Dass der Tod eines Elternteils die familiäre Vergangenheit reflektieren und ehemals Unbegriffenes, nicht in Begriffe Gefasstes, an die Textoberfläche holt, ist kein neues, aber ein immer noch stark wirkendes literarisches Motiv. In Dana von Suffrins so schmerzhaftem wie schwarzhumorigem Roman Nochmal von vorne löst der Tod des Vaters von Rosa in der Erzählerin und Tochter einen wahrhaften Erinnerungsstrom aus, der in langen Satzkaskaden ein interessantes Textgebilde entstehen lässt.
Der Roman gleicht einer Familienaufstellung. In überraschend lockerem Ton, der wie ein transparentes Tuch über eine nicht wirklich unterdrückte Emotionalität geworfen wird, taucht er ein in die vielschichtige Psychologie eines familiären Beziehungsgeflechts. Die Haltung der Erzählerin bewegt sich dabei auf einem feinen, nie ganz ausgependelten Grat zwischen Nähe und Distanz, zwischen Lachen und Weinen, Spott und Getroffensein. Hinter den wechselnden Tonlagen von grotesk, traurig, berührend, hoffnungsvoll, bedauernd verbirgt sich, so merkt man es beim Lesen, ein kaum eingestandenes Bedürfnis nach Liebe und Verbundenheit. Die Geschichte der israelisch-deutsch-jüdischen Familie, in der Rosa aufgewachsen ist, ist eine Geschichte der sich immer wieder in Streitereien Luft machenden Lebensenttäuschungen. Ihre Mutter hatte für ihre Familie einst ihre geisteswissenschaftliche Laufbahn abgebrochen, ihr Vater ging einer seiner wissenschaftlichen Ausbildung in Israel nicht gerecht werdenden Tätigkeit als Laborchemiker nach, Geldsorgen nagten an ihm. Es ist auch eine Geschichte des Verlassens, des Kontaktabbruchs, des Verschwindens, die Mutter verlässt gleich zweimal die Familie, erst ihre Herkunftsfamilie, später die, die sie mit ihrem Mann Mordechai gegründet hat. Und ihr gleich tut es ihre Tochter Nadja, Rosas Schwester, die als Teenagerin rebelliert, weil sie es zuhause nicht mehr aushalten mag. Rosa, die Erzählerin, scheint in ihrer selbstkritisch eingestandenen Harmoniesucht die einzige in der Familie zu sein, die nicht von ihr loskommt, die es nicht übers Herz bringt, den Vater im Stich zu lassen, die trotz allen Spotts und aller (Selbst-)Ironie von einer tiefen Sehnsucht nach Zusammenhalt in der Familie getragen wird, darunter leidet und alle Schattierungen von Hoffnung, Frust, Wut, Trauer durchlebt.
In Dana von Suffrins jüdisch-deutscher Familiengeschichte ist die mit dem Klischee brechende Meta-Ebene in die Geschichte selbst mit eingebaut. Gerade der offene Einblick in den freilich literarisch überformten individuellen Alltag einer deutsch-jüdischen Familie zeigt jedoch, dass man um das Thema Geschichte kaum herumkommt. Bei Rosas Eltern wird sie sogar nacheinander zentraler Anziehungs- und Konfliktpunkt. Denn wenngleich die Verarbeitung der Vergangenheit für beide eine wichtige Rolle spielt, sind Art und Gegenstand der Verarbeitung doch ziemlich unterschiedlich. Rosas aus katholischem Hause stammende Mutter hat Soziologie und Geschichte studiert, sich in Reibung mit ihrer Herkunftsfamilie intensiv, fast obsessiv mit der nazideutschen Geschichte beschäftigt, mit deren Aufarbeitung sie sich derart identifiziert, dass ihre eigene Eheschließung mit einem israelischen Juden den Anklang eines politischen Projekts bekommt — das in der Praxis des Lebens zum Scheitern verurteilt ist, denn Familie ist alles andere als ein theoretisches Projekt. Rosas Vater hingegen, der selbst in Israel geboren und sozialisiert wurde, hat zwar den von den Eltern geerbten auffälligen Akzent eines Ostjuden, möchte aber nichts lieber, als die aufgewühlte Vergangenheit hinter sich zu lassen, und sehnt sich nach Normalität, nach Anpassung, nach einem geordneten, unaufgeregten Familienleben in München, das ihm nicht wirklich gegönnt ist.
Schließlich wirft der gleichermaßen psychologisch wie geschichtsbewusst angelegte Roman auch noch die Frage auf, inwieweit Familie, und zwischenmenschliche Beziehungen überhaupt, psychologisch erklärt werden kann. Und wie einflussreich bzw. wie begrenzt die Rolle der Geschichte und des gesellschaftlichen Umfelds ist. Struktur konkurriert hier, letztlich unentschieden, mit Psychologie, beiderseits erweisen sie sich als unzureichende Erklärungsmodelle. Welche Ängste, welche Gefühle, welche Traumata sind tradiert, werden intergenerationell weitergegeben? Was sind neue gesellschaftliche Herausforderungen, mit denen individuell umgegangen werden muss? Dass diese Fragen angestoßen werden, aber letztlich offen bleiben, ist die Stärke dieses Familienromans, der vielleicht nur eine Wahrheit über Familie postuliert: dass es extrem schwer ist, von ihr loszukommen.
Bibliographische Angaben
Dana von Suffrin: Nochmal von vorne, Kiepenheuer&Witsch 2024
ISBN: 9783462002973
Bildquelle
Dana von Suffrin, Nochmal von vorne
© 2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln