auf amüsante Weise schildert, erfolgreich dagegen gewehrt, dass ihr Buch auf dem Einband als „Roman“ kategorisiert wird; „Recherchebericht“, wie sie stattdessen etwas provokativ vorschlug, wurde vom Verlag dann nachvollziehbarerweise auch nicht umgesetzt.

Worum geht es denn aber eigentlich in diesem Text, der sich einer gattungsspezifischen Einordnung bewusst entziehen will? Bevor ich auf die Besonderheiten der Form zurückkomme, die der Autorin für ihr Thema oder besser Themenspektrum am geeignetsten schien, zunächst ein paar Zeilen zu den Gegenständen ihres Textes: Man ahnt schon, dass entgegen dem Klang des Titels, der die eine oder andere romantische Assoziation wecken könnte, hier kein Märchen erzählt wird. Wenn wir der Autorin in ihre Zuckerfabrik folgen, erwarten uns keine süßen Fantasiegestalten, sondern die eher bitter schmeckende, ethisch und moralisch komplexe Realität der Geschichte der Zuckerproduktion, deren vielschichtigen Zusammenhängen Dorothee Elmiger auf der Spur ist. So entsteht eine facettenreiche Kulturgeschichte, in der Kolonisierung und Konsum, menschliche Süchte und Sehnsüchte zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Der Zucker ist also ein Motiv oder Ding, ein Rätsel, das immer wieder aufgetaucht ist bei mir in den letzten Jahren.

Dorothee Elmiger, Aus der Zuckerfabrik

Denn das Faszinierende am Thema der Zuckerproduktion, so liest man an derselben Stelle, ist die Verbindung, die sie zwischen „Unbekannte[n] über Zeit und Raum hinweg“ schafft:

Weil ja der Zucker historisch auf den Plantagen produziert und dann in Europa, auch von den europäischen Lohnarbeitern, konsumiert wurde.

Dorothee Elmiger, Aus der Zuckerfabrik

Diese Verbindung von Unbekanntem durch Zeit und Raum beschreibt nicht nur den Textgegenstand, sondern charakterisiert auch recht gut die stilistische Vorgehensweise der Autorin bei der Annäherung an dieses sie umtreibende Thema: Das „Rätsel“ des Zuckers, ja das Mystische an ihm — immerhin erforscht die Autorin intensiv auch das Exzessive, Ekstatische, das dem Konsum und so paradoxerweise auch den ökonomischen Prozessen innewohnt –, bringt auch stilistisch eine bestimmte eigene Form hervor: eine mäandernde, offene Form, die der schillernden Komplexität und Widersprüchlichkeit des Themenspektrums entspricht. Es ist ein offenes Kunstwerk im Sinne von Umberto Eco, das uns die Autorin hier präsentiert, ein work in progress, in dem sie den Prozess der écriture, der Textgenese offenlegt. Das ist essayistisch, das ist experimentell, das ist ironisch — bei Elmiger vor allem selbstironisch — und trägt im gleichen Atemzug auch den Wunsch nach einer Aufrichtigkeit in sich, die sich unablässig im produktiven Widerstreit mit der ausgestellten Subjektivität des Schreibens befindet. So treibt den Text ein suchender Geist voran, der zwar sein Thema, nicht aber sich selbst zu ernst nimmt, der reflektiert ist, rezeptiv und rezipierend. Daher rührt auch die immanente dialogische Struktur, die dem Text zu eigen ist:

— Ist aber die Behauptung falsch, dass du einfach nicht imstande bist, das zu tun, was man gemeinhin unter ‚Erzählen‘ versteht?
— Nein, das ist richtig.
— Was hindert dich daran?
— Na ja, es ist doch ganz einfach so, dass immer alles Mögliche geschieht, während ich an meinem Schreibtisch sitze, […] und das muss dann natürlich alles auch erzählt werden, weil das ja die Bedingungen sind, unter denen der Text entsteht, also die Verhältnisse, in denen ich schreibe. Aber es ist mir eben ganz unmöglich, diese Dinge in ihrer Gleichzeitigkeit in den Text zu bringen.

Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik

Das essayistische Ich befindet sich in einem unaufhörlichen Gespräch: mit sich selbst, mit fiktionalisierten Dialogpartnern, mit der Literaturgeschichte, mit Biographien von Mystikerinnen, Spielern und Kolonialisten. Zitate aus Lexikonartikeln und Fachliteratur finden ebenso Eingang in den Text wie Zeilen aus der Literatur, aus Tagebüchern und Memoiren und bilden zusammen mit den erzählenden und dialogischen Passagen ein buntes, dynamisches Textgewebe.

Aber lauschen wir noch ein wenig dem fingierten Dialog:

— Man könnte auch sagen, das ist eine völlige Überfrachtung, eigentlich eine Zumutung.
— Richtig. Diese Sätze, das muss ich selbst einsehen, werden nie diese Art von reiner, strahlender Klarheit erreichen, die sich aller zusätzlicher, aller verworrener Bedeutungen entledigt hat. Es handelt sich eher um flackernde, schwierige Konstruktionen, denke ich, um dunkle Strudel, in denen sich mit ohrenbetäubendem Lärm alles, also auch alles Periphere, für immer um ein instabiles Zentrum dreht. Und immer wird noch mehr mit hereingerissen.

Dorothee Elmiger, Aus der Zuckerfabrik

Ja, in diesen faszinierenden Strudel zieht es einen, dem Fehlen einer linearen Erzählung zum Trotz, beim Lesen unweigerlich hinein. Aus der Zuckerfabrik ist keinesfalls ein Roman, und wer einen solchen erwartet, wird auf jeden Fall enttäuscht werden. Wer sich aber auf ein essayistisches Abenteuer einlassen mag, der wird spannende Denkanstöße finden. Denn hier wird das traditionell hingenommene Verhältnis von Zentrum und Peripherie aus der Balance gebracht, auch im kolonialen Sinne, auch im Sinne von Machtverhältnissen. Ungewöhnliches findet in neuer Gewichtung zueinander, mentale Distanzen werden überwunden — eine literarische Herausforderung für Querdenker!

Bibliographische Angaben
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik, Hanser 2020
ISBN: 9783446267503

Bildquelle
Dorothee Elmiger, Aus der Zuckerfabrik
© 2020 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderAnne Weber: Annette, ein Heldinnenepos

Idee und Form dieses grandiosen Werks aus der Feder der seit langem in Frankreich lebenden Übersetzerin und Romanautorin — und nun sogar Versepikerin! — Anne Weber sind aus einer zufälligen Begegnung mit der von ihr besungenen Heldin entstanden: der 1923 in einem kleinen Fischerdorf in der Bretagne geborenen und heute 97-jährigen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir, Spitzname Annette. Mit ihr kam die Autorin in Frankreich bei einer Veranstaltung ins Gespräch, und aus der Faszination heraus, in unserer heutigen Zeit tatsächlich noch einer echten Heldin begegnet zu sein, ging dann, so die Autorin, dieser ungewöhnliche Text hervor, der seinerseits tatsächlich noch die Gestalt eines echten Versepos in unsere heutige Zeit transportiert — und zwar stilistisch virtuos, ungemein mitreißend und alles andere als verstaubt.

Natürlich variiert und interpretiert Anne Weber diese längst aus der Mode gekommene Gattung auf ihre eigene Weise. Die Tradition, in der sie sich ganz bewusst verortet, um sie dann ebenso bewusst zu transformieren und auf sinnfällige Weise neu zu interpretieren, reicht von der Antike mit Homers Odyssee über die mittelalterlichen Epen bis zur Renaissance, in denen das Genre mit Herrscherlob und Nationalbewusstsein ein letztes Mal zur Blüte kommt, ehe es allmählich von neuen epischen Formen wie dem Roman verdrängt wird. Interessant ist auch, dass für Anne Weber, die die bretonische Herkunft ihrer Heldin durchaus hervorhebt, die wohl doch zu fantastische „matière de Bretagne“ der Artusepen dennoch weniger eine Rolle spielt als die deutlich politischere „chanson de geste“. Vor allem das Rolandslied steht einem hier bei der Lektüre kontrastiv vor Augen, geht es darin doch auch um Widerstand, Verrat und Kameradschaft, gleichwohl die Heldin bei Anne Weber selbst nicht mit Waffen auf offenen Schlachtfeldern kämpft, sondern im Untergrund, und gleichwohl sie nicht für einen König oder eine bestimmte Nation ihr Leben aufs Spiel setzt, sondern eher für eine Idee, die universale und doch alles andere als abstrakte Idee der Humanität, die für sie im menschlichen Einzelfall, als religionsunabhängige Form der Nächstenliebe, jedesmal aufs Neue individuelle Gestalt annimmt. Anne Beaumanoir handelt stärker noch als ihr freilich auch charakterlich heldenhafter epischer Vorgänger Roland aus einer inneren ethischen Überzeugung heraus, und vor allem besteht ihr Heldentum gerade nicht im Sichtbarwerden ihrer Taten, sondern in ihrem unaufhörlichen, unsichtbaren, selbstlosen Wirken im Geheimen, darin, unerkannt, ja anonym zu bleiben und ganz hinter der Sache, dem Dienst an der Menschheit und Menschlichkeit, zu verschwinden. Im Unterschied zu den traditionellen Epen gewinnt Anne Webers Heldin mit den vielen, immer wieder wechselnden Namen ihre Kraft und ihre Besonderheit gerade nicht aus der Ehre des großen Heldennamens.

Denn es geht der Autorin wohl ganz wesentlich auch darum, am Beispiel von Annette und im Kontext ihrer einen Großteil des 20. Jahrhunderts umfassenden Biographie jenseits der berühmten männlichen Heldenfiguren weitere von der Geschichte vergessene Gestalten zu benennen, sie ins Gedächtnis zu rufen, zu ehren, wie z.B. die junge Frau, die Annette beim Verstecken der jüdischen Kinder hilft:

Sie ist es auch, die vorher schon Annette zur
Tarnung die Krankenschwesterkluft besorgte,
eine junge Frau, alleine, ohne Kind noch Mann — eine
von vielen und von viel zu wenigen –, die sofort hilft, wo sie
nur kann, und deren Namen heute alle vergessen haben.

Weber, Annette, ein Heldinnenepos, S. 49

Übrigens kommt der Roland, den es tatsächlich auch in dieser Geschichte gibt — er ist die erste große Liebe Annettes, ihr Kamerad und treuer Mitstreiter — trotz bzw. gerade als Folge seines Mutes bereits vor der Hälfte des Epos um. Seine ebenso mutige Freundin Annette mit den vielen Namen ist es, die überlebt, die weiterkämpft wie eine Heldin, als welche sie sich selbst nie fühlte.

Annette ist auch die moderne und weibliche Variation eines anderen, noch berühmteren epischen Helden:

(…) Und wie Odysseus, dem auf
langer Reise seine Gefährten nacheinander starben, ist sie
von ihrer Herkunft, ihrer Geschichte abgetrennt: Von
denen, die in jenen Tagen ihre Wege kreuzten, kennt
keiner ihren wahren Namen, ihre Vergangenheit —
kaum, dass sie selbst sich ihrer noch erinnert. Sie bewohnt
ihren eigenen Schatten. Und wie Odysseus könnte sie,
gefragt nach ihrem Namen, nicht nur aus List, sondern
wahrheitsgemäß „Ich heiße Niemand“ sagen.

Weber, Annette, ein Heldinnenepos, S. 59

In ihrem Heldinnenepos rückt die Autorin somit einen anderen Aspekt in den Vordergrund: Annettes Heldentum besteht darin, wie aus einer Notwendigkeit heraus selbstlos und im Sinne der Schwächeren zu handeln, Opfer zu bringen, ohne sich als Opfer zu fühlen. Zugleich wird uns in Anne Webers Versen die Ambivalenz des Heldinnenseins vor Augen geführt. Einerseits zeigt sie Annette als starke Heldin, die, während sie handelt, nie in Frage stellt, ob die Sache ihren bedingungslosen Einsatz wert gewesen ist, und genau daraus ihre Kraft entfaltet. Andererseits schreibt die Autorin ihrem vielschichtigen Text den Zweifel, der die Heldin wenn überhaupt erst rückblickend beschlich, von Anfang an mit ein. Sie macht uns Lesern bewusst, dass ihre weibliche Heldin eben auch eine Frau und Mutter ist, die um ihres Einsatzes für die Menschlichkeit willen, ohne zu klagen, als solche vielfach zurücksteckt. So verzichtet sie — und der Verzicht tut ihr weh — auf ihr ungeborenes Kind mit Roland, und als sie Jahre später doch noch Mutter wird, muss sie ihre drei geliebten Kinder, von denen das Jüngste eben erst zur Welt kam, zurücklassen, um dem Gefängnis und dem Land, das in ihr keine Heldin, sondern eine Verbrecherin sieht, zu entfliehen. Sie lebt das Leben einer modernen Frau, einer mutigen Frau, die ihrer Zeit voraus ist, was auch im Privaten zu Konflikten führt, etwa wenn sie in ihrem algerischen Exil einen höheren Posten innehat als ihr algerischer Geliebter. Gerade weil sie eine Frau ist, die mit den tradierten Zuschreibungen bricht und sie in Frage stellt, stößt sie sich doch immer wieder an den verfestigten patriarchalischen Strukturen und Oppositionen, wie der von Privatheit und Öffentlichkeit, Gefühl und Stärke. Und doch zeigt die Autorin am Beispiel ihrer Geschichte, dass Mitgefühl und Heldenmut einander nicht ausschließen. Annettes Heldinnentum vereint beides, auch wenn es immer wieder Schmerz und Verzicht bedeutet:

(…) An diesem Tag
retten Roland und Annette ein Kind. Ein
anderes, das ihre, das noch unbewusst im Leib
der Mutter schwimmt, geben sie am selben Tag
verloren. Denn jegliches hat wirklich seine Zeit
das Kinderkriegen und das Widerstehen,
und beides gleichzeitig ist nicht zu haben.

Weber, Annette, ein Heldinnenepos, S. 46

Man muss Anne Webers Epos eigentlich laut lesen, um seine ganze poetische Kraft zu spüren. Die freien Verse strukturieren den Text und verleihen ihm einen ganz eigenen Rhythmus: andächtig und melodisch wie ein alter epischer Gesang, in den sich immer wieder auch die auktoriale Stimme mischt, aber auch mit Brüchen und überraschenden Enjambements, die die Aufmerksamkeit des Lesers wachhalten und ihn bisweilen nachdenklich innehalten lassen.

Berichtet werden die Taten der Heldin, die selbst lieber handelt als über ihre Motivationen zu reflektieren, gleichwohl sie durchaus nach übergreifenden Ideen und Idealen handelt, die man Humanismus, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft oder heute vielleicht Zivilcourage nennen kann. Hier erweist sich die Form des Epos, das von den Taten erzählt und sie zugleich auktorial kommentiert, tatsächlich als passende und erstaunlich zeitgemäße Gattung. Anne Weber liefert die Reflexion immer gleich mit, ja lässt sie kunstvoll den Worten selbst entwachsen, und verleiht ihrem Text auf diese Weise eine große poetische Dichte und essayistische Nachdenklichkeit.

So arbeitet sie, ohne den mutigen und selbstlosen Einsatz so vieler im Untergrund Widerstand Leistender dadurch herabzuwürdigen, auch das Konfliktpotential des kollektiven Widerstands heraus: die Schwierigkeit wenn nicht Unmöglichkeit, im Kampf gegen die Besatzer, gegen Unmenschlichkeit und Gewalt selbst „unschuldig“ zu bleiben, die Gefahr, sich von Ideologien vereinnahmen zu lassen, und die Kehrseite der Unterordnung unter eine Gruppe bzw. einen höheren Zweck. Auch das Thema Religion und Religiosität wird in diesem Kontext von vielen Seiten beleuchtet; Annette erlebt z.B., wie der Islam in den ehemaligen französischen Kolonien ein neuer politischer Faktor wird, oder wie eine algerische Mitgefangene sich zur Ikone des Widerstands stilisieren lässt, und bleibt zwiegespalten, ob hier weibliche Selbstermächtigung am Werke ist oder fragwürdige Propaganda. Sie selbst jedenfalls bleibt lieber im Schutze ihrer vielen Namen, die sich auch als Schutz vor einseitiger Instrumentalisierung erweisen.

Es werden im Laufe der lebendigen Darstellung von Annettes Biographie auch einige bewusst ausgewählte Autoren und Werke zitiert und zu ihrem Handeln in Beziehung gesetzt. Allen voran André Malraux, der selbst im Widerstand tätig war und in seinen Büchern Auflehnung, Revolution und Selbstopfer im existentialistischen Kontext der conditio humana reflektiert. Auch andere Bücher werden aus Annettes fiktivem Bücherregal gezogen, etwa Camus und sein Mensch in der Revolte oder Rousseau. Facettenreich geht es um die Frage nach der Rechtfertigung von Gewalt, dem Übergang von Widerstand in Terrorismus, der Legitimität von Bluttaten im Kampf gegen ein Unterdrückungssystem. Camus‘ Einstellung zum Kolonialismus etwa unterscheidet sich von derjenigen Annettes, gleichwohl ihr Leben in vielerlei Hinsicht mit seiner in der Figur des glücklichen Sisyphus kulminierenden Philosophie übereinstimmt.

(…) Jenseits der Zweifel, die bis ins
Bewusstsein dringen, gibts aber andere, die in weiter
Seelenferne schwimmen. Ist es denn Liebe, die den
Revolutionär macht, ist es Hass? Sind es Ideen oder ist es was
Lebendiges, was den im Innersten erschüttert, der vor
dem Unglücklichen steht, vor dem, der hungert, leidet,
vor dem, der … von einer Bombenexplosion zerfetzte
Beine hat und sterben wird?

Weber, Annette, ein Heldinnenepos, S. 127

Die Autorin verurteilt nicht, sie wirft Fragen auf, die einen langen Nachhall haben, und sie hinterfragt vor allem auch die offiziellen Geschichtsbilder, in denen so manches verzerrt oder verschwiegen wird. Aber nicht in Form einer moralischen Anklage, sondern über poetische Assoziationen, durch die für die Dichterin z.B. die Möglichkeit entsteht, ein Lied von Charles Trenet mit einem Atomtest in der Wüste zu verknüpfen, der viele namenlose Opfer forderte und in der überlieferten Geschichtserzählung kaum auftaucht. Das gilt ganz besonders auch für den Algerienkrieg, der lange Zeit in Frankreich mit der Bezeichnung „Ereignisse“ verharmlost wurde, für all die Seilschaften und vertuschten Verbrechen im Hintergrund des kolonialen Gefüges.

In seiner ehrwürdigen, in Verse gesetzten Form, die zugleich durch moderne Begrifflichkeiten gelockert ist und sich an unserer heutigen Prosa orientiert, adelt der Text den unermüdlichen Einsatz der Heldin, ohne sie zum Idol zu machen. Denn im Vordergrund steht Annettes Menschlichkeit und durch die reflexive Ebene dringen auch ihre Zweifel bis zu uns durch. Dank ihres Gespürs gelingt es der Autorin, die man auf jeden Fall eine Dichterin nennen sollte, diese Balance nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch zu vermitteln. Ein beeindruckendes Werk!

Bibliographische Angaben
Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos, Matthes & Seitz (2020)
ISBN: 9783957578457

Bildquelle
Anne Weber, Annette, ein Heldinnenepos
© 2020 Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

bookmark_borderBov Bjerg: Serpentinen

In leichten Sätzen hat Bov Bjerg einen sehr ernsten Roman geschrieben, in Sätzen, die sich serpentinenhaft assoziativ hin und her winden, die ziemlich wild — für mein ästhetisches Empfinden etwas zu wild und vor allem zu lose — in der Zeit und im Raum umherkreisen und sich immer wieder auch verhängnisvoll wiederholen.

Denn hinter dem an der Oberfläche leichten Stil, hinter den sich spielerisch zugeworfenen Worten von Vater und Sohn, die gemeinsam die Sommerferien in der alten Heimat des Vaters verbringen, lauert die bedrängte Psyche des Vaters, der zugleich der Erzähler ist, lauert der Schmerz des Kindes, das er einmal war, und v.a. die Angst vor sich selbst und davor, dem eigenen Kind den gleichen Schmerz zuzufügen, den einst sein Vater ihm zugefügt hat.

So kämpft er die ganze Zeit, mit sich selbst, mit seinen Erinnerungen und seinen Gedanken; man ist beim Lesen nicht selten schockiert, wie stark die Depression ihn im Griff hat: trotz besseren Wissens, trotz seines Willens, mit der geradezu mythische Dimension annehmenden väterlichen Tradition zu brechen, ja auch trotz der Liebe zu seinem Sohn. Er kämpft, bis auf dem Höhepunkt der Geschichte etwas Schlimmes passiert, nicht das Schlimmste, wie sich dann herausstellt, und doch wird das Schlimmste hier zumindest für einen Moment Wirklichkeit.

Aber eine Depression lässt sich eher nicht durch einen Schock ein für allemal heilen. Ebenso wenig wie die fortschreitende Demenz der Mutter, die zusätzlich auf dem Erzähler lastet. Eine Depression ist zwar kein unausweichliches mythisches Erbe, doch eine auch genetisch vererbbare Krankheit, die den Betroffenen und genauso auch die ihm Nahestehenden immer wieder von Neuem herausfordert. Eher noch lassen einen daher die kleinen überraschenden Momente, die der Erzähler trotz allem mit seinem kleinen Sohn ganz bewusst erlebt und die anders sind als seine Erfahrungen mit dem eigenen Vater, ein wenig hoffen, dass der selbstmörderische Kreislauf, der seine Familie seit ewigen Zeiten verschlingt, vielleicht doch irgendwann beendet werden kann.

Berührend finde ich vor allem, wie Bjerg den siebenjährigen Sohn darstellt, der nur „der Junge“ genannt wird, wie er ihn in die Geschichte integriert, die ansonsten natürlich stark von der Gedankenwelt des Vaters vereinnahmt wird, und wie er ihn in knappen, aber fein gezeichneten Situationen charakterisiert: als empathischen, aufgeschlossenen, offenherzigen, seinen Vater vorbehaltlos liebenden Jungen, der oft erwachsener wirkt als der Vater und doch zugleich noch ein schutzbedürftiges Kind ist, das einen Vater braucht, der es im entscheidenden Moment auffangen kann.

Serpentinen ist ein insgesamt ziemlich düsterer Text, der zwar ein authentisches Bild der Krankheit auf literarisch durchdachte Weise vermitteln mag, in mir aber einen allzu destruktiven, letztlich doch in der Ausweglosigkeit verharrenden Eindruck hinterlassen hat. Ich musste beim Lesen einige Male an den Roman von David Wagner denken, in dem er das auf andere Weise nicht weniger schmerzliche Thema eines alzheimerkranken Vaters überzeugend darstellt, dabei aber mit einem so feinen Humor erzählt, dass die Lektüre dadurch keineswegs weniger eindringlich, aber doch erträglicher wird und so bei mir auch einen nachhaltigeren Eindruck hinterlassen hat (vgl. Rezension vom 21.1.2020). Aber natürlich ist die Erzählperspektive eine andere: Wagner erzählt aus der des mit-leidenden Angehörigen, Bjerg vertieft sich unmittelbar in die Psyche des Erkrankten.

Bibliographische Angaben
Bov Bjerg: Serpentinen, Claasen 2020
ISBN: 9783546100038

Bildquelle
Bov Bjerg, Serpentinen
© 2020 Ullstein Buchverlage GmbH

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