Eine Zugreise von West nach Ost, von der Schweiz über den Balkan nach Istanbul, die eine Reise in die Geschichte der durchquerten Länder und Landschaften ist und zugleich eine Reise in die Innen- und Erfahrungswelt des Reisenden, beides skizzenhaft erzählt, oft in kurzen und Kürzestsätzen, flüchtig und doch eindringlich, bildhaft, wie die am Zugfenster vorbeigleitenden Landschaften. Die Erzählperspektive ist die des Reisenden, wie sollte es auch anders sein, des griechisch-türkischen Baran, den die intensiv durchlebte Distanz der langen, etappenreichen Zugfahrt längst Vergangenes und kürzlich Erlebtes, Traumatisches, Schmerzliches, auch Schönes, in jedem Falle Intensives und Unerwartetes, verarbeiten lässt. Das Buch ist nämlich auch eine unkonventionelle emotionale Dreiecksgeschichte, in der Alva, Schweizer Alpinistin und Exfrau von Cla, dem Geliebten Barans, und eben dieser, untreu gewordene und mit einem ganz anderen Hintergrund als Baran sozialisierte Cla eine wichtige Rolle spielen. Die Beziehungsgeschichte ist dabei auch lesbar als eine Metapher für die geistige und historische Beziehung der östlichen und westlichen Welt zueinander, mit all ihren Sehnsüchten, Missverständnissen und Verletzungen. Der Erzählung ist die Vergänglichkeit eingeschrieben, im Rhythmus des eintönig über die Gleise ratternden Zuges, die Vergänglichkeit von Beziehungen, im persönlichen wie im historischen Kontext, eine Vergänglichkeit, die ihnen zugleich erst ihre Tiefe, ihre, wenn auch prekäre Bedeutung, ihre Schönheit gibt. Ein auf unaufgeregte Art nachdenklich machendes Buch, das jedoch mit einem in mehr als einem Sinne erschütternden Finale aufwartet.
Bibliographische Angaben
Angelika Overath: Unschärfen der Liebe, Luchterhand Literaturverlag 2023
ISBN: 9783630876344
Bildquelle
Angelika Overath, Unschärfen der Liebe
© Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München