bookmark_borderAgnete Friis: Der Sommer mit Ellen

Der Titel mag täuschen, denn es ist keine leichte Sommergeschichte, die die dänische Autorin Agnete Friis in ihrem Roman Der Sommer mit Ellen erzählt, sondern eine von Anfang bis Ende aufwühlende Erzählung, die einem beim Lesen sehr nahe, ja unter die Haut geht, wo sie dann auch ein beklemmendes Gefühl hinterlässt, das trotz des ganz zart versöhnlichen Endes noch lange anhält.

Die Hitze des Sommers — eigentlich geht es um zwei bedeutsame Sommer mit großem zeitlichen Abstand — ist demnach auch als Metapher für die schwüle, aufgeladene Atmosphäre zu verstehen, die über der ganzen Geschichte liegt, und für die drückende Last, an der Jakob, die Hauptfigur des Romans, seit seiner Kindheit zu tragen hat. Sein Leben entfaltet die Autorin in psychologischer Vielschichtigkeit und Feinnervigkeit in all seinen Schattierungen, Hoffnungen und Enttäuschungen ausgehend von zwei einschneidenden Ereignissen, zwei Erfahrungen, nach denen Jakobs Welt jeweils in Scherben liegt.

Das erste Mal hat er mit Flucht und Verdrängung reagiert, doch Jahrzehnte später wird er erneut mit der Vergangenheit konfrontiert, die sein Leben noch immer viel mehr beeinflusst, als ihm lieb ist. Seinen Kindheitstraum hat der nun über 50-Jährige zwar wahr gemacht und ist Architekt geworden, doch ist er alles andere als glücklich, seine Ehe ist dabei zu zerbrechen und zu seinen Kindern hat er kaum Kontakt.

Als sein inzwischen sehr alter Großonkel Anton ihn anruft und um Hilfe bittet, entschließt er sich daher, erst widerwillig, in die dörfliche Heimat seiner Kindheit und Jugend und auf den Hof der beiden Großonkel zurückzukehren, dem er seit jenem Sommer, als er 15 war, den Rücken gekehrt hat. Und natürlich wird die Rückkehr auch bald zu einer schmerzlichen, aber letztlich für alle notwendigen Aufarbeitung der Vergangenheit.

Gemeinsam mit Jakob taucht der Leser ein in seine immer wieder eng mit der Gegenwart verknüpften Erinnerungen an eine alles andere als unbeschwerte Kindheit. In jenem Sommer, als er den Großonkeln auf dem Hof hilft, hat seine Mutter gerade seinen Vater, einen Alkoholiker, verlassen. Der Hof ist für Jakob ein Zufluchtsort, wo er den komplizierten Schamgefühlen entgehen kann, die sein Vater in ihm hervorruft. Gleichzeitig ist Scham auch eines der beunruhigenden Gefühle, die das verwirrende Erwachsenwerden auslöst, das er am ganzen Körper spürt. Das ist aufregend, als er sich in die schöne, aber um einiges ältere Ellen verliebt, die in der Hippie-Kommune nebenan wohnt und wie er eine talentierte Zeichnerin ist. Gleichzeitig ist da eine große Unsicherheit, in Bezug auf ein unkontrolliert auftretendes körperliches Begehren ebenso wie auch auf moralische und ethische Fragen des richtigen Verhaltens, der persönlichen Verantwortung, von Schuld und Gerechtigkeit. Denn als Lise, die nicht ganz so hübsche Schwester seines Kumpels Sten verschwindet, löst ein furchtbarer Verdacht eine Kette an weiteren Ereignissen aus, die von Jakob Entscheidungen verlangen, denen er nicht gewachsen ist…

Der Roman ist überaus dicht und sehr überzeugend geschrieben, mit scharfen Beobachtungen der kollektiven Dynamiken in sozialen Gefügen, der psychologischen Irrwege, der Schuldzuweisungen und auch der fragilen Geschlechterbeziehungen, in denen erotische Anziehung schnell in ein sich verselbständigendes Machtspiel kippen kann.

Und so wie es für Jakob letztlich befreiend ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, fühlt man sich auch beim Lesen, das stellenweise richtig wehtut, am Ende um eine Erfahrung bereichert, die so nur ein tolles Buch vermitteln kann!

Bibliographische Angaben
Agnete Friis: Der Sommer mit Ellen, Eichborn (2020)
Aus dem Dänischen von Thorsten Alms
ISBN: 9783847900481

Bildquelle
Agnete Friis, Der Sommer mit Ellen
© 2020 Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln

bookmark_borderNeil Gaiman: The Ocean at the End of the Lane

Ein wunderschönes und trauriges Märchen zugleich, ein fesselndes Abenteuer und ein erschütternder Einblick in die sensible Psyche eines Kindes — Neil Gaimans Roman „Der Ozean am Ende der Straße“, in dem ein kleiner Teich zum Ozean wird, der die uralten Geheimnisse des Daseins in sich trägt, ist genau das auch für seine Leser: ein schmales Büchlein, das durch seine imaginative Kraft ein ganzes Weltenmeer heraufbeschwört, in dem ein kleiner Junge, konfrontiert mit den zerstörerischen Kräften der Erwachsenenwelt, mit der magischen Hilfe einer mutigen Freundin dagegen kämpft unterzugehen.

Der heute eher auf Romane im Stil von Der Herr der Ringe oder Harry Potter verweisende Begriff Fantasy würde der Geschichte, die stellenweise an Lewis Carolls Alice in Wonderland erinnert, aus der im Text auch zitiert wird, nicht gerecht; eher trifft es das englische „fairy tale“, auf das in seiner komisch-musiktheatralischen Version, wie sie bei Gilbert und Sullivan zu finden ist, ebenfalls angespielt wird: Der kleine Junge liebt die Musik des britischen Erfolgsduos des späten 19. Jahrhunderts und rettet sich mit ihrer Hilfe sogar vor der manipulativen Einschüchterungstaktik böser Schattengeister.

Ein für das fantastische Genre charakteristischer Systemsprung findet aber durchaus statt, sogar in zweifacher Hinsicht: zuerst von der die Rahmenhandlung konstituierenden Realität des sich erinnernden Erwachsenen in die erinnerte Realität des Kindes, und dann in der Binnenhandlung erneut vom alltäglichen und plötzlich bedrohten Familienleben in die surreale, fantastische Welt, in die der Siebenjährige durch die ein paar Jahre ältere Lettie Hampstock eingeführt wird, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter auf dem Nachbargrundstück „am Ende der Straße“ lebt. Von da an überlagern und überkreuzen sich die beiden Ebenen, die realistische und die fantastische, auf eine Weise, die eine eindeutige Unterscheidung unmöglich macht.

Der namenlos bleibende Erzähler kehrt anlässlich einer Beerdigung in die Heimat seiner Kindheit zurück, entfernt sich aber bald von der Trauergemeinde und sucht die fast vergessenen Orte seiner Vergangenheit auf: das Haus, in dem er mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester wohnte, als er sieben Jahre alt war, und vor allem den Teich am Ende der Straße, an dem er sich niederlässt und wenig später einer älteren Frau begegnet — Letties Mutter oder ihre Großmutter? –, ehe ein ganzer Strom längst vergessener Erinnerungen an ein einschneidendes Erlebnis seiner Kindheit in sein Bewusstsein dringt.

Von nun an folgen wir der Perspektive des damals siebenjährigen Erzählers und erleben ganz nah und in all ihrer Dramatik und Unmittelbarkeit seine kindlichen Fantasien, Ängste und Freuden. Nur manchmal schaltet sich leise und unaufdringlich die Stimme des sich erinnernden Erwachsenen ein, der gewisse Dinge — wie etwa die sexuelle Anziehungskraft des neuen Kindermädchens auf den Vater des Jungen, der in ebenjener Frau ein bedrohliches Monster erkennt, das die Grenzen seiner Märchenwelt überschritten und in die geborgene Welt der Familie eingebrochen ist — aus der Sicht des zurückblickenden Erwachsenen anders interpretiert, anders versteht als der kleine Junge, der er damals war. Doch keiner der beiden Perspektiven wird als einzig wahr und richtig der Vorrang gegeben, vielmehr wird auf diese Weise der fantastische Zweifel gesät, der den Leser bis zuletzt in der Schwebe lässt, ob er es mit der durch ein traumatisches Erlebnis überdrehten Fantasie eines Kindes oder mit einer gelebten surrealen Erfahrung zu tun hat.

Insofern bewegt sich Neil Gaiman mit seiner Erzählung im Bereich der Fantastik, wie sie das 19. Jahrhundert in Reaktion auf den Realismus hervorgebracht hat und steht in der literarischen Tradition eines E. A. Poe, Maupassant oder E.T.A. Hoffmann, in deren immer auch auf die Psyche der Fantastisches erlebenden Protagonisten verweisenden Texten die Faktizität des Wunderbaren im Ungewissen bleibt und eine psychische Täuschung nie ganz ausgeschlossen ist. Der Literaturwissenschaftler und Semiotiker Tvetan Todorov hat in seiner berühmten Definition des Fantastischen dafür das Kriterium der Unschlüssigkeit angeführt.

Einem so verstandenen fantastischen Stil treu gelingt Gaiman mit seiner sehr berührenden Geschichte über das Abenteuer des Kindseins, das wunderbar ist, weil es einen Vorstellungsreichtum hat und Kräfte kennt, an die kein Erwachsener mehr zu glauben versteht, und zugleich schrecklich, wenn es in seinen Grundfesten erschüttert wird. Konkret, lebendig und ungemein fesselnd erzählt er davon, wie das kleine Kätzchen des Jungen überfahren wird, wie er anschließend den Überbringer der Todesbotschaft selbst tot im Wagen seines Vaters findet, wie dieser Selbstmord ein natürliches Gleichgewicht durcheinanderbringt, so dass auf einmal an allen unmöglichen Stellen Geld auftaucht, das für Unmut sorgt, und dann auch noch ein neues Kindermädchen, das sich in seinem früheren Zimmer einnistet und bald in seiner ganzen Familie, die das wahre Gesicht der sich Ursula Monkton nennenden Frau einfach nicht sehen will. Der Junge hingegen ist der einzige, der die Bedrohung erkennt und dem es nach zahlreichen schmerzlichen Rückschlägen unter Aufwendung all seines kindlichen Mutes gelingt, zu seiner neuen Freundin Lettie Hampstock zu flüchten, der er vertraut und die in uralte Geheimnisse eingeweiht zu sein scheint, die allein das Monster bannen können. Doch auch Lettie ist nicht unverletzlich und ihr gemeinsamer Kampf ruft noch so einige Geister hervor, die ihnen das Äußerste abverlangen…

Ein zartes und grausames und einfach märchenhaftes Buch, das ich allen, die gerne in schöne Geschichten eintauchen, wärmstens empfehle, auch und gerade Lesern, die mit fantastischer Literatur sonst eher weniger anfangen können. Und wer sein Englisch auffrischen möchte, wird die sinnliche, klare Sprache der Erzählung genießen.

Neil Gaiman: The ocean at the end of the lane, William Morrow (2013)
ISBN: 9780062272348

bookmark_borderC. J. Cooke: Verderben. Einer stirbt. Wer lügt?

Ein aufwühlender Spannungsroman, der zugleich das psychologisch fein beobachtete Drama einer Familie erzählt. Man sollte sich nicht von dem etwas reißerischen deutschen Titel abschrecken lassen, sondern sich lieber vom Buchcover in die Hochgebirgsatmosphäre einstimmen lassen, vor deren Hintergrund die verhängnisvolle Handlung ihren Lauf nimmt…

Von den Gipfeln steigen Nebelschwaden auf und sinken wieder herab, als würden die Berge atmen. Für mich steht längst fest, dass es sich bei ihnen um lebende Wesen handelt und nicht einfach um Felsen. Und was uns vier angeht — wir sehen nicht mehr aus wie menschliche Wesen, sondern wie Aliens, die Gesichter hinter Sonnenbrillen und Tüchern und Helmgurten verschanzt. Das Ganze hat etwas Surreales.

Verderben, S. 254 (Kap. 39)

Helen und Michael sind ein durch und durch sympathisches und eigentlich wunderbar harmonierendes Paar. Ihre zwei Kinder, die siebenjährige Saskia und ihren älteren Bruder Reuben, mit dessen Autismus sie liebevoll und verantwortungsbewusst umgehen, lieben sie über alles. Doch ein unbewältigtes Trauma aus ihrer Jugend ruft immer noch Schuldgefühle und Verfolgungsängste hervor, die im Laufe der Erzählung fast schleichend ihre Schattenseiten zum Vorschein kommen lassen. Nach und nach erfährt man, was damals in den Bergen passiert ist, als Helen und Michael sich das erste Mal begegnet sind und Helens damaliger Freund Luke zu Tode kam.

Gleichzeitig hält einen die gegenwärtige Handlung in Atem, ein Familienurlaub endet abrupt mit einem schrecklichen Unfall, die kleine Saskia liegt im Koma und Michael verschwindet spurlos aus dem Krankenhaus.

Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive von Helen, Michael und Reuben, so dass die Autorin gut in das von Schuld und Verdrängung, aber auch von großer Verantwortung und Liebe geprägte Innenleben ihrer Figuren hineinleuchten kann. Insbesondere der Charakter des autistischen Reuben gelingt ihr meines Erachtens sehr glaubwürdig und differenziert.

Die Frage nach Schuld und Verantwortung, die der Roman in mehrfacher Hinsicht aufwirft, wird nicht eindeutig beantwortet, sondern in ihrer Komplexität gezeigt.

Bibliographische Angaben
C. J. Cooke: Verderben. Einer stirbt. Wer lügt?, Droemer Knaur 2020
ISBN: 9783426456637

Bildquelle
© 2020 Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG

bookmark_borderKatya Balen: Mein Bruder und ich und das ganze Universum

Das auch erwachsenen Lesern unbedingt ans Herz zu legende Kinderbuch, mit dem Elfjährige fast noch ein wenig überfordert sein könnten, handelt von einer nicht einfachen Geschwisterbeziehung, unheimlich authentisch erzählt aus der Perspektive des einfühlsamen und sensiblen 10jährigen Frank, der die Liebe zu seinem kleinen Bruder Max, einem Autisten, zugleich als große Herausforderung und immer wieder auch als Zumutung empfindet. Denn manchmal möchte er einfach nur selbst ein kleiner Junge sein, der die Kindheit genießt, mit seinen Freunden Fußball spielt, in der Wildnis imaginäre Abenteuer erlebt, an Geheimcodes tüftelt und sich kreative Rückzugsorte schafft.

Behinderung, Krankheit, Tod, die Autorin mutet Frank und den jungen Lesern wahrlich Existentielles zu, und schreibt doch auf eine bewundernswert leichte und leicht machende Weise. So gelingt es ihr wunderbar, uns vorzuführen, wie sehr das Leben, die Welt, die Sterne, das Universum, und darin vor allem das menschliche Miteinander, ein Quell von Schönheit und Liebe sind.

Altersempfehlung
Laut Verlag ab 11 Jahren, persönlich empfohlen eher erst ab 12+

Bibliographische Angaben
Katya Balen: Mein Bruder und ich und das ganze Universum, CARLSEN (2019)
Aus dem Englischen von Annette von der Weppen
ISBN: 9783551557612

Bildquelle
Katya Balen, Mein Bruder und ich und das ganze Universum
© 2019 CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderSusan Kreller: Elektrische Fische

Was an diesem Buch sofort auffällt, ist seine wunderschöne Sprache! Wie behutsam und poetisch die Autorin erzählt, wie glaubhaft sie die Stimme der jungen Emma wiedergibt und wie aufmerksam auch die anderen Figuren charakterisiert werden. Allen voran erschüttert einen der stumme Schmerz der kleinen Schwester, die nach dem Umzug von Irland nach Norddeutschland zuerst keine deutschen, dann gar keine gesprochenen Worte mehr findet, um ihr Heimweh, ihre Einsamkeit auszudrücken. Aber auch die zarte, manchmal holprige und dadurch umso intimere, ehrlichere Freundschaftsgeschichte von Emma und Levin, der Emma, zunehmend widerstrebend, bei ihren heimlichen Planungen hilft, sich in ihr irische Heimat zurück zu flüchten, geht einem unter die Haut. Da sie beide sehr empathische Menschen sind, tragen sie jeder für sich auch innerhalb ihrer Familie das bisweilen erdrückende Gefühl einer Verantwortung mit sich: Emma für ihre verstummte Schwester und auch für ihre depressive Mutter, die sich in ihrer neuen alten Heimat nur schwer wieder zurechtfindet, Levin für seine an einer heftigen Form der Schizophrenie erkrankten Mutter, die immer wieder soziale Situationen sprengt und sich schließlich selbst in große Gefahr – und Emmas Fluchtpläne ins Wanken bringt.

Ein intelligenter und tief rührender Roman über das Verlieren und Wiederfinden von Heimat, die viel mit Vertrautheit und Vertrauen zu tun hat.

Ich weiß nicht, wie sich Aoifes Heimweh jetzt anfühlt. Sie scheint immer noch empört zu sein, weil unsere Mutter sie aus ihrem Leben genommen und in ein neues Leben gesetzt hat wie eine wehrlose Grünpflanze. Manchmal weint sie noch, aber ohne Ton, das kann sie wie ein Weltmeister. Immer wieder vergisst sie aber, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, die Traurigkeit klebt ihr morgens an den Wangen und glänzt so stark, dass sich die Sonne darin spiegelt und der ganze Tag, der noch vor ihr liegt und den meine Schwester irgendwie überstehen muss.

Elektrische Fische, S. 104 (Kap. 27)

Altersempfehlung
Ab 12 Jahren

Bibliographische Angaben
Susan Kreller: Elektrische Fische, CARLSEN (2019)
ISBN: 9783551584045

Bildquelle
Susan Kreller, Elektrische Fische
©  2019 CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg

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