Lilja Sigurðardóttir: Das Netz

Das Netz, das die isländische Autorin mit dem Auftakt ihrer Krimi-Trilogie nicht nur für ihre Figuren, sondern auch für ihre Leser auslegt, verfängt: Gepackt von der spannenden Geschichte und den lebensnah entwickelten Charakteren, deren mit psychologischer Sensibilität geschilderte Ängste und Nöte einem sehr nahe gehen, habe ich Das Netz ohne Pause bis zum Morgengrauen durchgelesen.

Tatsächlich liegt meines Erachtens das Erfolgsgeheimnis dieses Krimis, der auch verfilmt werden soll, vor allem in der Figurenzeichnung und -konstellation. Die Autorin konzentriert sich für ihren gut konstruierten Plot, der auf gesellschaftskritische Weise ins Drogen- und Finanzgeschäft führt — die enger verflochten sind, als man vermuten wollte –, auf eine Handvoll Figuren, die sie jedoch umso runder und schattierter herausarbeitet. Niemand ist nur gut oder nur böse, auch wenn es durchaus moralische Abstufungen gibt. Vielmehr stellt sich im Verlauf der Geschichte heraus, dass — mit Ausnahme des kleinen Scheidungskindes Tomas — so gut wie alle Charaktere in illegale Unternehmungen verstrickt sind oder sich in sie verstricken lassen, aus den verschiedensten Motiven, die teils egoistischer, teils altruistischer Natur sind.

Ausgangspunkt ist die zu Beginn der Handlung zwei Jahre zurückreichende traurige, aber keineswegs außergewöhnliche Auflösung einer Familie. Sonja hat Adam mit einer Bankerkollegin ihres Mannes betrogen, mit der nach außen hin taffen, innerlich aber — auch sexuell — verunsicherten und ihre Ängste in Alkohol ertränkenden Agla. Sonja verlässt eine Ehe, die für sie schon länger erdrückend war, wie sie erst jetzt erkennt. Doch ohne Job und Geld scheint sie keine Chance auf das Sorgerecht ihres geliebten Sohnes zu haben, weshalb sie sich, von ihrem Anwalt gedrängt, auf einen Deal einlässt, durch den sie die Legalität verlässt und in eine bedrohliche Abhängigkeit gerät, die ihr erst bewusst wird, als es vielleicht schon zu spät ist…

Fasziniert verfolgt man, wie die geschiedene Mutter sich ein Doppelleben aufbaut und geradezu virtuose Methoden entwickelt, um für ihre Auftraggeber kiloweise Kokain aus dem Ausland nach Island einzuschmuggeln. Nur ein alter Zollbeamter lässt sich von der akribisch konstruierten und ein bisschen zu perfekten Fassade der attraktiven, selbstbewussten, routinierten Businessfrau nicht täuschen. Doch auch er hat einen schwachen Punkt, leidet er doch sehr darunter, dass er sich die häusliche Pflege seiner an Alzheimer erkrankten Frau nicht leisten kann und sie stattdessen im Pflegeheim verkümmern sieht. Er erwischt Sonja in dem Moment, als sie endlich aussteigen will; als ihre Auftraggeber sie jedoch mit der Sorge um ihren kleinen Sohn erpressen, zieht sich das Netz für alle immer enger zu…

Die Autorin spürt sehr intensiv dem Menschlichen in ihren Figuren nach, um auf durchaus auch unterhaltsame Weise der Frage auf den Grund zu gehen, aus welchen verschiedenen Motiven und bis zu welchem Ausmaß sich der Einzelne korrumpieren und in unmoralische Situationen hineinziehen lässt, und wie er reagiert, wenn die Dinge ein Eigenleben entwickeln, die er nicht mehr unter Kontrolle hat.

Ein gut geschriebener Krimi, der ohne gesteigerte Brutalität auskommt und einen dennoch in Atem hält! Ich bin gespannt auf die Fortsetzung…

Bibliographische Angaben
Lilja Sigurðardóttir: Das Netz, DuMont (2020)
Aus dem Isländischen von Anika Wolff
ISBN: 9783832165192

Bildquelle
Lilja Sigurðardóttir, Das Netz
© 2020 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Köln

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