bookmark_borderJulia Phillips: Das Verschwinden der Erde

Von der ersten Seite an lässt uns die Autorin lesend eine fremde Welt entdecken, die uns trotz der unzähligen Kilometer, die uns von ihr trennen, sofort auch unheimlich vertraut erscheint. Der Schauplatz der Geschichte ist Kamtschatka, diese Halbinsel ganz am asiatischen Rande Russlands, auf der es die faszinierendsten Naturformationen gibt, Vulkane, Geysire, schneebedeckte Steppen und wilde, exotische Tiere, Bären, Robben und Riesenseeadler. Doch indem auf psychologisch sehr stimmige Weise alles durch die Augen der Figuren gesehen, aus ihrem individuellen und eben auch zutiefst menschlichen Blick erzählt wird, wirkt außer der Landschaft nichts exotisch.

Die Amerikanerin Julia Phillips debütiert hier mit einem Roman, für den sie viele Jahre recherchiert hat, auch vor Ort, sie verbrachte einige Zeit in Kamtschatka, und das merkt man dem Buch an, das nicht nur fesselnd geschrieben ist, sondern auch ein differenziertes Porträt der Bevölkerung von Kamtschatka ist und sich mit seiner Geschichte auseinandersetzt.

Ausgangspunkt und erzählerischer Rahmen ist ein Kriminalfall: Zwei kleine russische Mädchen verschwinden bei einem Ferientagesausflug an den Strand von Petropawlowsk, zuletzt werden sie gesehen, als sie zu einem unbekannten Mann in den Wagen steigen. Doch obwohl sich dieser Entführungsfall wie ein roter Faden durch die Kapitel schlängelt, bezieht die geschickt konstruierte Geschichte ihre Spannung bei weitem nicht nur aus dem mutmaßlichen Verbrechen. Mindestens ebenso spannend ist das, was wir aus den einzelnen Kapiteln, in denen jeweils eine andere Figur im Vordergrund steht, vom Leben der Menschen in Kamtschatka erfahren, von ihren ganz persönlichen Schicksalen, ihren Ängsten und Sorgen, Hoffnungen und Plänen. In dreizehn Kapiteln, die mit Ausnahme des zusätzlich eingeschobenen Silvester-Kapitels von Monat zu Monat springen, erleben wir ein ganzes Jahr auf der Halbinsel: vom August, in dem die Mädchen verschwinden, bis zum Juli des folgenden Jahres. Und in jedem dieser Kapitel oder Monate erklingt eine neue Stimme, die auch eine neue Perspektive auf die Ereignisse und einige der bereits aufgetretenen Figuren wirft, die zur Freude des aufmerksamen Lesers immer wieder unerwartet in anderen Kontexten auftauchen.

So unterschiedlich das Alter, der Charakter, die persönliche Lebenssituation, die gesellschaftliche oder ethnische Herkunft der Figuren sind, eines ist allen diesen Stimmen doch gemeinsam: Es handelt ausschließlich um Frauen bzw. Mädchen, deren weibliche Perspektive die Autorin dank ihrer geschickten Erzählkonstruktion überzeugend in ihrer Vielfalt und Differenziertheit darstellen kann. In die komplexe Auseinandersetzung mit den verschiedenen Fremd- und Selbstbildern dieser Frauen lässt die Autorin auch die gesellschaftliche Position und die familiäre Verankerung mit hineinfließen, und ebenso die Geschichte des Landes, seinen keineswegs unproblematischen Übergang von der Sowjetzeit in die postsowjetische Gegenwart, sowie das auf einer kolonialen Unterdrückungsgeschichte und Vorurteilen beruhende Verhältnis von Indigenen, Russen und Einwanderern.

Ob es sich um eine aus einer indigenen Familie stammende junge Studentin handelt, die von ihrem russischen Freund aus der Ferne kontrolliert wird und sich eine Freiheit herausnimmt, die sie schier überwältigt; um eine Frau, die mit der von ihr erwarteten Rolle seit der Geburt ihres Kindes so überhaupt nicht klarkommt, die sich eingesperrt fühlt in ihrem Zuhause, in dem sie nurmehr Mutter oder Gastgeberin ist, und die sich in Lügen und Ausweichmanöver flüchtet, um ihrem Gefängnis momenteweise zu entkommen; oder um ein verzweifeltes junges Mädchen, dessen Beziehung zur besten Freundin in die Brüche geht, da deren Mutter der Meinung ist, sie sei als Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die beruflich viel unterwegs ist, kein Umgang für die eigene Tochter: Alle diese Geschichten, von denen eine jede ungemein aufrichtig und berührend erzählt ist, sind Variationen des Verschwindens, dem all diese Frauen in unterschiedlichsten Formen ausgesetzt sind und gegen das sie sich mit all ihrer Kraft aufzulehnen versuchen. Immer stehen die Figuren an einem Kipppunkt in ihrem Leben, an dem sie sich selbst, ihre Gefühle, ihr Verhalten, ihre Entscheidungen und Abhängigkeiten in Frage stellen, sie neu betrachten und bewerten, und das ist fast immer schmerzhaft, überwältigend, mutig, oft ungerecht, empörend und manchmal auch sehr traurig oder richtig tragisch.

Das Verhalten der Protagonistinnen wird im Übrigen durchaus ambivalent dargestellt, nicht immer denken und handeln sie so, wie man sich das wünschen würde, aber gerade dadurch gewinnen sie eine Eigenwilligkeit, die dazu beiträgt, sie aus einer einseitigen Opferrolle herauszuholen. Der erzählerische Akt wird dabei zu einem Akt der Selbstbehauptung, wie es besonders eindrücklich in der Rahmengeschichte der entführten Mädchen deutlich wird. Aljona, die ältere der beiden, erzählt ihrer Schwester Sofija vom titelgebenden Verschwinden der Erde, eine Legende, mit der sie die etwas nervige kleine Schwester beim Spielen am Strand erst erschrecken wollte und die sie nun etwas anders erzählt, um Sofija und sich selbst in der existentiellen Situation der Bedrohung Mut zu machen. So wird das Erzählen zur Überlebensstrategie, zum verzweifelten Protest gegen das Schweigen der Gewalt. Der Gewalt der Auslöschung, Unterdrückung oder Indifferenz, die viele verschiedene Gesichter hat und auf das Verhältnis von Frauen und Männern, Indigenen und Zuwanderern, aber auch von Mensch und Natur bezogen werden kann.

Ihr ausgeprägtes Stilgefühl lässt die Autorin intensive emotionale Momente erschaffen, ohne Pathos oder unehrlichen Kitsch aufkommen zu lassen. Immer konzentriert auf das Wesentliche, schreibt sie einfühlsam und kritisch, lebendig, realitätsnah und existenziell. Auch auf inhaltlicher Ebene gelingt es ihr, die Balance zu halten zwischen der literarischen Darstellung der Eigentümlichkeiten des Landes und seiner so vielfältigen Bevölkerung und der Individualität ihrer Figuren. So verknüpft sie die fiktiven Biographien mit der kolonialen und (post)sowjetischen Geschichte Kamtschatkas, um sie doch zugleich als ganz persönliche Schicksale zu gestalten, in die man sich als Leser wunderbar hineinfühlen kann. Und so wie ihre Protagonisten das, was ihnen in der Geschichte widerfährt, als existenziell erleben, so durchweht auch das ganze Buch der zugleich erdverbundene und befreiende Atem menschlicher Universalität.

Bibliographische Angaben
Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde, dtv 2021
Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda
ISBN: 9783423282581

Bildquelle
Julia Phillips, Das Verschwinden der Erde
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderJens Steiner: Ameisen unterm Brennglas

Ein brennendes Haus, ein Schusswechsel auf einer Raststätte, ein junges Paar auf der Flucht — atemlos verfolgt die ganze Schweiz vor dem Fernseher diese gar schrecklichen Szenen mutmaßlicher terroristischer Gewalt in ihrem kleinen Land, mit größter Besorgnis und jeder mit seinen ganz persönlichen, von Vorurteilen keineswegs freien Spekulationen… Oder ist das alles nur ein Spiel, ein Experiment, über das sich irgendwer ins Fäustchen lacht? Wer beobachtet hier eigentlich wen, und liegt der Wahnsinn wirklich nur in den bestürzenden Fernsehbildern?

Ein entlarvender und doch liebevoller Blick ist es, den der Schweizer Autor Jens Steiner in seinem neuen Roman durch sein literarisches Brennglas wirft. Ein die Gesellschaft ebenso wie die Psyche seiner Protagonisten schonungslos sezierender Blick, der noch die kleinsten Ängste oder Misstöne in eindringlicher Vergrößerung zeigt, dabei aber in einem stilistisch überzeugenden Balanceakt zugleich eine Ebene der Distanz schafft, indem er das Glas immer wieder auch umdreht und sich herauszoomt aus der geradezu pathologisch wirkenden Intimität. Schließlich ist es auch ein schmunzelnder Blick, ein Blick voll Humor auf seine Figuren, die sich verrennen wie die Ameisen, denen der Autor in seiner Geschichte nicht zufällig eine verhängnisvolle und natürlich metaphorisch lesbare Spur gelegt hat:

Die Ameise sondiert, entdeckt hier und da Spuren von Essensresten, aber so richtig brauchbar ist das alles nicht. (…) Dann lockt eine Spur sie die Wand hoch, sie folgt ihr, bis zur Befestigung des Küchenfernsehers, das ist der falsche Weg, aber sie begreift das nicht, irrt auf dem Rahmen des warmen Fernsehers herum, landet schließlich auf dem flimmernden Bildschirm, Farben und Formen rasen hin und her, wandeln sich, Flächen blähen sich auf, schrumpfen wieder, Eckiges schleicht von rechts nach links, hier und da Lichtexplosionen, und dann fliegen von oben her ein menschlicher Daumen und ein Mittelfinger heran und schließen sich wie eine Klammer um sie.

Steiner, Ameisen unterm Brennglas, S. 168

Und so wie im sozialen Gefüge des Ameisenbaus die Tiere ganz unterschiedlichen Aufgaben nachgehen, haben auch Jens Steiners Romanfiguren verschiedene gesellschaftliche Rollen, von denen im Wechsel und aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt wird. So entstehen vielfältige Porträts, denen jeweils ein eigener Stil zugedacht ist, eine eigene Stimme, die jedes Mal so überzeugend wiedergegeben wird, dass man sich beim Lesen wunderbar in die jeweilige Denkweise und Psyche hineinfühlen kann, egal ob es sich um privilegierte oder sozial schwache, männliche oder weibliche, alte oder junge Figuren handelt:

Da ist der Familienvater Martin Boll, der „seine Bande“ aufrichtig liebt, aber immer wieder auch an ihr verzweifelt: seine shoppingverliebte Frau, seine am Smartphone hängende Tochter und sein kleiner Sohn Noah, der sich heimlich als Mädchen verkleidet, womit der Vater so gar nicht umzugehen weiß. Gleichzeitig fühlt er sich beruflich enorm unter Druck gesetzt, seit die Firma, in der er angestellt ist, von der taffen, stets makellos gekleideten und geschminkten, bis in die Nacht hinein durcharbeitenden neuen Chefin auf den Kopf gestellt wird.

Toni Manfredi macht das Leben auf andere Weise zu schaffen: Wegen seines schlechten Rückens frühpensioniert, fristet er sein Leben in einer Hochhaussiedlung in Bern Bethlehem und schnitzt mit Hingabe Krippenfiguren. Er ist ein sympathischer Kerl, der es gut meint, viel nachdenkt und sich auf etwas eigenwillige Weise auch um das Schicksal der Einwanderer in seinem Viertel sorgt. Im Widerstreit zwischen der Reue über seine Passivität, durch die er einst die Liebe seines Lebens verpasste, und einer Sehnsucht nach Harmonie, auch im Sinne eines gesellschaftlichen Zusammenhalts, unternimmt er ungelenke Versuche, den sozialen Frieden in seinem Viertel aufrechtzuerhalten.

In einem gänzlich anders gearteten Milieu verkehrt der frankophone Schweizer Jacques Rance, der in einer großbürgerlich ausgestatteten Villa in der Nähe von Lausanne mit seiner ärgerlich überbesorgten Haushälterin in intellektuellem und materiellem Reichtum lebt, der ihn gleichwohl, so wird ihm nun auf unangenehme Weise bewusst, nicht vor dem unaufhaltsam fortschreitenden körperlichen Verfall bewahren kann. Zurückgeworfen auf seine gebrechliche Körperlichkeit und gefangen in einem ohnmächtigen Geist, liest der sterbende Herr mit dem sprechenden Nachnamen den Renaissancephilosophen Montaigne und setzt sich mit seinem ranzigen Dasein, dem Sterben und der conditio humana auseinander, für die er sich während seines früheren geschäftigen Unternehmerdaseins nie Zeit genommen hatte; ebensowenig im Übrigen wie für die Menschen in seinem sozialen Umfeld, von denen einer ihm seine herablassende Ignoranz ganz besonders übel nimmt…

Noch mitten im hektisch-geschäftigen Dasein präsent ist die umtriebige und geradezu hyperaktiv wirkende alleinerziehende Mutter Regina Nowotny, die sich nach ihrer Scheidung in unzähligen Jobs und Ehrenaufgaben gleichzeitig aufarbeitet und, weil es irgendwie praktisch ist und zeitsparender als eine neue Beziehung, mit ihrem Exmann heimlich wieder eine Affäre hat. Überfordert, ohne dies zugeben zu wollen, ist sie unablässig am Rotieren, um den Schein zu wahren und noch den letzten Rest an Energie aus sich herauszuholen. Ihr introvertierter Sohn Raffi kommt dabei ungewollt etwas zu kurz, was der kleine Junge der Mutter eigentlich gar nicht so übel nimmt, kann er sich auf diese Weise doch die eine oder andere kindliche Freiheit herausnehmen, endlos in der Natur herumzustreifen zum Beispiel, so dass sich dann auch ein vergessenes Abendessen mal verschmerzen lässt. Die Handlung des Romans wird durch Reginas Nachlässigkeit gegenüber ihrem Sohn jedoch entscheidend vorangetrieben. Als sie gemeinsam mit dem Vater eine verzweifelt-heimliche Suchaktion startet, ist ihr Sohn schon über eine Nacht verschwunden!

Raffi, das Kind, ist es auch, das vielleicht das größte Abenteuer von allen in dieser Geschichte erlebt. Verträumt bewegt der Junge sich in einer von Rittern und Ungeheuern bevölkerten Fantasiewelt, deren Spuren er in seinen Streifzügen in der Landschaft herbeifantasiert, die ihn dann aber auch ganz real immer weiter von zuhause wegführen und, wie es der Zufall will, in eine waschechte, wenn auch irgendwie unkonventionelle Entführung hineinstolpern lassen. So wird er, der Träumer, den nach einem Abenteuer hungert, an dem er aber am liebsten doch eher nur in der Beobachterrolle teilnehmen würde, ohne es zu wissen mitten in die Ereignisse hineingezogen, die der Rest der Bevölkerung im Fernsehen verfolgt.

Raffi nimmt nicht nur dramaturgisch, sondern auch durch seine Zeugenschaft, sein kindlich vorurteilsfreies Beobachten eine zentrale Position in der Erzählung ein, in der immer wieder behutsam-ironisch auf die Perspektive des von außen Beobachtenden verwiesen wird. Am Schluss wirft auch die sich fiktionsironisch selbst in Frage stellende auktoriale Erzählerfigur einen Metablick auf die soeben von ihr zuende erzählte Geschichte und spielt mit dem Verweis auf das literarische Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft auf die Realismusexperimente des späten 19. Jahrhunderts an, von denen sie sich mit dem Mittel der ironischen Brechung jedoch gleich wieder distanziert. Der fiktionsironische Blick von oben erinnert vielmehr auch an einer anderen Stelle ganz stark an den für das erzählerisch selbstreflexive frühe 20. Jahrhundert wegweisenden Roman Die Falschmünzer von André Gide, an den Jens Steiner nun im 21. Jahrhundert wieder anzuknüpfen vermag. Im letzten Drittel der Erzählung halten wir mit einem über das ameisenhafte Gewusel der städtischen Bevölkerung zumindest geographisch erhabenen Bewohner des Schweizer Jura für ein paar Absätze inne, um aus der Distanz der in einem ganz anderen Tempo zirkulierenden Bergluft heraus erstaunt und etwas befremdet auf die Aufregung der hektisch umherirrenden, ihr eigenes Verhängnis geradezu heraufbeschwörenden Ameisen hinabzublicken:

Der Mensch hier oben weiß wenig von der Aufregung im Mittelland unten. Eine Aufregung, die ständig in alle Richtungen voranprescht und nachschwappt, jedoch sogleich abebbt, wenn sie auf die Flanken der jurassischen Längsrippen trifft. Selten schafft sie es bis hier hinauf. Dabei hätte sie die dafür nötige Masse durchaus. Eine Masse, die sowohl das Wichtige wie auch das Unwichtige in sich trägt, die Wahrheit und die Lüge. Eine Masse als unaufhörliches Handgemenge ihrer eigenen Teile.

Steiner, Ameisen unterm Brennglas, S. 188

Als „Falschmünzer“ stellen sich schließlich auch die beiden mutmaßlichen Terroristen, Brandstifter und Kindesentführer heraus. Ihre scheinbar willkürlichen und absurd anmutenden Taten, mit denen sie die ganze Schweiz in helle Aufregung versetzen und so manches falschmünzerhaft gelebte Leben zum Einstürzen bringen, erinnern stark an die „actes gratuits“ aus Gides Romantheorie. So fliegt am Ende Falschgeld durch die Luft und stiftet ein Verkehrschaos an, wird sündteures Empire-Mobiliar zertrümmert, und alles stellt sich letztlich als ganz anders heraus, als es sich in den Medien und den panischen Köpfen der Menschen dargestellt hat.

So erwächst den spektakulären „actes gratuits“ in Jens Steiners Roman auch eine gesellschaftliche Relevanz, die über ein mit großem Amüsement lesbares literarisches Spiel hinausreicht: Die reißerischen Medien bekommen ihr Fett ab und ebenso natürlich ihre kritiklosen und emotionalisierten Konsumenten. Der Autor entwirft das beunruhigende Psychogramm einer zeitgenössischen Gesellschaft, die in den mentalen Barrieren eines eigentlich längst überwunden geglaubten Klassenverhaltens gefangen ist. Eine Gesellschaft, deren Zusammenhalt brüchig geworden ist und die in einander verachtende oder zumindest belächelnde Gruppen zu zerfallen droht, deren Verständigung untereinander und Verständnis füreinander gegen Null geht. Und dieses antagonistische Gesellschaftspanorama, in dem Migranten und Schweizer, Landbewohner und Stadtmenschen, Frankophone und Deutschschweizer, Großbürgertum und Angestellte, Familienernährer und alleinerziehende Mütter einander fremd und feindselig gegenüberstehen, lässt sich im Grunde ziemlich gut von der Schweiz auch auf andere Länder übertragen. Denn unterm Brennglas treten in satirischer Zuspitzung einige der Merkmale unserer Gesellschaften im 21. Jahrhundert deutlich zutage: ihre Überreizung und Überforderung, ihr Populismus und ihre Irrationalität, ihre panischen, vorschnellen, vom Vorurteil gesteuerten Reaktionen. Und all das gelingt dem Autor in einem Stil, der zwar satirisch ist, doch alles andere als moralistisch oder alarmistisch. Anstatt seinerseits Panik zu schüren, geht Jens Steiner den Ursachen der überhitzten Reaktionen seiner Figuren auf den Grund, und dies tut er, wie eingangs erwähnt, mit einem durchgehend humoristischen Grundton und indem er neben verbohrter Unversöhnlichkeit auch zwischenmenschliche Begegnungen schildert, die Hoffnung schöpfen lassen.

Vor allem hat er, wenn auch kein Verständnis, so doch Mitgefühl mit dem irrationalen Verhalten, das alle erwachsene Figuren an den Tag legen. So versteht man nach der Lektüre ein bisschen besser, woher die auf den ersten Blick so absurde Panik eigentlich kommt und wie es vonstattengeht, dass individuelle Ängste und Sorgen in falsche Bahnen gelenkt werden und sich zu bedenklichen Neurosen, psychischen Zwängen oder Fehlleistungen oder gar halluzinatorischen Wahnvorstellungen entwickeln.

So führt der Autor den Leser glaubhaft und empathisch durch die verschiedenen Milieus seiner Figuren und wahrt dennoch stets eine literarische Distanz, die gerade die besondere ästhetische Qualität des Textes ausmacht. Eine besondere Literarizität erlangt der Text auch durch die kreativen Metaphern, mit denen er die Innenschau der Figuren immer wieder um eine weitere Bedeutungsebene bereichert, wie im folgenden Beispiel, in dem die Psyche der Figur sich in einem Sinneseindruck offenbart, der in eine Metapher übergeleitet wird:

Martin muss sich an der Wand abstützen. Hilfe! Als ob ein dünner Sandfaden durch seinen Körper rieseln würde. Als ob er eine gläserne Sanduhr wäre und in ihm drin diese lautlose, luftige Erosion.

Steiner, Ameisen unterm Brennglas, S. 173

Ameisen unterm Brennglas ist ein höchst lesenswerter Roman, der nicht nur stilistisch gelungen ist, sondern durch die nach und nach mehr miteinander korrespondierenden Perspektivwechsel auch dramaturgisch überzeugend und überaus spannend konstruiert ist. Taucht man anfangs ein in die Lebenswelten von Personen, die scheinbar rein gar nichts miteinander gemeinsam haben, so fügt man ihre Geschichten bald wie ein Puzzle zusammen und erkennt in den einzelnen Erzählsträngen sich immer wieder kreuzende Straßen von Ameisen, deren emsiges Treiben der Autor im Brennglas der Literatur mit scharfem und schmunzelndem Blick erfasst.

Jens Steiner: Ameisen unterm Brennglas, Arche (2020)
ISBN: 9783716027905

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