Der neue Roman des französischen Schriftstellers Pierre Raufast, „Der weiße Zerberus“, ist eine mit der zumindest im Raum der Erzählung sinnstiftenden Kraft des Mythos aufgeladene Liebesgeschichte, die zugleich eine schreckliche Tragödie ist — es sein muss, denn erst in der schmerzhaften, schier unerträglichen Konfrontation mit dem Schicksal zeigt sich die Tragweite menschlicher Entscheidungen — und die zudem ganz in der heutigen Zeit verankert wird. Es geht um den Jugend- und Schönheitskult genauso wie um die Neigung unserer Gesellschaft, den Tod zu verdrängen, um die Macht und die Grenzen von Wissenschaft und Technik und die verzweifelten Versuche der Menschen, Verlust oder Schuld mit Narrativen zu kompensieren, die das Leben erträglich machen.
So tief die Wunden sind, denen die Menschen der Romanwelt ausgesetzt sind und die sie auch einander zufügen, so emotional Krankheit und Tod, tragische Unfälle, Trennung, Verlust, Verrat und Im-Stich-Lassen geschildert werden, ist die Geschichte doch mit einer faszinierenden Leichtigkeit erzählt, die einen sofort in Beschlag nimmt und atemlos bis zur letzten Seite gelangen lässt.
Orpheus und Eurydike, Agamemnon und Klytaimnestra, Aeneas und Dido, das sind Mathieu und Amandine, deren mythische Verbundenheit ihnen buchstäblich in die Wiege gelegt wurde. Kurz hintereinander in zwei eng befreundeten Familien geboren, sind die beiden von Geburt an untrennbar, verbringen ihre gesamte Kindheit miteinander, um sich schließlich wie selbstverständlich auf ganz behutsame, immer leidenschaftlichere Weise ineinander zu verlieben. Doch die kosmische Harmonie wird durch einen schweren Schicksalsschlag gestört, der in der Folge eine ganze Kette an tragischen Verwicklungen auslöst, aus denen es schließlich keinen versöhnlichen Ausweg mehr geben kann… Oder etwa doch? Kann der mythischen Fiktion gelingen, woran sich die Menschen seit jeher die Zähne ausgebissen haben: den Tod zu überwinden?
Mathieu jedenfalls ist seit dem plötzlichen Unfalltod seiner Eltern im Skiurlaub, an dem er sich zu Unrecht eine Mitschuld gibt, geradezu besessen vom Tod bzw. darauf, seine Macht zu brechen. Er will unbedingt Arzt werden, um mit Hilfe der Wissenschaft unheilbare Krankheiten auszumerzen. Doch dafür muss er nach Paris, weg von seiner großen Liebe Amandine, was ihm einerseits schier das Herz bricht, andererseits jedoch wie eine unbewusste Verlockung auf ihn wirkt, endlich mit dem Ort seiner Herkunft und den Zeugen seiner Kindheit auch die Erinnerung an das Unglück hinter sich zu lassen. Ohne es zu wollen, wird er genau im Moment der Entscheidung ein weiteres Mal in ein tragisches Unglück verwickelt — und ergreift die Flucht nach Paris.
Für Amandine, deren Perspektive mit derjenigen Mathieus kapitelweise alterniert, so dass man in beider wunder Seelen intensiven Einblick erhält, ändert sich mit einem Schlag alles in ihrem Leben: Sie verliert zwei innig geliebte Menschen, durchlebt ein emotionales Trauma von Verlust und Verrat — und macht eine weitere Entdeckung, die hier nicht verraten werden soll.
Von nun an führen beide junge Menschen getrennt voneinander ein eigenes Leben, doch immer wieder deutet sich an, dass ihre Schicksale auf mythische Weise miteinander verbunden sind. Symbol der Liebe und der Kraft des Mythos ist der titelgebende „weiße Zerberus“, den Mathieu bei einem Pariser Taxidermisten entdeckt, bei dem er während des Studiums aushilft. Mit seiner weißen Farbe ist er das Gegenbild zum schwarzen dreiköpfigen Höllenhund, den man unter diesem Namen aus der griechischen Mythologie kennt.
Der Roman ist eine gelungene Illustration des Fortwirkens magisch-mythischen Denkens: Um sich dem „Absolutismus der Wirklichkeit“, wie Hans Blumenberg die stets von Tod, Gewalt und Vergänglichkeit bedrohte conditio humana genannt hat, entgegenzustellen, schaffen sich die Menschen auch heute Bilder und Narrative, die Sinn stiften, und neue Götter, an deren Macht sie glauben können.
Die mythischen Anspielungen in Verbindung mit der vor allem gegen Ende auftretenden Fiktionsironie verhindern, dass die an eine antike Tragödie erinnernde Handlung zum Melodram gerät. Auf diese Weise vorbereitet, erscheint es nur folgerichtig, wenn die ansonsten in der wiedererkennbaren Gesellschaft des heutigen Frankreichs angesiedelte Geschichte am Schluss einen kleinen Schritt über die Realität hinaus ins Mythische tritt, das hier identisch mit dem Technisch-Utopischen wird.
Eine berührende Geschichte voller Metamorphosen, die das menschliche Dasein, und ebenso den Leser, erschüttern und verzaubern!
Pierre Raufast: Le cerbère blanc, Stock (2020)
ISBN: 9782234088498