bookmark_borderAlina Bronsky: Pi mal Daumen

Erstaunlich, wie es Alina Bronsky gelingt, auch absoluten Laien Lust auf das Lösen mathematischer Probleme zu machen, in die man während der Lektüre ihres neuesten Romans Pi mal Daumen tatsächlich immer mal wieder gerne tiefer einsteigen würde. Die Mathematik im Gewand eines liebevollen Humors, der über die Figurencharakteristik und eine leicht überspitzte Milieuzeichnung funktioniert und den man aus den früheren Büchern der Autorin, übrigens Tochter einer Astronomin und eines Physikers, wiedererkennt, ist hier die heimliche Hauptfigur; getarnt wird sie durch eine unkonventionelle und sehr berührende Freundschaftsgeschichte, die sich zum Großteil auf dem Unicampus abspielt, aber auch Abstecher in Schrebergärten und prekäre Wohn- und Lebensverhältnisse macht.

Der leicht satirische Blick auf das Studentendasein mit seinen Nöten und Tücken ebenso wie auf das gesamte Universitätsmilieu und die noch speziellere Welt der akademischen Mathematik entsteht dadurch, dass Bronsky aus der Perspektive zweier Außenseiter erzählt, die beide ein Mathematikstudium beginnen, doch alles andere als das sind, was man sich unter heutigen Durchschnittsstudenten vorstellen mag. Oscar, der Ich-Erzähler, ist gerade mal 16 Jahre alt, also eigentlich noch viel zu jung für die Universität, außerdem von adliger Herkunft und vor allem zutiefst überzeugt von seiner überragenden mathematischen Intelligenz. Trotz der nicht zu leugnenden Begabung wirkt er mit seinen nach dem Vorbild seines Lieblingsmangas blau gefärbten Haaren und seiner Angst vor Keimen und sozialen Kontakten eher wie ein Nerd als wie ein Überflieger. In der ersten Vorlesung trifft er auf Moni Kosinsky, mit ihren über 50 Jahren wiederum scheinbar viel zu alt für ein Studium, die sich im Hörsaal ungefragt neben ihn setzt und mit ihrem schrillen Kleidungs- und Schminkstil ebenso auffällt wie durch die Betreuung ihres Enkelkindes, das zu Oscars Entsetzen wiederholt die Vorlesung stört, was den Professor wiederum gar nicht zu stören scheint. Diese beiden Figuren, die auf dem Unicampus aufeinander treffen und einander trotz aller sozialen Gegensätze auf eine stolpernde Weise näher kommen, könnten nicht unterschiedlicher sein. Die Lebenswelten, denen sie angehören, scheinen Lichtjahre voneinander entfernt, die wirklich einzige Verbindung, die sie haben, ist die Begeisterung für das Lösen mathematischer Probleme. In denen Moni sich übrigens recht bald als geschickter erweist, als Oscar das zunächst herablassend annimmt. Seine Herablassung verwandelt sich jedoch unmerklich in eine ansteigende Sorge um Moni, die mit ihren zusätzlichen Minijobs und dem Kümmern um ihre Familie, um ihre drei Enkelkinder, die sie viel betreut, ihre überforderte Tochter, der sie unter die Arme greift, und ihren proletarischen Lebensgefährten, kaum Zeit für ihr Studium hat, das sie, aus Rücksicht oder weiser Vorsicht gegenüber ihrer Familie, vor dieser auch noch mit allen Tricks und Mühen geheim zu halten versucht.

Zwischen den beiden so ungleichen Charakteren entwickelt sich in unorthodoxen, zarten Banden eine Freundschaft, die natürlich in unterhaltsamen Wellenbewegungen von Annäherung und Missverständnissen erzählt wird. Oscar unterstützt die vielbeschäftigte Moni, wenn sie in ihrem Alltag einfach keine Zeit dafür findet, bei den semesterbegleitenden Hausaufgaben, damit sie die Voraussetzungen für das Ablegen der Prüfung erfüllt. Moni hilft Oscar mit ihrer pragmatischen, anpackenden Art bei den Herausforderungen des Alltags, in denen Oscar hoffnungslos überfordert ist. Und so zeichnet sich hinter den vergeblichen und oft sehr komischen Versuchen, den anderen auf Abstand von der eigenen sozialen Herkunftswelt zu halten, eine keineswegs neue, aber fortwährend wichtige und hier einmal etwas anders, in einer mathematisch gefärbten Sprache, veranschaulichte Erkenntnis ab: nämlich die, dass sich die Schnittmenge zweier Individuen ganz unterschiedlicher Herkunft, wenn man Vorurteilen keinen Raum gibt, erstaunlich sichtbar vergrößern lässt.

Bibliographische Angaben
Alina Bronsky: Pi mal Daumen, Kiepenheuer & Witsch 2024
ISBN: 9783462004250

Bildquelle
Alina Bronsky, Pi mal Daumen
© 2025 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderUrsula Krechel: Sehr geehrte Frau Ministerin

Vielleicht muss man zu Beginn erwähnen, dass eine der Hauptfiguren in Ursula Krechels Roman Lateinlehrerin ist. Silke Aschauer wird sie genannt, im zweiten der drei Teile des Romans tritt sie selbst als Erzählerin hervor und offenbart sich allmählich als diejenige, die in diesem Text zumindest erzählerisch die Fäden in der Hand hält. Und die mit ihren Schülern auch Passagen aus den antiken Werken liest, in denen literarisch und historisch Zeugnis abgelegt wird von einer Gewalt, von denen einige meinen, dass sie nicht in den Schulunterricht gehört, und die doch seit Jahrhunderten Teil der Realität ist. Einer Gewalt, die sich immer wieder auffällig gegen Frauen richtet, sie betrifft und oft auch bezichtigt. So beginnt der Roman mit Agrippina, der Mutter Neros, der unterstellt wird, ihren Mann Claudius ermordet zu haben, und die dann angeblich von ihrem eigenen Sohn umgebracht wurde; später ist von Boudica die Rede, einer weniger bekannten britannischen Heerführerin, die einen letztlich vergeblichen Aufstand gegen die römischen Besatzer angeführt hatte. Das konfliktreiche Mutter-Sohn-Motiv der antiken Literatur wird im ersten Teil mit der Geschichte einer weiteren fiktionalen Figur der Gegenwart aufgegriffen, mit einer Frau namens Eva Patarak, die einen erwachsenen Sohn zuhause mitversorgt und in einem kleinen Kräuterladen arbeitet, mit dessen unerwarteter Schließung sie in eine prekäre Lage gerät.

Damit sind die Themen des Romans, um die dieser sich eher konzentrisch als thesenhaft bewegt, gesteckt: Es geht um Frauenrollen und -bilder, um Gewalt an Frauen, um Machtfragen, die sich auch darin abbilden, wer und wer nicht gehört und gesehen wird, wer und was überliefert wird. Durch die Öffnung in die Geschichte, die Ursula Krechel von den ersten Seiten an vornimmt, fächert sich dieser Themenbogen immer weiter aus, Geschichte und Gegenwart überlagern sich sprachlich und inhaltlich. Der Roman ist auf eine extravagante Weise intersektional, setzt ganz unterschiedliche Perspektiven zueinander in Beziehung, den Blick auf Kolonialismus, Natur und Ökologie, Gynäkologie, Kapitalismus, Politik und Rechtsstaat. Auch formal fächert sich der sehr an Sprache und Übersetzung interessierte Text auf und gewinnt eine Komplexität, die sich schon mit den in die Gegenwartshandlung eingeschobenen Passagen aus der römischen Geschichte angekündigt hat und an der mit dem fiktionsironischen Wechsel der Erzählperspektive in den folgenden Teilen weiter gestrickt wird. Die Erzählung in der dritten Person über die Mutter Eva Patarak im ersten Teil wird im zweiten Teil von der Ich-Perspektive der Lateinlehrerin Silke Aschauer abgelöst, die sich als Frau mit roter Mütze zuvor in der dritten Person in die Geschichte eingeschlichen hatte und von der man nun sowohl erfährt, dass sie als Schriftstellerin für die Erzählung des ersten Teils verantwortlich ist, als auch dass sie an ungewöhnlich starken Blutungen leidet. Die Textebenen überlagern sich, die verschiedenen Ebenen der Zeit und der Figuren greifen mehr und mehr ineinander, so dass der Schreib- und Erzählprozess zu einem hinterfragenden Spiegel von Machtfragen und Rollenbildern wird. Im dritten Teil kommt dann noch die titelgebende Ministerin hinzu und ein Anschlag wird zum physischen Kulminationspunkt dieser Erzählung von Macht und Gewalt.

Das eigentliche Konstruktionsprinzip des Romans scheint jedoch nicht die äußere Handlung zu sein, sondern die Sprache. Immer wieder entfernt sich der Text von einer rein handlungsbasierten Erzählung, um ins Essayistische hinüberzugleiten. Vom Thema entfernt er sich jedoch nie, die Exkursionen, die er in die Kunst, in die Geschichte oder auch in die Naturbeobachtung unternimmt, lassen die zentralen Motive der Handlung in differenzierterem Licht erscheinen. Der Text bewegt sich fort, indem er der Sprache auf den Grund geht und sich scheinbar treiben lässt von Wortverwandtschaften, um so immer wieder Unausgesprochenes sichtbar zu machen. Analog zur Übersetzung als Kern des Lateinunterrichts hat es sich der Roman zum Projekt gemacht, aus der Geschichte ins Heute zu übersetzen und aus der historischen Geschichte in die fiktionale Geschichte. Und das sowohl mit einem Feingefühl, das der Nuance nachspürt, als auch ohne Scheu vor Tabus und Anstößigkeit; der Text will geradezu anstoßen, aussprechen, der Scham keinen Raum geben, sondern sie entwaffnen, so wie die verschiedenen Frauenfiguren im Text auf ihre jeweils persönliche Weise Widerstand zu leisten versuchen.

Bibliographische Angaben
Ursula Krechel: Sehr geehrte Frau Ministerin, Klett-Cotta 2025
ISBN: 9783608966534

Bildquelle
Ursula Krechel, Sehr geehrte Frau Ministerin
© 2025 Klett-Cotta Verlag J.G. Cotta sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

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