Große Aufregung herrschte 1962 in Monschau, einem kleinen Landkreis in der Eifel: Die Pocken, die man eigentlich aus Deutschland vertrieben glaubte, brachen aus, Monschau wurde „internationales Infektionsgebiet“. Steffen Kopetzky hat während der Corona-Pandemie aus diesem historischen Ereignis einen Roman entworfen, der eine Liebesgeschichte mit einem Stück bundesdeutscher Geschichte verbindet.
Auch wenn es sich mit der durchgehenden Situierung der Handlung in den 1960er Jahren um einen historischen Roman handelt, scheint der Aktualitätsbezug fast auf jeder Seite durch. Zwar handelte es sich bei der Pockenepidemie in der Eifel um einen lokal begrenzten Ausbruch, der aber auch schon infolge der globalen Vernetzung ausgelöst worden war. Im Roman treten Virologen und Dermatologen auf, unter ihnen ein talentierter junger Arzt namens Nikolaos Spyridakis, der aus Griechenland in die Eifel gereist ist, um bei der Eindämmung der Epidemie zu helfen. Er wird direkt im „hot spot“ eingesetzt, in den Rither-Werken in Monschau, einer großen Papierfabrik, eines der vielen an die Erben weitergegebenen Unternehmen, die in der Nachkriegszeit weiter Profite einstrichen. Dort lernt er Vera Rither kennen, die junge Firmenerbin, die der erwarteten Aufgabe, die Fabrik weiterzuführen, widerwillig gegenübersteht.
Diese Ausgangskonstellation verrät bereits, dass sich Steffen Kopetzky vor allem für die mit weitreichenden Konsequenzen verbundene Verknüpfung von Epidemie und Wirtschaft interessiert. Das bald verzweifelte Züge annehmende Krisenmanagement wird hier tatsächlich in erster Linie von Seiten des Unternehmens bestimmt, in einseitiger Rücksicht auf die internationalen Beziehungen und Absatzmärkte. Natürlich ist Vertuschung am Werke, wenn infolge der Ausbreitung der Krankheit, die einer anderen, mit Macht und Geld allein nicht einzudämmenden Logik gehorcht, die Interessen der Wirtschaft in Konflikt mit der Sicherheit der Bevölkerung treten. Kopetzky entwirft darüber hinaus ein Gesellschaftspanorama der Bundesrepublik in den frühen 1960er Jahren und zeigt, wie die Schatten des Krieges noch immer auf die damalige Gegenwart der Nachkriegszeit fielen. Auf Figurenebene steht die junge Generation in klarer Opposition zur alten, noch in den Krieg verstrickten Generation, von der nicht wenige weiterhin so handeln wie zuvor, opportunistisch, auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Das ungleiche Paar Nikolaos und Vera jedoch, die in Paris Journalismus studiert, und ebenso ein allzu neugieriger, nach dem Vorbild von Johannes Mario Simmel gezeichneter österreichischer Reporter, arbeiten der Vertuschung entgegen. Vor dem Hintergrund der Ausnahmesituation der Epidemie bringen sie Dinge in Erfahrung und ins Rollen, von denen andere sich massiv bedroht fühlen…
All dies ereignet sich während der kurzen, anarchischen Zeit des Karnevals, die man natürlich als Metapher lesen muss. Die karnevaleske Maskierung steht für das Vertuschen, das sie zugleich enthüllt und entlarvt. Verdrängtes, Wildes in den Gefühlen und Verhaltensweisen wird zum Vorschein gebracht, die Hierarchien, die auch nach dem Krieg noch fortdauerten, erschüttert, unten und oben verkehren sich.
In der Hörfassung, gesprochen von Johann von Bülow, bekommen die sich überstürzenden Ereignisse eine zeitlupenartige Langsamkeit, die ein wenig an einen Brecht’schen Verfremdungseffekt erinnert. Von Bülow liest bedächtig und artikuliert, in einer für meinen Geschmack etwas zu gedehnten Sprechmelodie, findet aber einen charakteristischen und beim Hören gut wiedererkennbaren Duktus für jede der Figuren und beherrscht die vielfältigen Akzente und Dialekte, die im Figurenpersonal aufeinandertreffen, vom Bayerischen des Geschäftsführers der Rither-Werke über die rheinische Färbung der Eifel-Bewohner bis zum Österreichischen des Journalisten.
Ob nun gelesen oder gehört: Monschau ist ein Roman, der eine spannende und reflektierte Unterhaltung bietet, der einen kleinen historischen Zeitabschnitt aus der deutschen Geschichte am Beispiel einer fiktionalisierten Extremsituation ausleuchtet und, ohne zum Thesenroman zu erstarren, einige kleine Lichtblitze, etwa zu den Themen Krisenmanagement und Einwanderung, auch auf unsere jüngste Vergangenheit wirft.
Bibliographische Angaben
Steffen Kopetzky: Monschau, Rowohlt Taschenbuch 2022
ISBN: 9783499005671
Hörbuch: Argon Verlag AVE, 2021
Gelesen von Johann von Bülow
ISBN: 9783839818664
Bildquelle
Steffen Kopetzky, Monschau
© 2025 Rowohlt Verlag, Hamburg