bookmark_borderMeg Rosoff: Sommernachtserwachen

Die schon lange in England lebende Amerikanerin Meg Rosoff hat einen fesselnden Jugendroman geschrieben, der an seiner Oberfläche wie eine Coming-of-age-Geschichte anmutet, in der nach einem Sommer am Meer nichts mehr ist wie zuvor, der im Grunde aber und erst auf den zweiten Blick ganz im Zeichen des Theaters steht. Der Titel spielt nicht zufällig auf Shakespeares Sommernachtstraum an, in dem es um ein buntes Verwirrspiel von Gefühlen und Beziehungen geht und am Ende nicht nur eine Hochzeit gefeiert wird.

Auch in dem aufwühlenden Sommer, von dem der namen- und geschlechtslose Ich-Erzähler berichtet — am Anfang war ich unbewusst davon ausgegangen, es handle sich um ein Mädchen, im Nachhinein lassen sich aber auch einige Indizien für einen männlichen Erzähler finden… letztlich ändert das auch gar nichts an den psychologischen Verwicklungen, die den Sog der Geschichte ausmachen –, finden große Hochzeitsvorbereitungen statt. Ein junges Paar, Hope und der Schauspieler (!) Malcolm, das mit der sechsköpfigen englischen Familie verwandt ist, die schon seit Jahren den Sommer in einem urigen alten Ferienhaus am Meer verbringt, ist auch in diesem Sommer wieder im benachbarten Strandhaus mit von der Partie, wo am Ende des Sommers auch ihre Hochzeit gefeiert werden soll. Und noch etwas ist anders in diesem Sommer: Die divenhafte amerikanische Patentante der Braut bringt ihre beiden ungleichen Söhne vorbei, damit sie den Sommer bei der Familie verbringen, während sie selbst sich ganz auf ihren Filmdreh konzentrieren kann. Während der eine Sohn, der wunderschöne, charmante, faszinierende Kit, nacheinander oder gleichzeitig fast allen den Kopf verdreht und manipulativ die familiären Beziehungen durcheinanderwirbelt, bleibt der andere, Hugo, verschlossen und missmutig, das genaue Gegenteil seines Bruders, den er nicht ausstehen kann. Erst spät lernt der Erzähler Hugo zu schätzen und den äußeren Schein anders zu beurteilen, nachdem er schon längst selbst in den Zauberbann seines Bruders geraten ist.

Im Unterschied zu Shakespeares Komödie, einer Feier des Spiels, des Scheins, der Täuschung, in der sich zuletzt alles von Zauberhand fügt, landen Meg Rosoffs Figuren am Ende alle unsanft in der Realität, in der Verletzungen, Lug und Trug eben nicht so einfach verpuffen. Der Sommernachtstraum wird zum schmerzhaften Sommernachtserwachen. Die Schauspieler werden enttarnt, um den Preis einer großen Desillusion.

Erzählt wird aus der Perspektive des ältesten Kindes der Familie in einer teils fast schon etwas abgeklärten Sprache — was auch damit zusammenhängen mag, dass die Dinge dem in diesem Sommer gereiften Erzähler im Rückblick offensichtlicher erscheinen –, in der aber zum Glück doch immer wieder zartere, poetischere Stellen der Unsicherheit und der Zerbrechlichkeit aufscheinen. Trotz der treffenden Beobachtung von Verhalten und Charakter der Familienmitglieder erinnern diese doch insgesamt mehr an statische Theaterfiguren, was von der Autorin durchaus gewollt scheint; es gibt immer wieder kleine metatheatralische Ironiesignale. Der Roman wirkt so insgesamt wie ein psychologisches Experiment, in dem gerade das Zentrum, der faszinierende und gottgleiche Kit, der von allen angebetet wird, am unnahbarsten bleibt — eine Leerstelle, über welcher der Schein eines Geheimnisses schwebt, das für alle, auch für die Leser, für einen Moment ein betörendes Leuchten ausstrahlt, um am Ende wie ein verglühender Stern in sich zusammenzufallen.

Altersempfehlung
Ab 14 Jahren

Bibliographische Angaben
Meg Rosoff: Sommernachtserwachen, Fischer Kinder- und Jugendbuch (2021)
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
ISBN: 9783737342513

Bildquelle
Meg Rosoff, Sommernachtserwachen
© 2021 FISCHER Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Frankfurt/Main

bookmark_borderThomas Hettche: Herzfaden

Thomas Hettche ist ein ganz wunderbarer Erzähler, der Ereignisse aus der Geschichte glaubhaft und in einem Stil, der Eleganz und Natürlichkeit verbindet, in einen fesselnden Roman verwandelt. In seinem neuen Buch über die Entstehungsgeschichte der Augsburger Puppenkiste verwebt er so verschiedene Genres und Erzählstile zu einem sehr harmonischen und aussagekräftigen Ganzen. In einer Sprache, die stilvoll ist ohne jeden Manierismus, die Poesie und Realismus vereint und auf diese Weise genau den Ton trifft, der dem Inhalt der Erzählung gerecht wird: durch Kunst und Theater gemeinschaftlich eine (Gegen-)Welt zu schaffen, die der Wirklichkeit Rechnung trägt, ohne sich ihr zu unterwerfen, und so auch eine Art poetischen Widerstand zu leisten, ohne sich von den politischen und historischen Umständen einschüchtern zu lassen.

Allein mit dem Wort „Mondlichtteppich“, das man sich nicht genug auf der Zunge zergehen lassen mag, schafft Hettche eine poetisch-zauberhafte Atmosphäre, die den Rahmen der Erzählung bestimmt. In diesen Erzählrahmen lässt der Autor ein namenloses Mädchen im Hier und Jetzt stolpern, das sich mit seinen 13 Jahren eigentlich schon viel zu erwachsen für eine Marionettenaufführung der Augsburger Puppenkiste fühlt, das daher aus Trotz seinem Vater davonläuft und sich im dunklen Keller des Theaters in einer fantastischen Welt verirrt, in die es sich erst skeptisch, dann aber mit immer größerer Faszination hineinziehen lässt. Denn die Marionetten werden auf einmal lebendig, ebenso lebendig wie die Vergangenheit, die in der Erzählung von Hannelore, genannt Hatü, das Mädchen genauso wie uns Leser in den Bann zu schlagen vermag.

Hatü, die aus dem Jenseits an diesen fantastischen Ort zurückgekehrt ist, um rückblickend ihre Geschichte zu erzählen, ist die Tochter von Walter Oehmichen, der mit seiner Familie und Freunden und vor allem einer Schar junger Leute mitten im Krieg die Puppenkiste erfand, die dann in der frühen Bundesrepublik zum Erfolgsschlager des frühen Farbfilms wurde und seitdem ein nicht wegzudenkendes Kulturgut ist.

Der Autor rückt die junge Hannelore, und nicht etwa ihren damals in der Theaterszene schon etablierten Vater, ins Zentrum seiner Erzählung, so dass ihr kindlicher und jugendlicher Blick auf die geschichtlichen Ereignisse und Veränderungen, und auch auf das mitunter unverständliche oder erschreckende Verhalten der Erwachsenen vorherrscht. Es ist ein Blick, der sich vielen Desillusionierungen aussetzen muss, und doch oder gerade deshalb nie das Wesentliche aus den Augen verliert. So wird Hatü, die trotz aller Rückschläge und Unsicherheiten, die der Autor psychologisch glaubhaft schildert, nie den Glauben an ihre Unternehmung verliert, die treibende Kraft des Theaters und gibt als begabte Puppenschnitzerin vielen der noch heute berühmten Marionetten ihr unvergessliches Gesicht.

Das zu lesen, ist ein großer Genuss, ein ungemein berührendes und geschichtsbewusstes Eintauchen in eine magische Welt!

Bibliographische Angaben
Thomas Hettche: Herzfaden — Roman der Augsburger Puppenkiste, Kiepenheuer & Witsch 2020
ISBN: 9783462052565

Bildquelle
Thomas Hettche, Herzfaden — Roman der Augsburger Puppenkiste
© 2020 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderJanna Steenfatt: Die Überflüssigkeit der Dinge

Romane, die aus der Perspektive junger Menschen die Frage nach der Art und der Möglichkeit von individuellen, die Freiheit nicht einschränkenden und dennoch Halt gebenden Beziehungen ausloten, haben gerade Konjunktur; Leif Randt ist mit Allegro Pastell für den Leipziger Buchpreis nominiert (vgl. Rezension vom 13.5.2020), Fehlstart, der Erstling der Französin Marion Messina, erhält — zu Recht — ebenfalls große Aufmerksamkeit (vgl. Rezension vom 6.4.2020). Trotz aller inhaltlichen und stilistischen Unterschiede drücken sie alle doch ein ganz ähnliches Lebensgefühl aus, das auch die 1982 geborene Janna Steenfatt in ihrem Roman Die Überflüssigkeit der Dinge auf überzeugende, sehr reflektierte und berührende Weise zur Sprache bringt: Es lässt sich umschreiben mit den Begriffen der Vorläufigkeit, Unschlüssigkeit, der Halt- und Bindungslosigkeit, Rast- und Ratlosigkeit, der Angst vor und zugleich dem innigen Wunsch nach einer Stabilität, deren genauen Inhalt man aber nicht zu definieren weiß:

Wir wollten uns nicht festlegen, aber wir waren gespannt, wie lange wir so leben würden, in vorläufigen Wohnsituationen, mit vorläufigen Jobs und vorläufigen Lieben. Ich hatte immer geglaubt, es würde sich im Laufe der Jahre herauskristallisieren, wohin das alles führen sollte, allein, es kristallisierte nicht, und für manche Dinge war es jetzt schon zu spät.

Jana Steenfatt: Die Überflüssigkeit der Dinge

Ina Mayer, die Hauptfigur und Erzählerin in Steenfatts Roman, erzählt mit Humor und Selbstironie, aber auch mit großem Feingefühl von ihrem Leben, in dem sich der passende Job, der passende Partner, der passende Lebensstil noch nicht „herauskristallisiert“ haben:

Ich hatte eine schwammige Idealvorstellung von einem Beruf ohne Kollegen, ein Beruf, der es mir erlaubte, meine eigene Toilette zu benutzen, und den ich theoretisch nackt ausüben konnte.

Janna Steenfatt: Die Überflüssigkeit der Dinge

Ihr geisteswissenschaftliches Studium hat sie direkt in die Arbeitslosigkeit geführt, sie wohnt in einer WG zusammen mit Falk, der nach anfänglichen Ambitionen, die Fotografie als Kunst zu betreiben, eine feste Stelle als Leichenfotograf hat, Ina gerne fotografiert und irgendwie mehr ist als ihr Mitbewohner — ihr bester Freund, fast ein Bruder, oder doch ein potentieller Ehemann? — und gerade eben hat sie ihre Mutter verloren, eine ehemalige Theaterschauspielerin, die mit dem Auto verunglückt ist — oder war es Selbstmord?

In Inas Leben sind viele Dinge unklar, viele Dinge, die darauf warten, aufgearbeitet zu werden, allen voran die Beziehung zu ihrer Mutter, mit deren Nachlass sich der Tod und die Überflüssigkeit materieller Dinge in Inas Bewusstsein drängen, doch ebenso auch viele Erinnerungen und der beängstigende, aber nicht zu vertreibende Gedanke, endlich den Kontakt zu ihrem Vater, einem Regisseur, aufzunehmen, der bereits vor Inas Geburt aus dem Leben ihrer Mutter verschwunden ist. Als sie hört, dass er bald in Hamburg, in der Stadt, in der sie wohnt, den Sommernachtstraum von Shakespeare inszenieren wird, fängt sie einen Job in der Kantine des Theaters an, um in seine Nähe zu kommen. Wie sie dann weiter vorgehen wird, weiß sie noch nicht: „Ich war extrem schlecht darin, Dinge zu Ende zu denken“, sagt die Erzählerin von sich selbst. Sie hat keinen durchdachten Plan, weder dafür, wie sie dem Regisseur eröffnen soll, dass sie seine Tochter ist, noch für irgendetwas anderes in ihrem Leben. Dahinter stehen Unentschlossenheit und Angst: davor, sich festzulegen oder auch zurückgewiesen zu werden; auf der anderen Seite ahnt sie mit wachsender Besorgnis, dass sie sich nicht ewig weiter so treiben lassen kann, oder vielmehr, dass sie das sehr wohl könnte, aber dass in ihrem Leben dann vielleicht auch nichts mehr passieren wird, das von Bedeutung ist:

Die letzten Jahre waren in einer Art Lähmung verstrichen, einer Mischung aus Furcht und Ungeduld, und das Warten auf das richtige Leben machte bereits der unguten Ahnung Platz, dass es das hier tatsächlich schon sein sollte.

Janna Steenfatt: Die Überflüssigkeit der Dinge

Ihr halbherziges Handeln illustriert die Gleichzeitigkeit des Ungenügens mit ihrer Situation und einer angstbehafteten Ratlosigkeit darüber, wie und in welche Richtung sie diese verändern könnte. Gleiches gilt auch für ihre von großer Unklarheit geprägten Beziehungen, die keinesfalls kalt oder lieblos sind, doch aufgrund ihrer Uneindeutigkeit immer wieder Anlass zu Missverständnissen und Verletzung geben. Die Liebe, die Falk ihr schenken würde, sowie sie darauf eingehen würde, versucht sie zu ignorieren, es stört sie nicht, dass alle anderen, allen voran ihre Mutter, denken, dass sie ein Paar sind, und doch ist es ihr lieber, eine sehr intime, aber eben zu nichts verpflichtende Freundschaft zu führen. So stößt sie, ohne es zu beabsichtigen, Falk immer wieder vor den Kopf, während es ihr mit der androgynen Schauspielerin, in die sie sich verliebt, genau andersherum ergeht, da diesmal sie selbst auf Abstand gehalten wird. Die Unverbindlichkeit verunsichert sie und erfüllt sie nicht, doch sie schweigt darüber, da sie — man fühlt sich an zahlreiche Interview-Beispiele aus Eva Illouz‘ Buch über „negative Beziehungen“ erinnert (vgl. Rezension zu Warum Liebe endet) — Angst davor hat, mit ihrem Wunsch nach Bindung die instabile offene Beziehung zu zerstören:

Sie auf solche Dinge anzusprechen konnte alles beenden, und diese Angst war meine größte: dass alles enden könnte, ehe es richtig angefangen hatte.

Janna Steenfatt: Die Überflüssigkeit der Dinge

Der Satz charakterisiert im Grunde die Struktur des ganzen Romans und ist auf die widersprüchliche Beziehung Inas zu den anderen Figuren übertragbar, insbesondere zu Falk und ihrem Vater.

Besonders hervorheben möchte ich auch die schöne und ehrliche Sprache, die — ausgehend von einem sich selbstironisch gegen Pathos und Selbstmitleid wappnenden, nur scheinbar abgeklärten trockenen Humor — immer wieder in die Tiefe der Dinge führt und die eine sehr reflektierte Erzählerin mit Gespür für das Unterschwellige und Subtile hervorbringt, die im Laufe ihrer feinnervigen Beobachtungen und Gedankengänge mehr und mehr begreift, was ihr jenseits der Überflüssigkeit der Dinge wichtig ist.

Andere Menschen passierten einander, aber ich passierte niemandem, und niemand passierte mir. Bis Paula mir passiert war. Ich hatte das Gefühl, sie gefunden zu haben, aber sie fand mich nicht, und diese Erkenntnis machte mich fassungslos und unbeherrscht (…).

Janna Steenfatt: Die Überflüssigkeit der Dinge

Trotz der Rückschläge, die Ina einstecken muss, gibt sich der Roman nicht mit der Desillusionierung der Leser zufrieden; die Protagonistin durchläuft aller Zögerlichkeit zum Trotz einen Prozess, der sie dazu führt, eine andere Gewichtung der Dinge vorzunehmen bzw. sich der Gewichtung der Dinge in ihrem Leben trotz aller Vorbehalte überhaupt zu stellen. Nicht zufällig hat die Autorin die Metapher des freien Falls in ihre Geschichte integriert, über den Ina gegen Ende des Romans reflektiert, indem sie ihn halb im Scherz als ihre persönlich bevorzugte Methode des Selbstmordes bezeichnet. Die abstrakte Sehnsucht, sich einfach fallen zu lassen, wird eingetrübt durch die Tatsache, dass die Schwerkraft binnen Sekunden zum schmerzhaften Aufprall führt. Inas Leben in der Schwebe ist ein provisorisches Konstrukt, das in der Realität auf Widerstand stößt und mit ihren eigenen Wünschen kollidiert. Doch es fällt ihr schwer, sich fallen zu lassen und das Risiko einzugehen, damit auch eine gewisse Schwere und Ernsthaftigkeit in ihr Leben zu lassen:

Ich hatte noch nie zu jemandem Ich liebe dich gesagt. Es hatte sich nie ergeben. Ich dachte, dass es Dinge gab, die größer und schwerer wurden, wenn man sie aussprach, sie in die Welt ließ, in der sie nichts zu suchen hatten.

Janna Steenfatt: Die Überflüssigkeit der Dinge

Falk, meine heimliche Lieblingsfigur, ist in dieser Hinsicht Inas Gegenpol. Er gewichtet die Dinge anders als Ina und wirkt bisweilen auf anrührende Weise altmodisch. Für ihn haben Rituale und Symbole noch eine Bedeutung, weshalb er es ist, der auf der Seebestattung von Inas Mutter besteht, der auch ihre Katze in die gemeinsame WG holt und das überlebensgroße Theaterposter der Mutter in die Wohnung hängt, bevor es Ina, die Angst vor jedem Ballast hat und sich von den Dingen befreien möchte, erbost wieder herunterreißt. Falk ist es auch, der für Ina kocht, mit ihr betrunken ist, mit ihr intime Gespräche führt und sie auch ohne Worte durchschaut, aber nie zu einer Einsicht zwingt. Ina beobachtet an ihm eine etwas unzeitgemäße, aber irgendwie sympathische

Ernsthaftigkeit (…), mit der er so oft Dinge tat, die ich höchstens unter dem Deckmantel der Ironie zu tun imstande war; ein Wesenszug, um den ich ihn im Grunde beneidete.

Janna Steenfatt: Die Überflüssigkeit der Dinge

Zum Abschluss noch ein Beispiel für das subtile Erzählen der Autorin: Es gibt eine Schublade in der WG, in der Ina einmal einen Stapel Selbstporträts von Falk entdeckt hat, von denen sie vermutet, dass er sie womöglich absichtlich dort platziert hat, die sie trotzdem mit einer gewissen Scheu erfüllen — er weint auf diesen Bildern — und so sehr beeindruckt haben, dass sie von Zeit zu Zeit heimlich die Schublade öffnet und die Fotografien betrachtet. In eben dieser Schublade findet sie nach dem Tod ihrer Mutter auch einen Zettel, auf der sie und Falk die Nummern ihrer Eltern aufgeschrieben haben: „Falls mal was ist“:

Ich stand vor der Kommode, den Zettel in der Hand, unschlüssig, was zu tun war, mit all diesen Dingen, die mit einem Mal überflüssig geworden waren.

Janna Steenfatt: Die Überflüssigkeit der Dinge

Doch ganz so überflüssig scheint ihr der Zettel — ebenso wie die Fotografien von Falk — doch nicht zu sein, so lässt es das Bild der zögernden Ina erahnen: Handelt es sich wirklich nur ein wertloses Stück Papier oder nicht auch um eine Erinnerung, um ein Zeichen für ihr gegenseitiges Vertrauen? Letztlich kann niemand Ina die Entscheidung abnehmen, welches Gewicht sie ihrem Leben, ihren Beziehungen geben kann oder mag. In diesem Dilemma von Autonomie- und Bindungsbedürfnis, das ein Wesensmerkmal unserer Gesellschaft geworden zu sein scheint, dürften sich viele Leser in ihr wiederfinden…

Bibliographische Angaben
Janna Steenfatt: Die Überflüssigkeit der Dinge, Hoffmann und Campe 2020
ISBN: 9783455008319

Bildquelle
Janna Steenfatt, Die Überflüssigkeit der Dinge
© 2020 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg

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