Nora Bossong: Reichskanzlerplatz

Nora Bossong nähert sich in ihrem Roman einer heute — vielleicht auf Kosten tieferer Einsichten — allgemein dämonisierten historischen Figur, der von ihr mit viel literarischem Gespür fiktionalisierten Magda Goebbels (1901-1945), die im Nationalsozialismus zur Vorzeigemutter des Regimes wurde, dem sie am Ende nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder opferte. Ihre monströse Tat kommt im Roman nicht bzw. nur im Nachwort zur Sprache, es geht der Autorin an keiner Stelle um ein wie auch immer geartetes Faszinosum des Bösen, sondern darum, den psychologischen und historischen Nährboden zu beleuchten, auf dem das Böse schließlich möglich wird.

Da das Erkenntnisinteresse in diesem Roman auf der psychologischen und historischen Entwicklung liegt, nimmt den weit größeren Raum daher die Zeit der 1920er Jahre ein, als Magda Goebbels noch gar nicht Magda Goebbels hieß, sondern unter anderem mit dem Industriellen Günther Quandt verheiratet war. Und sie ist im Übrigen auch nicht einmal die Hauptfigur des zwar historischen, aber eben nicht einschlägig biographischen Romans, sondern eine im Hintergrund freilich omnipräsente Nebenfigur, die manchmal kurz ins Licht der Erzählung tritt, um jedesmal wieder im Schatten des Nicht-Weiter-Erzählten zu verschwinden. Nora Bossong gerät somit nicht in die Gefahr, ihre Figur zu romantisieren, sie löst das ethische Dilemma von literarischer Einfühlung und Distanznahme, indem sie eine andere, fiktive Figur zum Ich-Erzähler macht, dessen Lebensgeschichte mal intensiver, mal flüchtiger mit derjenigen der späteren Magda Goebbels in Berührung tritt: Hans Kesselbach begegnet ihr zum ersten Mal bei den Quandts, als der sehr gebildeten, sehr schönen und sehr jungen Stiefmutter seines Mitschülers Hellmut Quandt. Verliebt ist er jedoch, wie er bald begreift, nicht in die faszinierende junge Frau, sondern in Hellmut, in einer Zeit, in der Homosexualität nicht nur allseits geächtet und daher verheimlicht wurde, sondern noch als Verbrechen galt. Nach Hellmuts frühem Tod 1927 setzt Hans dessen Affäre mit seiner Stiefmutter Magda gewissermaßen fort, für einige Zeit wird er Magdas Liebhaber, bis sie dann in den Bann des damaligen NSDAP-Gauleiters Joseph Goebbels gerät. Über die inneren Konflikte und unverwirklichten Sehnsüchte hinaus, die den jugendlichen Ich-Erzähler quälen, ist Hans Kesselbach eine wirklich sehr gut erzählte Figur, komplex, ambivalent, man fühlt mit ihm, ohne all seine Entscheidungen gutzuheißen, die er unter wahrlich herausfordernden historischen Umständen fällt. Nora Bossong arbeitet an ihm die Grauzone, in der sich die Figur bewegt, sehr nuanciert heraus, was dank der Möglichkeit ihrer romanhaften Individualisierung überhaupt erst möglich wird. Seine inneren Widersprüche treten im Laufe der Handlung immer wieder nach außen, dem nationalsozialistischen Gedankengut steht er mit großer Skepsis und Abneigung gegenüber, macht sich aber trotzdem des Mitläufertums schuldig, und ist gleichzeitig wegen seiner Homosexualität selbst ein potentielles Opfer des neuen Regimes.

Der Roman wäre nicht so gut, wenn er sich nicht über diese individuelle Geschichte hinaus auf vielschichtige Weise auf eine höhere, historische Ebene öffnen würde. Mit der Verwebung der historisch belegten Geschichte der Familiendynastie Quandt in die fiktive Geschichte des Ich-Erzählers etwa gewinnt der Opportunismus, den man der Liebschaft eines Schwulen mit einer angesehenen Frau unterstellen mag, eine ganz andere Dimension, die die folgenreiche Verstrickung deutscher Unternehmer in den Nationalsozialismus problematisiert.

Indem Nora Bossong den jungen Ich-Erzähler in diese ihm sehr fremde Welt der Industriellenfamilie eintauchen lässt, nähert sie sich erzählerisch auch der jungen Magda, die mit ihrer Heirat des Firmenchefs ihrerseits von außen und unten in diese Welt der Reichen und Mächtigen Eingang gefunden hat, sich in ihr jedoch wie selbstverständlich bewegt. Die Gabe der Anpassung scheint ihr im Unterschied zu Hans, der sich im Laufe seines Lebens immer wieder wie ein Fremdkörper fühlt, in die Wiege gelegt. Während der heimlichen Liebschaft von Magda mit ihrem Stiefsohn Hellmut, für die Ausflüge zu dritt mit dem Schulfreund Hans ein willkommenes Alibi sind, kommt man ihr sehr nahe, dringt in der konsequent äußerlich bleibenden Perspektive aber nie bis in ihr Innerstes vor, das sich die Autorin wohlweislich vorenthält.

Der Roman möchte keine eindeutigen Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen: Wie konnte jemand, der so gebildet war, der den Feinsinn der Kunst und der Literatur schätzte, eine solche Entwicklung durchlaufen wie Magda Goebbels? Was war charakterlich in ihr angelegt, wo begann die moralische, politische Verirrung? War ihr Weg vorgezeichnet oder hätte sie sich auch ganz anders entscheiden können? Im Roman erscheint sie als eine Frau voller Ambivalenzen: zwischen Idealismus und Anpassung, Intelligenz und Verbohrtheit, Abgrund und Prominenz. Ihre Schönheit, ihre Kühle, ihre Bildung, ihr Wille etwas zu bedeuten, das Leben auszuschöpfen, bewegten sich auf einem dünnen Grat, von dem aus sie in übersteigerten sozialen Ehrgeiz, in Narzissmus und Fanatismus zu kippen drohten. Auch das unmerkliche Hinübergleiten eines gesunden Selbsterhaltungstriebs in einen rücksichtslosen Aufstiegswillen, die nicht immer klar voneinander zu unterscheiden sind, lässt Nora Bossong in ihrem Roman anklingen, etwa wenn Magda ihren reichen Exmann mit kompromittierenden Briefen erpresst, um nach der Scheidung nicht nur das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn Harald, sondern auch eine stattliche Abfindung zu bekommen, zu der ihre repräsentative Wohnung am Titel gebenden Reichskanzlerplatz gehört.

Welche Rolle spielte die Geschichte, spielten die politischen Verwerfungen? War ihre Radikalisierung vorgezeichnet? War es auch ihr Scheitern, ihr Absturz am Ende, der sich unter der Oberfläche schon länger anzudeuten schien? Konnten ihre Anstrengungen, als überhöhte Mutterfigur und Ehefrau einen Schein zu wahren, der der Wirklichkeit längst nicht mehr entsprach, irgendwann nur noch mit Alkohol und Selbstbetrug aufrechterhalten werden? Das Verstörende daran ist vor allem, wie wir in Nora Bossongs Roman erfahren, dass Magda Goebbels, die später so sehr die „arische“ Ideologie propagierte, selbst als junges Mädchen Fluchterfahrungen machte, dass sie einen jüdischen Stiefvater hatte und einen jüdischen Jugendfreund; auch das ist Teil ihrer Biographie. Und so schreibt Nora Bossong bzw. ihr Ich-Erzähler Hans Kesselbach, sehr philosophisch, an einer Stelle: „man entkommt nicht der Geschichte, die man selbst schreibt.“ Diese Wahrheit, die dem Roman zugrundeliegt, oder vielleicht: die sich aus ihm entwickelt, gilt im Übrigen für beide Figuren, für den fiktiven Ich-Erzähler ebenso wie für die fiktionalisierte Magda Goebbels. Man kann der Geschichte nicht ausweichen, aber man kann sich vielleicht doch auf verschiedene Weise zu ihr verhalten.

Reichskanzlerplatz ist ein nachdenklicher, fein erzählter Roman mit vielen Zwischentönen und das Porträt einer Zeit und der sich in ihr Verhaltenden. Im Raum der Literatur verfügt Nora Bossong über andere Mittel als die historische Dokumentation, und diese schöpft sie aus, mit einer auch stilistisch überzeugenden Zurückhaltung, die sich der Grenzen und der Möglichkeiten der literarischen Fiktionalisierung gleichermaßen bewusst ist.

Bibliographische Angaben
Nora Bossong: Reichskanzlerplatz, Suhrkamp 2024
ISBN: 9783518431900

Bildquelle
Nora Bossong, Reichskanzlerplatz
© 2024 Suhrkamp Verlag AG, Berlin

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