bookmark_borderSasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

Dass Komik von den Herrschenden am meisten gefürchtet wird und Literatur durchaus eine Waffe sein kann, darum hat Umberto Eco in Der Name der Rose eine vielsinnige Geschichte gesponnen. Sasha Filipenko, belarussischer Autor von im Vergleich zu Eco wesentlich kürzeren Romanen führt uns in Der ehemalige Sohn, der im russischen Original schon 2014 erschien, vor Augen, dass Komik und Satire in einem autoritären System vielleicht das letzte Instrument diesseits der Gewalt darstellen, um Protest auszudrücken. Oder es zumindest zu versuchen.

Die Mündlichkeit des Stils fällt einem als allererstes auf, wenn man in die in lockerem, oft spöttischem, ironischem Ton erzählte Geschichte des jungen Franzisk aus dem belarussischen Minsk eintaucht, der 1999 als eines der vielen Opfer einer Massenpanik bei einer städtischen Freizeitveranstaltung ins Koma fällt und erst zehn Jahre später wieder erwacht. Fast der ganze Text besteht aus Gesprächen, aus Monologen und Dialogen, wobei ersteren immer auch eine Dialogizität in dem Sinne innewohnt, wie sie Bachtin für die Romane Dostojewksis festgestellt hat, so dass man sich als Leser auch in den vermeintlichen Selbstgesprächen indirekt stark angesprochen oder herausgefordert fühlt. Umkehrt werden auch die Dialoge oft mit nicht gänzlich präsenten Gestalten geführt, mit Bewusstlosen, unter der Erde Begrabenen; das Motiv des Komas erstreckt sich gewissermaßen auf den ganzen Roman, eine Metapher auch für ein im autoritären Stillstand begriffenes Land. Es wird an Nebentischen gelauscht, es werden Witze gerissen, der Humor ist meistens ein eher schwarzer und vor allem sind Witz und Wirklichkeit oft gar nicht klar voneinander zu unterscheiden. Man merkt dem Roman an, dass sein Autor selbst Satiriker ist, übrigens auch Moderator und Journalist, jemand, der das Zeitgeschehen in seiner ganzen Absurdität intensiv wahrnimmt und, mit nicht zu unterschätzenden literarischen Mitteln, kritisiert.

Deutlich wird auf diese Weise nicht nur die Fassadenhaftigkeit, sondern auch die Unmenschlichkeit eines Systems, das den Einzelnen weder als demokratisches noch überhaupt als ein selbstbestimmtes Subjekt betrachtet. Nachdem Franzisk ins Koma gefallen ist, glaubt seine Babuschka — im Gegensatz zu den Ärzten und auch zum Rest der Familie — als einzige an ihn. Sie zieht mehr oder weniger in sein Krankenzimmer, das sie mit allen Mitteln und Beziehungen, die sie hatte, für ihn durchsetzen konnte, und kümmert sich rührend und energisch um den im Laufe der zehn Jahre trotz seiner Bewegungs- und Rührungslosigkeit allmählich vom Teenager zum Mann reifenden Enkel. Und tatsächlich wacht Franzisk wieder auf, etwa in der Mitte des Buches und genau einen Tag nach dem Tod seiner treuen Babuschka, als hätte er Sorge, ohne seine kämpferische Beschützerin endgültig dem Tod preisgegeben zu werden, wenn er seiner Umwelt jetzt nicht schnell zeigt, dass er noch sehr wohl am Leben ist.

Franzisks Erwachen kommt seiner Mutter, die in der Zwischenzeit den Arzt geehelicht und mit ihm einen weiteren Sohn bekommen hat, auch moralisch eher ungelegen. Und erst recht seinem neuen Stiefvater, der als deutlich opportunistisch bzw. regimetreu und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht gezeichnet wird. Immerhin hat Franzisks hellsichtige Babuschka ein wenig für ihn vorhergeplant, und auch an die Freundschaft mit seinem ehemaligen Schulfreund Stassik kann er zumindest zeitweilig wieder anknüpfen. Allmählich begreift Franzisk, was in den zehn von ihm „verschlafenen“ Jahren alles passiert bzw. gerade nicht passiert ist. Schritt für Schritt eröffnet sich ihm bei seinen Gängen durch die Stadt die ganze Absurdität des Stillstands in seinem Land. Trotzdem ist in ihm ein Gefühl der Hoffnung, des Veränderungswillens, das ihn auch an einer Massendemonstration teilnehmen lässt. Man glaubt einen Moment an eine positive, politische Wendung der Massenpanik, die ihn zehn Jahre zuvor ins Koma gebracht hatte, an literarische Gerechtigkeit; doch das Ende des Romans ist nicht utopisch, sondern düster realistisch.

Bibliographische Angaben
Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn, Diogenes 2021
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
ISBN: 9783257071566

Bildquelle
Sasha Filipenko, Der ehemalige Sohn
© 2024 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderJess Kidd: Die Ewigkeit in einem Glas

Ein ganz außergewöhnlicher Kriminalroman mit einer überraschenden und komplexen Handlung, eigenwilligen Charakteren und einem erfrischend „anderen“ Stil, der die Genregrenzen überschreitet und einen durchgehend in Atem hält. Man rätselt und staunt, welche sinnlichen und übersinnlichen Richtungen die Handlung alles beschreitet, die für ihre Leser vom Schaudern bis zum Schmunzeln die ganze Palette der Faszination des Kuriosen bereithält, mit dem sich der Roman im Übrigen auch inhaltlich auf spannende Weise auseinandersetzt.

Ausgangspunkt der Handlung ist eine Kindesentführung: Ein kleines Mädchen verschwindet über Nacht zusammen mit ihrem Kindermädchen vom Schloss des vermeintlichen Vaters, einem unermüdlichen Sammler und Erforscher des Meeres und seiner Geschöpfe. Und dieser Raub gibt Anlass zu verschlungenen Ermittlungen, die in immer finsterere Gefilde und Winkel gesellschaftlicher und menschlicher Abseitigkeit führen, dabei auch immer tiefer in die Vergangenheit reichen und vor allem die Rationalität und den Wirklichkeitssinn couragierter Detektivarbeit zunehmend auf die Probe stellen. Denn je weiter die Recherchen fortschreiten, desto merkwürdiger und suspekter wird die ganze Geschichte. Um das entführte Mädchen ranken sich immer abwegigere Mythen, die sich jedoch durch so manch unheimliches Indiz zu bestätigen scheinen. Immer tiefer blickt man in dämonische Abgründe, immer weniger ist allen Beteiligten zu trauen. So erfährt man, dass fast niemand das Mädchen tatsächlich zu Gesicht bekommen hat, da der Schlossherr es vor neugierigen Blicken schützen wollte — oder war es zum Schutz seiner eigenen Experimente? Das Bild eines mythischen Meer- oder Fischmädchens drängt sich mit irritierender Intensität in die Vorstellung der Ermittler sowie der Leser, doch wohnt das aus der Naturgewalt des Wassers schöpfende Raubtierhafte und Bedrohliche tatsächlich in der Gestalt des sonderbaren Mädchens, oder vielleicht mehr noch in der Gier und der Schaulust der Menschen oder auch in der gefährlichen Dynamik von elenden sozialen Verhältnissen und entarteten Rachebedürfnissen verlorener Seelen…?

Die Erzählung spielt virtuos mit diesem Spannungsfeld von Mythos, Märchen und Übersinnlichkeit einerseits und Sozialrealismus, Forschergeist und Naturwissenschaft andererseits. In den mythische Bilder heraufbeschwörenden Kuriositätenkabinetten und die Exotik ihrer Darbietungen anpreisenden Zirkusattraktionen treffen diese Sphären aufeinander, deren Verwobensein als ambivalenter Kern des Romans auszumachen ist.

Trotz des Entsetzens über die menschlichen Abgründe, die übrigens mehr poetisch-suggestiv als reißerisch und gerade dadurch sehr eindringlich erzählt werden, leuchten doch immer wieder auch Empathie und Barmherzigkeit auf, sowie ein schwarzer Humor, mit dem die Autorin auch durchaus amüsiert und mitfühlend auf die Figuren blickt. Und dann ist da noch die starke und eigensinnige Ermittlerin, die eigentliche Hauptfigur des Romans, die in ihrer Fülligkeit attraktive, Tabak rauchende und rothaarige Bridie Devine, die im 19. Jahrhundert, in dem der Roman spielt, eine ebenso faszinierende wie provozierende Figur darstellt.

Ebenso eigenwillig wie die Ermittlerin ist auch der ganz eigene, lebhafte und zwischen Suggestion, Realismus und pointierter Direktheit, zwischen Innenschau und Distanz changierende Stil, der mit frechen Dialogen aufwartet und sich jenseits aller heute gängigen Krimiklischees befindet. Dafür knüpft er an eine viel frühere Tradition an, an die des viktorianischen Schauerromans und der mysteriösen und fantastischen Literatur des 19. Jh., wie man sie etwa bei E. A. Poe vorfindet.

Synästhetische Elemente verbinden sich mit mysteriösen und übersinnlichen und verleihen dem Realismus eine nicht endgültig von diesem zu trennende surrealistische Komponente, wie es nur die polyvalente Literatur vermag. So taucht etwa als ständiger mokanter und doch treuer Begleiter der durchscheinende Geist des verstorbenen Boxers Ruby auf, den nur Bridie sehen kann und mit dem sie ein einschneidendes Erlebnis ihrer frühen Kindheit verbindet, an das sie sich jedoch erst ganz am Ende der Geschichte erinnern wird. Der Kriminalfall dient somit auch der Aufarbeitung der persönlichen Vergangenheit der Ermittlerin, die selbst als Waisenkind bei verschiedenen, mehr oder weniger zuverlässigen Mentoren aufwuchs, früh ein auffälliges Interesse für medizinische Eingriffe zeigte und sich auch als Erwachsene nicht einschüchtern lässt von den gesellschaftlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts, die eine weibliche Frau als Ärztin oder Pathologin ebenso verpönen wie eine weibliche Detektivin, sondern in immer wieder angestrengten, mutigen und erfindungsreichen Akten der Selbstbehauptung — von Travestie übers Pfeiferauchen bis zur angemaßten Witwenhaube — den Weg zu gehen versteht, den sie auch ethisch-moralisch als richtig erkennt.

Bibliographische Angaben
Jess Kidd: Die Ewigkeit in einem Glas, DuMont 2019
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
ISBN: 9783832181055

Bildquelle
Jess Kidd, Die Ewigkeit in einem Glas
© 2019 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Köln

bookmark_borderGereon Krantz: Unter pechschwarzen Sternen

Gereon Krantz‘ in Berlin spielender schwarzhumoriger Kriminalroman ist das Gegenteil etwa eines „Allmen“-Krimis von Martin Suter. Schamlos, derb, dick aufgetragen steht Krantz‘ Stil ganz im Zeichen umgangssprachlicher Überfülle, die ziemlich ätzend und immer wieder auch ziemlich witzig ist. Schockierende Gewaltverbrechen eines Serienmörders werden so durch Übersteigerung und absichtlich unpassende Kontraste — allen voran die Ausfälligkeiten und Krisen des männlichen Ermittlerparts, Thomas Harder — weggelacht, ohne verharmlost zu werden.

Harder steht auch im Zentrum der Geschichte und läuft mit seiner mehr als verhaltensauffälligen, ins psychologische Extrem gesteigerten Persönlichkeit dem eigentlichen Kriminalfall fast den Rang ab. Er ist selbst ein Grenzgänger des Todes, der bezeichnenderweise bei einer um Haaresbreite tödlich endenden Partie russischen Roulettes in die Geschichte eingeführt wird. Nicht nur zwielichtige Gangster aus der mafiösen Halbwelt verfolgen Harder, sondern auch fast noch bedrohlichere seelische Dämonen, deren Vorgeschichte in diesem ersten Harder-Krimi jedoch nur angedeutet wird. In der Folge einer wohl aus dem Ruder gelaufenen früheren Ermittlung steht er mit dem Staatsanwalt auf Kriegsfuß und überhaupt im Polizeidienst auf Abruf, was ihn aber keinesfalls dazu verleitet, irgendwelchen Autoritäten unterwürfig zu begegnen, im Gegenteil. Nur sein Wille zur Verbrechensaufklärung, seine Wut auf den mädchenmordenden Psychopathen leiten ihn und sorgen dafür, dass sein Überlebenstrieb die Oberhand gegenüber seinen Todessehnsüchten behalten kann.

Seine Methoden sind dabei natürlich durch und durch unkonventionell, womit er seine junge neue Kollegin und Vorgesetzte, Vogt, eine sehr korrekte, kontrollierte und zudem kampfsporterprobte Veganerin, die den neuesten Profilingansätzen der Kriminalpsychologie gegenüber aufgeschlossen ist, immer wieder vor den Kopf stößt. Aus dem konfliktreichen Antagonismus der beiden Ermittler ergibt sich auch wesentlich die Dynamik der Erzählung, die zwar nicht völlig überraschend ist, aber auf ihre Weise doch ziemlich spannend und witzig: nicht für jeden Geschmack, aber auf jeden Fall ein gefundenes Fressen für alle, die der Krimisucht anheimgefallen sind!

Bibliographische Angaben
Gereon Krantz: Unter pechschwarzen Sternen, Pro Talk (2017)
ISBN: 9783939990444

Bildquelle
Gereon Krantz: Unter pechschwarzen Sternen
© 2017 ProTalk Verlags GmbH

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