Schon Gespräche mit Freunden, den ersten Roman der irischen Autorin Sally Rooney, habe ich gerade deshalb so gerne gelesen, weil Rooney ihre Figuren mit so leicht wirkender Feder in ihren Worten und Gedanken den Lesern nahekommen lässt, auch wenn sie einer anderen Lebenswelt angehören als man selbst. Auch in ihrem inzwischen dritten und wieder von Zoë Beck übersetzten Roman, Schöne Welt, wo bist du, ist man schon nach den ersten Seiten ganz bei den zwei Hauptfiguren, zwei jungen Frauen aus Irland, einer Schriftstellerin und einer Verlagsmitarbeiterin, deren Innenwelten sich im erzählerischen Perspektivenwechsel einer elektronischen Brieffreundschaft entfalten.
Das erzähltechnisch Auffällige und, wie ich finde, auch besonders Spannende und Spannungsreiche, ist in diesem Roman allerdings ein stilistischer Bruch, der dadurch entsteht, dass zwischen die Kapitel der Korrespondenz, in der die Ich-Perspektive eine tiefe Einfühlung in die Gefühle und Gedanken der Figur ermöglicht, noch eine weitere Erzählperspektive eingeschoben wird, die im Gegensatz dazu einen kühlen, nüchternen Blick von außen auf das Geschehen richtet. In externer Fokalisierung werden die Figuren und ihr Handeln wie mit einer Filmkamera gezeigt, es wird ganz nah herangezoomt, ohne in ihr Inneres hineinzuschauen.
Im Fokus dieses kühlen Kamerablicks sowie der in deutlich erhitzterem Ton verfassten Mails stehen vier junge Menschen aus Irland, vier junge Europäer, könnte man vielleicht auch sagen: die Freudinnen Alice und Eileen, von denen sich die eine, die Schriftstellerin, zum Schreiben, oder für einen Bruch mit ihrer bisherigen umtriebigen Lebensweise, in ein Haus auf dem Land zurückgezogen hat, während die andere in Dublin geblieben ist, wo sie in bescheidenen Verhältnissen für eine Literaturzeitschrift arbeitet; und in gewisser Symmetrie dazu die beiden Männer Felix und Simon, die man nur aus der Außenperspektive der beiden Frauen und, in wiedererkennbarem Rooney-Duktus gestaltet, aus derjenigen der wiedergegebenen Dialoge kennenlernt. Diese vier stehen in nicht ganz eindeutig zu bestimmenden näheren Verhältnissen der Freundschaft, der Liebe, und eines fließenden Dazwischen, zueinander. Ihre freundschaftlichen und amourösen Beziehungen bilden das Zentrum des Romans, um das sich peripher, aber durch viele kaum auflösbare Knoten verknüpft, die in unserem Jahrhundert großen Themen des Arbeitens, Wohnens und ganz allgemein des Lebenswandels legen. Anders, als es heute bisweilen dargestellt wird, sind diese jungen Leute aber keine apolitischen, weltfremden Ignoranten ihrer Umwelt, sondern sich ihres Daseins in einer krisengeschüttelten Welt sehr bewusst. Lebenskrisen, Beziehungskrisen und gesellschaftliche Krisen gehen in ihrer sensiblen Wahrnehmung jedoch ineinander über, Selbstzweifel und Selbstironie liegen manchmal nah beieinander, ohne deshalb gleich der Versuchung des Relativierens zu erliegen.
Gerade im Medium des elektronischen Briefes, der sich freilich in Buchform auch nicht anders liest als eine klassische Korrespondenz, verschmelzen Emotionalität und Intellektualität auf eine nach Offenbarung suchende Weise miteinander. Der Anklang an den Briefroman, als literarischer Ausdruck der Empfindsamkeit, als Feier der Freundschaft und der Authentizität, ist nicht zu übersehen. Und doch, alles andere würde heute wahrscheinlich als naiv bezeichnet werden, steht er unter anderen Vorzeichen. Die Briefeschreiberinnen nehmen kein Blatt vor den Mund, scheuen keine Direktheit, ihre Worte könnten für die andere sehr verletzend sein, wenn sie sich nicht so gut kennen und verstehen würden. Ehrlichkeit und Schonungslosigkeit sind oft nicht voneinander zu trennen, doch Sally Rooney lässt auch Wärme und Humor durch ihre Zeilen hindurch schimmern und geht nicht soweit, ein gewisses Wohlgefühl des Lesers zu zerstören. So wird das Briefeschreiben zu einem feinen, einem präzisen, verästelten Befragen und Selbstbefragen, ein permanentes Suchen nach der richtigen Deutung. Immer wieder wird eine neue Facette eines Gefühls, einer Handlungsmotivation ergänzt, mit feinsten Antennen ein noch so kleines intellektuelles Detail oder eine emotionale Schwingung aufgespürt. Das Einander-Schreiben wird zum Ausdruck einer fortwährenden und letztlich unabschließbaren Suche nach Wahrheit, nach der Wahrheit über den anderen, über sich selbst, über die gegenseitigen Beziehungen. Dabei tasten sich die beiden Briefeschreiberinnen fast zwangsläufig an eine Metaphysik heran, die sie sonst aus Verstandesgründen ablehnen, die ihrer Aufgeklärtheit, ja manchmal geradezu Abgeklärtheit zu widersprechen scheint. Je länger sie schreiben, desto mehr kommt auch ihre Verletzlichkeit, die sie zugleich fürchten und ersehnen, an die Oberfläche der Worte.
In derselben Weise, in der, vorsichtig und doch mit Nachdruck, an der Oberfläche der Gefühle gekratzt und dann richtig gegraben wird, seziert der Roman auch die gegenwärtigen Diskurse über Beziehungen, Geschlechterrollen, Identität, gerade ohne das Deckmäntelchen einer es sich zu einfach machenden politischen Korrektheit. Dieses wird ohne Scham heruntergezogen, und enthüllt erstaunlicherweise ein anderes Erleben von Schamhaftigkeit, die eigene Verletzlichkeit und die des anderen.
Der Titel des Romans zitiert einen Vers aus einem berühmten Gedicht von Friedrich Schiller, Die Götter Griechenlands, ein nostalgischer Verweis auf eine vom Göttlichen erfüllte Natur, Ausdruck einer längst nicht mehr zu stillenden Sehnsucht nach einer beseelten mythischen Ursprungszeit; und gleichzeitig klingt in dieser Zeile auch Aldous Huxleys „schöne neue Welt“ an, in der die Utopie ja klar ins Negative gewendet wird. Beides, die Sehnsucht und die Entzauberung, widerstreiten in Sally Rooneys Roman, in dem sich die Autorin wieder als eine Stilistin des Dialogs erweist, des locker leichten und niemals bloß oberflächlichen Gesprächs.
Bibliographische Angaben
Sally Rooney: Schöne Welt, wo bist du, Claasen 2021
Aus dem Englischen von Zoë Beck
ISBN: 9783546100502
Bildquelle
Sally Rooney, Schöne Welt, wo bist du
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