bookmark_borderIvy Compton-Burnett: Ein Haus und seine Hüter

Ich muss zugeben, dass ich mit diesem Buch nicht ganz warm geworden bin, wenngleich es in einem bewundernswert stringenten und originellen Ton bis zur letzten Seite durchkomponiert ist. Und wenngleich es mich jetzt, im Nachhinein, noch ganz schön weiter beschäftigt. Das Besondere: Fast der ganze Roman besteht aus Dialogen, er erinnert an ein aus den Fugen geratenes Theaterstück, ja, es scheint in gewisser Lesart wie ein Vorgriff auf etwas, was 20 Jahre später mit dem Theater des Absurden auf die Theaterbühnen kam. Beckett, Ionesco, Genet schrieben ihre Stücke ab den 1950er Jahren, Compton-Burnetts Roman, einer von insgesamt 20 Romanen, die sie im Lauf ihres Lebens verfasste, erschien im Original bereits 1935.

Aber worum geht es eigentlich? Das titelgebende Haus wird gehütet von einer wohlhabenden englischen Familie des späteren 19. Jahrhunderts. Die Handlung setzt am Weihnachtstag im Jahr 1885 ein und obwohl alles durch die radikale Konzentration auf die Dialoge und den Verzicht auf jedes zeithistorische Kolorit sehr zeitlos wirkt, ist die Welt der Figuren durchdrungen von tief verinnerlichten Moral- und Machtvorstellungen, die so auf die Spitze getrieben werden, dass sie, je vehementer die Figuren sie in ihrer Rede verteidigen, in ihrer Instabilität und Absurdität vorgeführt werden. Das Familienoberhaupt Duncan Edgeworth verkörpert in so grotesk-komischer wie grausamer Weise das sich noch immer machtvoll behauptende Patriarchat; die Frauen dominieren zwar im Redeanteil der Handlung, doch ist ihre Existenz deutlich prekärer als die der Männer, gleichwohl auch diese ihr Glück den patriarchalen Gepflogenheiten unterordnen müssen. Nacheinander verschleißt Duncan, der zwei Töchter im heiratsfähigen Alter hat, zwei Ehefrauen, erst die dritte wird ihn endlich überleben. Potentieller männlicher Erbe des Hauses ist zu Beginn Duncans Neffe Grant. Doch dann kommen Kinder auf die Welt, es werden neue Beziehungen geschlossen, gelöst und vor allem endlos besprochen von den Nachbarn und Bekannten, die pausenlos um die Familie herumschwirren und ihnen wortreich und mit viel geheuchelter Anteilnahme, die immer wieder in offene Häme umschlägt, moralische Unterstützung bezeugen.

Die Handlung, die es durchaus in sich hat: Kindsmord, Ehebruch, Erpressung, findet zwischen den Zeilen statt, oftmals auch in Leerstellen zwischen den Kapiteln. Die Theaternähe zeigt sich auch hier: Das Vergehen von Zeit wird nicht erzählt, alles spielt sich in einer kontinuierlichen Gegenwart ab, was eine dramatische Raffung zur Folge hat, in der sich die Ereignisse zu überstürzen scheinen. Da es keinen omnipräsenten Erzähler gibt, wird die Handlung ausschließlich von den Dialogen zusammengehalten, die nicht immer leicht zuzuordnen sind. Das ist auch ein Grund dafür, warum die Lektüre dieses ungewöhnlichen Buches zwar fesselnd, aber auch anstrengend ist. Ein weiterer besteht darin, dass eigentlich keine der Figuren sympathisch ist. Alle haben sie ihre Schwächen, die kühl belächelt, verheimlicht oder entlarvt werden, ohne dass jemals ein Anflug menschlicher Wärme zu spüren wäre.

Ein weiteres Merkmal der Dialoge ist ihre ausgestellte Oberflächlichkeit. Sie wirken banal und eitel, sind es im Zusammenspiel des Textes jedoch ganz und gar nicht. Vielmehr hat die Autorin sie so geschliffen und poliert, dass jede verbale Spitze, jede kleinste Übertretung laufend für Erschütterungen sorgt. Die Figuren sprechen Dinge aus, die man sich eigentlich nur im Stillen denken würde, und verpacken noch die größte Unverschämtheit in eine konventionelle, höfliche Ausdrucksweise. Ständig reden die Figuren aneinander vorbei, ob sie sich unbewusst oder absichtlich missverstehen, ist oft nicht zu unterscheiden, ebenso wenig, ob eine Aussage zynisch ist oder einfach nur schrecklich naiv. Diese Dialogtechnik, die die Autorin wirklich ziemlich genial bis zum Ende durchzieht, bewegt sich nah am Absurden und hat einige Ähnlichkeit mit den sprachlichen Mitteln, die von Beckett und Ionesco in ihren Stücken eingesetzt werden. Gesalbte Worte und höfliche Floskeln werden durch allzu direktes Nachfragen als hohle Phrasen entlarvt, Konventionen, wie etwa das Weihnachtsfest gleich zu Beginn des Romans, werden dialogreich in ihre Bestandteile zerlegt, sie werden verdinglicht, als leere Symbolik entzaubert, so dass ihre äußeren, heiligen Hüllen offen zu Tage liegen. Wie in den Stücken Genets dient die Absurdität der Rede auch dazu, Hierarchien und Machtverhältnisse zum Einsturz oder zumindest ins Wanken zu bringen. Hierarchien bestehen in Compton-Burnetts Roman zwischen männlichen und weiblichen Figuren, zwischen Familienmitgliedern und Bediensteten, und der pater familias ist wie die Kirche eine Institution, deren Autorität unter der Oberfläche langsam zu zerbröckeln beginnt und daher umso gnadenloser seine Macht ausspielt. Das gelingt ihm bis zu einem gewissen Grad, denn obwohl er nicht vor Lächerlichkeit gefeit ist, obwohl er immer wieder mit spöttischen Worten angegriffen wird, kann er doch nicht wirklich vom Sockel gestürzt werden. Der Schein ist wichtiger als das Sein, die Ehre des Hauses wichtiger als das Glück seiner Hüter, die allesamt Rollen spielen, in denen sie sich eigentlich überhaupt nicht zu Hause fühlen.

„Es ist schwer, in einer Familie vernünftig miteinander zu reden.“, heißt es an einer Stelle. Ein Haus und seine Hüter ist als Klassiker der britischen Literatur und als Text einer für die damalige Zeit unkonventionellen Autorin — Compton-Burnett wurde 1884 als eines von 12 Kindern in Middlesex geboren, schrieb zahlreiche Romane, wurde in den Adelsstand erhoben und lebte bis zu ihrem Tod 1969 in verschiedenen gleichgeschlechtlichen Beziehungen –, zu Recht und von Gregor Hens mit überzeugender stilistischer Verve ins Deutsche übersetzt worden. „Lustig“ und „vergnüglich“, wie der Roman in manchen Kritiken genannt wird, würde ich ihn jedoch nicht nennen. Immer wieder komisch, das ja, und immer wieder auch schockierend, provozierend, und letztlich auch sehr traurig.

Bibliographische Angaben
Ivy Compton-Burnett: Ein Haus und seine Hüter [engl. A House and Its Head, 1885], Die Andere Bibliothek 2024
Aus dem Englischen von Gregor Hens
ISBN: 9783847704690

Bildquelle
Ivy Compton-Burnett, Ein Haus und seine Hüter
© 2025 Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderOlga Grjasnowa: Der verlorene Sohn

Der verlorene Sohn ist ein eher schmales Buch, das aber in einer wie von selbst dahinfließenden Sprache wahrhaft ein ganzes Menschenleben hervorzaubert: ein Leben, hin und her katapultiert zwischen zwei Welten, die mehr vielleicht als durch Tradition, Kultur und Glauben durch die Gewalt des Krieges gänzlich unvereinbar scheinen, ein Leben, das allen Fremdbestimmungen zum Trotz mit Mut und Hoffnung gestaltet wird, ein Leben, das dann auch wirklich die aufregendsten Wendungen nimmt und doch so unendlich traurig endet…

Jamalludin ist der Sohn des Imams Schamil, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Nordkaukasus sein kleines Reich gegen die Übermacht der Russen verteidigt. Als sein muslimisches Volk der Belagerung angesichts des Hungers und der vielen Toten in diesem ungleichen Kampf gegen die russische Armee nicht mehr länger standhalten kann, sieht Schamil sich gezwungen, für Waffenstillstandsverhandlungen seinen ältesten und doch noch so jungen Sohn Jamalludin den Russen als Pfand anzuvertrauen. Doch anders als versprochen wird Jamalludin nach den dreitägigen Verhandlungen nicht wieder freigelassen, sondern nach Sankt Petersburg zum Zaren gebracht, der fortan über den weiteren Lebensweg des potentiellen Nachfolgers an der Spitze dieses kleinen kaukasischen Volkes entscheidet.

Die Ängste und Herausforderungen, die seit seinem Abschied von der geliebten und vertrauten Familie über den Jungen hereinbrechen, der — und das durchzieht wie eine leitmotivische Grundspannung die ganze Handlung — so völlig der Willkür der anderen ausgeliefert ist, am Anfang nicht einmal die Sprache versteht, geschweige denn die Umgangsformen der höheren russischen Gesellschaft kennt, in die er nun Schritt für Schritt eingeführt wird, schildert Olga Grjasnowa auf sehr einfühlsame und zugleich reflektierte Weise. Nie klingt ihr Stil lamentierend oder gefühlsduselig, und doch führt sie den Leser ganz nah an die Gefühle, das Innenleben des Protagonisten heran, an seinen Schmerz über die Trennung von der Familie, seine Sehnsucht nach Zugehörigkeit, seine Einsamkeit inmitten der geselligen Kameraden.

In eindrücklichen Szenen, die mitunter an die großen russischen und französischen Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts erinnern, deren Lektüre auch für den Protagonisten prägend ist, erzählt die Autorin von den Begegnungen, Beobachtungen und Erfahrungen, die Jamalludin mit der ihn umgebenden Außenwelt macht, von seinen unermüdlichen Anstrengungen, sich immer wieder in eine neue Umgebung einzufügen, ohne dabei seine Herkunft zu verleugnen, sich als Heranwachsender eine eigene Persönlichkeit zu formen, sich zu bilden, ein Leben zu leben, und ja, ganz behutsam auch eine Liebe, zu einer Frau, die ihrerseits gegen ganz andere gesellschaftliche Vorurteile kämpft.

Dieser kulturelle und existentielle Spagat erweist sich jedoch als eine schier übermenschliche Aufgabe, hat Jamalludin doch in Russland, protegiert vom Zaren, dessen strategische Absichten ihm nie offen gelegt werden, keinerlei Kontakt mehr zu seiner Familie. Die Briefe, die er an den Vater schreibt, bleiben jahrelang unbeantwortet, die Sprachen, die er nun fließend spricht, sind andere als die immer mehr ins Vergessen rückende Muttersprache des Awarischen. Er reift zum jungen, gebildeten Mann heran, bewegt sich in adligen Kreisen und blickt schließlich als russischer Offizier einer möglichen Konfrontation mit den Kriegern seines Vaters entgegen, der sich weiterhin gegen die Russen zur Wehr setzt. Doch bevor es soweit kommt, ändert sich wieder einmal der Lauf der Geschichte, und der verlorene Sohn muss erneut von heute auf morgen das Leben, das er sich aufgebaut hat, im Stich lassen und kehrt, wiederum als Tauschobjekt im nicht enden wollenden Krieg, zurück zu seinem Vater, zurück in seine Heimat, in der er misstrauisch beäugt wird und sich nach all den Jahren in der Ferne von Neuem als Fremder fühlt…

Der verlorene Sohn, der vor dem Hintergrund des Krimkriegs und der kriegerischen Auseinandersetzungen Russlands mit den Völkern im Kaukasus angesiedelt ist, den Tscherkessen, Georgiern, Tschetschenen, ist ein historischer Roman in dem Sinne, dass hier ein menschliches Schicksal nicht etwa vor einer bloß historisierenden Kostümkulisse, sondern wirklich im direkten Zusammenhang mit der geschichtlichen Realität des 19. Jahrhunderts erzählt wird. Und diese historische Wirklichkeit erscheint in einem ganz klar literarisierten Gewande, in der Form eines poetischen Realismus, der, ausgehend von einer anschaulich und mitreißend geschilderten fiktiven Lebensgeschichte, ein zeitenthobenes menschliches Schicksal entwirft: das Schicksal eines Menschen, der seine Individualität unablässig gegen die Macht der Geschichte aushandeln muss und dessen verzweifelte Suche nach Autonomie, nach Identität und Zugehörigkeit in dieser Welt nie an ihr Ende gelangt.

Ein schönes, ein melancholisches und ein tieftrauriges Buch, das eine Versöhnung, eine Verständigung zwischen den Kulturen als durchaus menschenmögliche Utopie in den Raum stellt.

Bibliographische Angaben
Olga Grjasnowa: Der verlorene Sohn, Aufbau Verlag (2020)
ISBN: 9783351037833

Bildquelle
Olga Grjasnow, Der verlorene Sohn
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderJess Kidd: Die Ewigkeit in einem Glas

Ein ganz außergewöhnlicher Kriminalroman mit einer überraschenden und komplexen Handlung, eigenwilligen Charakteren und einem erfrischend „anderen“ Stil, der die Genregrenzen überschreitet und einen durchgehend in Atem hält. Man rätselt und staunt, welche sinnlichen und übersinnlichen Richtungen die Handlung alles beschreitet, die für ihre Leser vom Schaudern bis zum Schmunzeln die ganze Palette der Faszination des Kuriosen bereithält, mit dem sich der Roman im Übrigen auch inhaltlich auf spannende Weise auseinandersetzt.

Ausgangspunkt der Handlung ist eine Kindesentführung: Ein kleines Mädchen verschwindet über Nacht zusammen mit ihrem Kindermädchen vom Schloss des vermeintlichen Vaters, einem unermüdlichen Sammler und Erforscher des Meeres und seiner Geschöpfe. Und dieser Raub gibt Anlass zu verschlungenen Ermittlungen, die in immer finsterere Gefilde und Winkel gesellschaftlicher und menschlicher Abseitigkeit führen, dabei auch immer tiefer in die Vergangenheit reichen und vor allem die Rationalität und den Wirklichkeitssinn couragierter Detektivarbeit zunehmend auf die Probe stellen. Denn je weiter die Recherchen fortschreiten, desto merkwürdiger und suspekter wird die ganze Geschichte. Um das entführte Mädchen ranken sich immer abwegigere Mythen, die sich jedoch durch so manch unheimliches Indiz zu bestätigen scheinen. Immer tiefer blickt man in dämonische Abgründe, immer weniger ist allen Beteiligten zu trauen. So erfährt man, dass fast niemand das Mädchen tatsächlich zu Gesicht bekommen hat, da der Schlossherr es vor neugierigen Blicken schützen wollte — oder war es zum Schutz seiner eigenen Experimente? Das Bild eines mythischen Meer- oder Fischmädchens drängt sich mit irritierender Intensität in die Vorstellung der Ermittler sowie der Leser, doch wohnt das aus der Naturgewalt des Wassers schöpfende Raubtierhafte und Bedrohliche tatsächlich in der Gestalt des sonderbaren Mädchens, oder vielleicht mehr noch in der Gier und der Schaulust der Menschen oder auch in der gefährlichen Dynamik von elenden sozialen Verhältnissen und entarteten Rachebedürfnissen verlorener Seelen…?

Die Erzählung spielt virtuos mit diesem Spannungsfeld von Mythos, Märchen und Übersinnlichkeit einerseits und Sozialrealismus, Forschergeist und Naturwissenschaft andererseits. In den mythische Bilder heraufbeschwörenden Kuriositätenkabinetten und die Exotik ihrer Darbietungen anpreisenden Zirkusattraktionen treffen diese Sphären aufeinander, deren Verwobensein als ambivalenter Kern des Romans auszumachen ist.

Trotz des Entsetzens über die menschlichen Abgründe, die übrigens mehr poetisch-suggestiv als reißerisch und gerade dadurch sehr eindringlich erzählt werden, leuchten doch immer wieder auch Empathie und Barmherzigkeit auf, sowie ein schwarzer Humor, mit dem die Autorin auch durchaus amüsiert und mitfühlend auf die Figuren blickt. Und dann ist da noch die starke und eigensinnige Ermittlerin, die eigentliche Hauptfigur des Romans, die in ihrer Fülligkeit attraktive, Tabak rauchende und rothaarige Bridie Devine, die im 19. Jahrhundert, in dem der Roman spielt, eine ebenso faszinierende wie provozierende Figur darstellt.

Ebenso eigenwillig wie die Ermittlerin ist auch der ganz eigene, lebhafte und zwischen Suggestion, Realismus und pointierter Direktheit, zwischen Innenschau und Distanz changierende Stil, der mit frechen Dialogen aufwartet und sich jenseits aller heute gängigen Krimiklischees befindet. Dafür knüpft er an eine viel frühere Tradition an, an die des viktorianischen Schauerromans und der mysteriösen und fantastischen Literatur des 19. Jh., wie man sie etwa bei E. A. Poe vorfindet.

Synästhetische Elemente verbinden sich mit mysteriösen und übersinnlichen und verleihen dem Realismus eine nicht endgültig von diesem zu trennende surrealistische Komponente, wie es nur die polyvalente Literatur vermag. So taucht etwa als ständiger mokanter und doch treuer Begleiter der durchscheinende Geist des verstorbenen Boxers Ruby auf, den nur Bridie sehen kann und mit dem sie ein einschneidendes Erlebnis ihrer frühen Kindheit verbindet, an das sie sich jedoch erst ganz am Ende der Geschichte erinnern wird. Der Kriminalfall dient somit auch der Aufarbeitung der persönlichen Vergangenheit der Ermittlerin, die selbst als Waisenkind bei verschiedenen, mehr oder weniger zuverlässigen Mentoren aufwuchs, früh ein auffälliges Interesse für medizinische Eingriffe zeigte und sich auch als Erwachsene nicht einschüchtern lässt von den gesellschaftlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts, die eine weibliche Frau als Ärztin oder Pathologin ebenso verpönen wie eine weibliche Detektivin, sondern in immer wieder angestrengten, mutigen und erfindungsreichen Akten der Selbstbehauptung — von Travestie übers Pfeiferauchen bis zur angemaßten Witwenhaube — den Weg zu gehen versteht, den sie auch ethisch-moralisch als richtig erkennt.

Bibliographische Angaben
Jess Kidd: Die Ewigkeit in einem Glas, DuMont 2019
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
ISBN: 9783832181055

Bildquelle
Jess Kidd, Die Ewigkeit in einem Glas
© 2019 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Köln

bookmark_borderHenrik Wergeland: Im wilden Paradies

Im Werk Henrik Wergelands (1808-1848) ist die Romantik wahrhaft eins mit der Moderne — das geht aus der schönen Auswahl der bei Wallstein erschienenen und von Heinrich Detering ins Deutsche übertragenen Texte des norwegischen Nationaldichters ganz deutlich hervor: Mal pointiert, mal nachdenklich, mal satirisch, mal introspektiv, zeugen sie von einer großen stilistischen Experimentierfreude und bringen eine Freiheit und Vielfalt der Form zum Ausdruck, die von streng komponierten Oden über Naturgedichte in freien Versen bis zum Prosagedicht reicht. Einiges erinnert an Baudelaire, etwa die ungewöhnliche Darstellung des Wahnsinns einer unmöglichen Liebe in der „Romanze des Schneeglöckchens“ oder die erotisch-hymnische Reflexion über einen Totenschädel, die im Lobpreis des knöchernen Skeletts mündet, von dessen „herrliche[r] Konstruktion aus Schönheitslinien, die nun ewig sind wie der Marmor“:

Welch fein geformte Hirnschale, die fortgerollt ist unters Laub! Sie muss einer jungen Schönheit gehört haben. (…) Wie töricht, die samtenen Rosenwangen der Geliebten zu besingen (…). Geh in das Wesen der Dinge! Fühl die Entzückung, Sterblicher, im Umarmen dieser Wirbelsäule: noch zierlicher ist sie als die Schlankheit der Jungfrau!

Auszug aus: Der Totenschädel, in der Übersetzung von H. Detering, S. 146-149

Einheit von Romantik und Moderne ist in Wergelands Biographie und Werk auch in dem Sinne zu verstehen, dass der Dichter sich sein Leben lang für einen noch im Entstehen befindlichen Nationalstaat Norwegen — das sich 1814 von Dänemark löste, die Unabhängigkeit von Schweden jedoch erst 1905 erreichte — einsetzte. Er kämpfte für ein demokratisches Heimatland, für die Gleichberechtigung der Juden, und er nutzte dafür auch intensiv den Journalismus, das aufstrebende Medium dieser Zeit. Auch in einige Gedichte hat die journalistische Meinungsäußerung Eingang gefunden, in denen er so manche dichtungstheoretische oder politische Debatten austrug.

Die zweisprachige Ausgabe ist mit knappen, aber sehr hilfreichen Kommentaren zu den einzelnen Texten im Anhang sowie mit einem Vorwort des Übersetzers versehen, das ich für sehr wertvoll halte, da es in den historischen und literarischen Entstehungskontext des Werks eines Autors einführt, der in Deutschland dem breiten Publikum weitgehend unbekannt sein dürfte. Auch mir als Literaturwissenschaftlerin und Lyrikliebhaberin, die Baudelaire, Heine, Ibsen, Rilke — all die Schriftsteller, die H. Detering in seinem Vorwort mit Wergeland in eine literarische Beziehung setzt — verehrt, war der Norweger Henrik Wergeland zuvor kein Begriff, zum Glück hat sich das jetzt geändert. Übrigens finde ich, dass das Nebeneinander von norwegischem Original und deutscher Übertragung, für die sich die Herausgeber entschieden haben, ein großer Gewinn auch für einen des Norwegischen unkundigen Leser ist; denn hat man sich einmal inhaltlich mit der wirklich schön zu lesenden und bis ins Detail durchdachten deutschen Übersetzung vertraut gemacht, erschließt sich einem darüber hinaus so manches im norwegischen Text einfach durch seinen poetischen Klang, der gerade bei Lyrik ja ein unverzichtbares Sinnelement ist.

Henrik Wergeland: Im wilden Paradies – Gedichte und Prosa
Aus dem Norwegischen übertragen, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Heinrich Detering
Wallstein (2019)
ISBN 9783835334984

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