bookmark_borderSimone Weil: La Pesanteur et la Grâce

Wenn ich meine erste Begegnung mit den Texten der jung verstorbenen und in Deutschland lange Zeit wenig bekannten französischen Philosophin Simone Weil in nur zwei Adjektiven zusammenfassen müsste, so würde ich sagen, dass ich fasziniert und verstört aus der ersten Lektüre hervorgegangen bin — die keine einmalige geblieben ist: Der postum erschienene Band La Pesanteur et la Grâce, den nach dem Krieg ein guter Freund aus ihren nachgelassenen Schriften zusammengestellt hat, die sie ihm bei ihrer Emigration aus Frankreich anvertraute, besteht aus einer Fülle von philosophischen Skizzen, Aphorismen, aus Gedanken in der Tradition der Pascal’schen Pensées, die zusammen Ausdruck eines radikalen, aber kohärenten philosophisch-religiösen Denkens sind, aber auch einzeln ihre Wirkung entfalten, so dass manche von ihnen wie ein Mantra lesbar sind.

Simone Weils philosophische Schriften sind eine intellektuelle und, wie ich finde, vor allem auch eine große emotionale Herausforderung. Die Radikalität ihrer Philosophie lässt sich beim Lesen am eigenen Leib und Geist erfahren, intellektuell nachvollziehend möchte man, emotional getroffen, immer wieder protestieren, in eine innere Revolte, auf jeden Fall in einen bewegten Dialog mit ihren Texten treten.

1909 in Paris geboren, wuchs Simone Weil in einer gebildeten jüdischen Familie auf, studierte Philosophie, wurde Gymnasiallehrerin und vollzog in ihren jungen Erwachsenenjahren bald eine Wende zur christlichen Mystik. Dem jüdischen Glauben und überhaupt dem Alten Testament stand sie ablehnend gegenüber, und auch ihr Verständnis des Christentums mag anders, ja radikal erscheinen: Für sie ist Gott die Liebe, doch an das Kreuz, das Leiden Jesu glaubt sie ohne den rettenden Glauben an die Unsterblichkeit. Es ist ein von jeglicher Kompensation freier Glaube ohne Hoffnung, ohne Trost, weshalb aus dem Alten Testament zumindest auch die biblische Figur Hiobs eine Rolle für ihr Denken spielt. Genausowenig wird das Elend bei ihr jedoch verklärt oder gar mit Zynismus bedacht, ihre eigene Lebensführung, ihre radikale und zugleich ganz praktische Hingabe an die anderen, ihr politischer Einsatz, der zugleich ein spiritueller war, zeigt das eindrücklich. Philosophie und Leben waren für sie eng verbunden, sie war engagiert, heute würde man sie vielleicht eine Aktivistin nennen, ihre Revolte, die nicht nur intellektueller Natur war, trieb sie bis zur Selbstauslöschung auch in ihrem politischen Einsatz. Sie wirkte als Gewerkschafterin, teilte ihr Lehrerinnengehalt mit Arbeitslosen, ließ sich ein Jahr von ihrem Dienst freistellen, um unter harten Bedingungen in einer Fabrik zu arbeiten, nahm am Spanischen Bürgerkrieg teil und starb mit Mitte dreißig geschwächt und ausgelaugt, auch durch ihre selbst auferlegte solidarische Nahrungsrestriktion, im Exil in England an Tuberkulose.

Die Liebe Gottes lässt sich für Simone Weil nur in der Auslöschung des Ich erfahren, göttliche Gnade (la grâce) nur im radikalen Aushalten von Leere (le vide). Ein weiterer wichtiger Begriff in ihrem Denken ist die Schwerkraft (la pesanteur), die das Dasein physikalisch und moralisch bestimmt. Auch diese gilt es anzunehmen, da ein jegliches Streben nach ihrer Überwindung, nach Erhebung uns doch nur wieder nach unten zieht. Ganz unten zu sein, auf illusorische Kompensationen zu verzichten, ist denn auch die unabdingliche, wenngleich keine Garantie darstellende Voraussetzung für den Einbruch der Gnade in unser Dasein. Denn die Gnade sucht sich ihren Weg zu uns über den Riss, die Verletzung, den Schmerz.

Ne pas exercer tout le pouvoir dont on dispose, c’est supporter le vide. Cela est contraire à toutes les lois de la nature: la grâce seule le peut. / La grâce comble, mais elle ne peut entrer que là où il y a un vide pour la recevoir, et c’est elle qui fait ce vide. […] L’homme n’échappe aux lois de ce monde que la durée d’un éclair. Instants d’arrêt, de contemplation, d’intuition pure, de vide mental, d’acceptation du vide moral. C’est par ces instants qu’il est capable de surnaturel. / Qui supporte un moment de vide, ou reçoit le pain surnaturel, ou tombe. Risque terrible, mais il faut le courir, et même un moment sans espérance. Mais il ne faut pas s’y jeter.

Die Leere auszuhalten bedeutet, nicht die ganze Kraft auzusüben, über die man verfügt. Das widerspricht allen Naturgesetzen. Allein die Gnade ist dazu imstande. / Die Gnade erfüllt, doch sie kann nur dort eintreten, wo sie von einer Leere empfangen wird, und sie ist es, die diese Leere erschafft. […] Der Mensch entflieht den Gesetzen dieser Welt nur für die Dauer eines Blitzstrahls. Augenblicke des Innehaltens, der Kontemplation, der reinen Intuition, der geistigen Leere, der Akzeptanz der moralischen Leere. In diesen Augenblicken ist er offen für das Übernatürliche. / Wer einen Moment der Leere aushält, empfängt entweder das übernatürliche Brot oder er fällt. Ein schreckliches Risiko, aber man muss es eingehen, sogar einen Moment ohne Hoffnung. Doch man darf sich nicht hineinstürzen.

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, pp. 53-55 (Übersetzung der Rezensentin)

Wenn man Simone Weil liest, wenn man sich auf ihre Texte einlässt, muss man viele Paradoxe aushalten — man besitzt nur, auf was man verzichtet, man hat an der Erschaffung der Welt teil, indem man sich selbst auslöscht, die Abwesenheit Gottes als Modus seiner Präsenz, anmaßend sein, wenn man vergisst, dass man Gott ist, verwurzelt sein in der Abwesenheit eines Ortes, usw. –, um dann, wenn man mit ihr diese scheinbaren Widersprüche weiterdenkt, in ihnen immer wieder die Wahrheit zu spüren, die sich nur auf diesem, oft vor den Kopf stoßenden Wege ertasten lässt. Der Widerspruch (la contradiction), dem sie auch ein Kapitel widmet, ist im Grunde das zentrale strukturelle Prinzip ihrer Texte:

Méthode d’investigation: dès qu’on a pensé quelque chose, chercher en quel sens le contraire est vrai.

Untersuchungsmethode: sowie man etwas gedacht hat, herauszufinden suchen, inwiefern das Gegenteil wahr ist.

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, p. 174 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Auslöschung des Ich (le détachement, vs. l’attachement, dem Hängen an den Dingen, an allem Irdischen, Lebenden, das illusorisch ist und trotz seiner scheinbaren Materialität von der Wirklichkeit wegführt, anstatt sie uns näherzubringen) ist eine Gemeinsamkeit der fernöstlichen Philosophie, für die Simone Weil sich ebenfalls sehr interessierte, und ihrem eigenen christlich verankerten Denken, das hier mehr von der christlichen Mystik als von der christlichen Theologie beeinflusst ist.

Nous ne possédons rien au monde — car le hasard peut tout nous ôter — sinon le pouvoir de dire je. C’est cela qu’il faut donner à Dieu, c’est-à-dire détruire. Il n’y a absolument aucun autre acte libre qui nous soit permit, sinon la destruction du je.

Wir besitzen nichts auf der Welt — denn der Zufall kann uns alles nehmen — außer die Möglichkeit ich zu sagen. Das ist es, was man Gott geben muss, das heißt was man zerstören muss. Es gibt absolut keine andere freie Handlung, die uns möglich ist, außer der Zerstörung des Ich.

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, p. 73 (Übersetzung der Rezensentin)

Diese radikale Auslöschung des Ich, mit der Simone Weil dem Individualismus der Moderne klar den Rücken kehrt, macht uns in ihrer Vorstellung jedoch nicht stoisch-unberührbar, sondern vielmehr schmerzhaft verletzlich und damit einzig empfänglich für die göttliche Gnade. Entsprechend schmerzhaft sind auch die Übungen und Selbsttechniken, die sie vorschlägt:

Ne jamais penser à une chose ou à un être qu’on aime et qu’on n’a pas sous les yeux sans songer que peut-être cette chose est détruite ou que cet être est mort. […] Chaque fois qu’on dit: « que ta volonté soit faite », se représenter dans leur ensemble tous les malheurs possibles.

Niemals an eine Sache oder ein Wesen, die man liebt und nicht vor Augen hat, denken, ohne sich vorzustellen, dass diese Sache vielleicht zerstört oder dieses Wesen vielleicht tot ist. […] Sich jedesmal, wenn man sagt: „dein Wille geschehe“, in ihrer Gesamtheit alle möglichen Unglücke vorstellen.

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, p. 60 (Übersetzung der Rezensentin)

Mit der radikalen Zurücknahme des Ich verbindet Simone Weil auch eine Praxis, die heute mit dem Begriff der Achtsamkeit ein verstärktes Interesse auch in der westlichen Welt erfährt. Simone Weil spricht von attention, einer gerichteten Aufmerksamkeit, mit der es uns möglich wird, eine Stille in uns zu schaffen, in der Gott hörbar wird. Diese Form der Achtsamkeit entspricht auch ihrer Vorstellung des Gebets, intentionslos zu betrachten und zu lauschen, was — vielleicht — Gottes Wille ist. Und das Gebet ist, wie es auch andere Mystiker vor und nach ihr empfunden haben, manchmal nichts anderes als Poesie, die sich auch am besten erspüren lässt, wenn man den intellektuellen Denkapparat zunächst ausschaltet, um sich ganz auf die Kontemplation der Bilder, Klänge, Worte einzulassen:

Non pas essayer de les interpréter [les images, les symboles], mais les regarder jusqu’à ce que la lumière jaillisse.

Nicht versuchen, sie [die Bilder, die Symbole] zu interpretieren, sondern sie zu betrachten, bis das Licht hervorbricht.

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, p. 197 (Übersetzung der Rezensentin)

Es verwundert nicht, dass ihre Definition der Poesie auf sehr poetische Weise wieder auf dem Prinzip des Widersprüchlichen beruht:

Poésie : […] Une joie qui, à force d’être pure et sans mélange, fait mal. Une douleur qui, à force d’être pure et sans mélange, apaise.

Poésie: […] Eine Freude, die, da sie rein ist und unvermischt, weh tut. Ein Schmerz, der, da er rein ist und unvermischt, beruhigt.


Simone Weil, La pesanteur et la grâce, pp. 234-235 (Übersetzung der Rezensentin)

Jenseits dessen, dass uns Simone Weils Texte auch heute ganz klar etwas zu sagen haben — ihr wertschätzender Blick auf das Dasein, auf die uns anvertraute göttliche Schöpfung, in der wir die Aufgabe von Mittlern zwischen Gott und Schöpfung haben, und, weil wir selbst das Göttliche in uns haben, letztlich nichts hervorbringen können, das besser ist als wir selbst, uns vor der Hybris allzu großer Technikgläubigkeit also in Acht nehmen sollten — lassen sie uns mit ihrer den Geist weitenden Wortkunst (nur ein Beispiel, das mir sehr gefallen hat: une force déifuge, eine Gott fliehende, eine Deifugalkraft) und Wahrheit aus der willkürlich dahinjagenden horizontalen Zeit augenblicksweise in die Vertikale der Fiktion, der Poesie fallen, an die fragile und zugleich robuste Zartheit von Schneeglöckchen erinnernd, die aus der spätwinterlichen Erde brechen.

Si seulement je savais disparaître, il y aurait union d’amour parfait entre Dieu et la terre où je marche, la mer que j’entends…

Wenn ich es nur verstehen würde zu verschwinden, gäbe es einen perfekten Liebesbund zwischen Gott und der Erde, auf der ich laufe, dem Meer, das ich höre…

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, p. 94 (Übersetzung der Rezensentin)

Bibliographische Angaben
Simone Weil: La Pesanteur et la Grâce [1948; 1988], Plon 2020
ISBN: 9782266045964

Deutsche Ausgabe:
Simone Weil: Schwerkraft und Gnade, herausgegeben von Charlotte Bohn, Matthes & Seitz 2020
Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp
ISBN: 9783957579348

bookmark_borderToon Horsten: Der Pater und der Philosoph — Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis

Der belgische Autor Toon Horsten begibt sich in einem spannenden Sachbuch auf die kaum bekannte und doch so tiefe Spur, die sein Verwandter, der Pater Herman Leo Van Breda (1911-1974), in der an prominenten Namen reichen Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat. Ohne Van Breda hätte die Philosophiegeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg vielleicht eine andere Richtung eingeschlagen; nicht dank einer besonderen philosophischen Theorie, die er selbst geformt hätte, sondern dank einer im Nachhinein wahrhaft spektakulären Rettungsaktion, die der junge Pater während des Krieges unternahm und die ein archivarisches und wissenstransferierendes Werk in Gang setzte, dem er sich ein Leben lang mit vollem Einsatz verschreiben würde.

Van Breda trat als junger Mann dem Franziskanerorden bei, ließ sich zum Priester weihen und studierte an der katholischen Universität Leuwen Philosophie. Besonders angetan hatte es ihm die Philosophie Edmund Husserls, der mit der von ihm entworfenen Phänomenologie viele Denker des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägen sollte, darunter Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Levinas. Für seine Dissertation reiste Van Breda 1938 zu Husserls Witwe Malvine nach Freiburg. Die beiden verstehen sich auf Anhieb gut, und so vertraut Malvine dem jungen Belgier die nachgelassenen und bisher unveröffentlichten Handschriften ihres Mannes an, deren philosophiegeschichtliche Bedeutung Van Breda sofort erkennt. Tatsächlich gelingt es ihm, nicht nur etwa 40.000 Manuskriptseiten, sondern auch Teile der Bibliothek Husserls und zuletzt auch Malvine selbst aus dem nationalsozialistischen Deutschland hinauszuschleusen. Die Husserls waren ursprünglich jüdischen Glaubens, weshalb das Werk des Philosophen ebenso wie das Leben seiner Witwe von der Auslöschung durch die Nationalsozialisten akut bedroht waren. Auf ehemalige Weggefährten wie Martin Heidegger, der sich noch zu Husserls Lebzeiten von ihm distanzierte, war kein Verlass mehr.

Welche Kraftanstrengungen, Versteckspiele, Überredungskünste Van Breda unternimmt, um den philosophischen Schatz nicht nur zu retten, sondern dann auch der Öffentlichkeit und der Nachwelt zugänglich zu machen, welche Hartnäckigkeit er an den Tag legt, welche Widerstände er umschifft, welche Umwege er auf sich nimmt, bis er endlich das Husserl-Archiv in Leuwen gründen und in der Folge am Leben halten kann, schildert der Autor Toon Horsten historisch detailliert und zugleich so mitreißend, wie es einem Sachbuch eben noch angemessen ist. Schön ist dabei auch, dass er Van Bredas unermüdlichen Einsatz und sein unbestreitbares Talent als akademischer Netzwerker avant la lettre herauszustellen vermag, ohne ihn zum einzelkämpferischen Helden zu verklären. Die vielen Unterstützer und Mitstreiter im Dienste der Wissenschaft und der Mitmenschlichkeit, die er um sich schart, haben in diesem bewegenden Geschichtsbuch ebenfalls ihren Platz. Um etwa Husserls in der sogenannten Gabelsberger Stenographie niedergeschriebene Manuskripte zu transkribieren, brauchte es Expertise. Eindrücklich ist mir hier die Schilderung im Gedächtnis geblieben, wie das jüdische Ehepaar Strasser während des Krieges 25 Monate lang im geheimen Unterschlupf für Van Breda Husserls Schriften transkribiert. Auch wenn nicht immer ganz zu trennen ist, ob Van Breda hier vor allem im Sinne der Philosophie oder der Menschen handelt, so übernimmt er in den Kriegs- und Besatzungszeiten immer wieder Verantwortung auch für die Menschen, die mit ihm zusammen arbeiten, und für ihre Familien. Er hilft, wo er kann, und kümmert sich, geht aber auch taktische Kompromisse ein und nutzt seine Kontakte zu den nachsichtigeren Vertretern des Besatzungsregimes.

Nach dem Krieg ist Van Bredas Lebensprojekt, die Archivierung und Veröffentlichung von Husserls Werk, noch lange nicht abgeschlossen, im Gegenteil. Das Feilschen um Mitarbeiter, um Gelder, um Kontakte, um Aufmerksamkeit nimmt nun erst recht an Fahrt auf. Während in Frankreich mit dem Existentialismus das Interesse für Husserls Phänomenologie auf einmal merklich steigt und Van Breda hier einige wertvolle Kontakte knüpfen kann, tauchen an anderer Stelle neue Widerstände auf, wie die nach dem Krieg wieder aufflammende Rivalität zwischen den frankophonen und den flämischen Gruppierungen innerhalb Belgiens und auch innerhalb Leuwens, dem Standort des Husserl-Archivs. Auch den Einfluss der katholischen Kirche auf manche Wissenschaftsinstitutionen gilt es im Sinne von Husserls Erbe auszutarieren. Da steht der Pater als Vertreter der Kirche und der Wissenschaft bisweilen gefährlich zwischen den Stühlen.

Trotz der großen Faszination für Van Bredas Wirken lässt der Autor in seinem deutlich um Objektivität bemühten Text auch kritische Stimmen zu Wort kommen, er verherrlicht seinen Protagonisten und Verwandten an keiner Stelle, thematisiert vielmehr auch seine schwierige, impulsive Wesensart, die wohl auch mit seinem sich mit der Zeit immer mehr verschlechternden Gesundheitszustand — der Pater litt an Diabetes — zusammenhing, den er nach Kräften zu verdrängen suchte. Auch Van Bredas eher nachlässiger Umgang mit dem Werk der Philosophin und Karmelitin Edith Stein, einer Assistentin Husserls, die später im KZ umkam und deren Denken er im Vergleich zu dem Husserls geringschätzte, wird von Toon Horsten im philosophiegeschichtlichen Kontext eingeordnet und korrigiert.

So schenkt einem die Lektüre dieser doppelten Biographie — derjenigen des Paters und Begründers des Husserl-Archivs Van Breda sowie derjenigen des Nachlasses von Husserl –, die sich passagenweise wie ein Roman liest, ohne die sachliche Ebene der Fakten je aus dem Blick zu verlieren, aus einer ungewöhnlichen Perspektive heraus einen tiefen historischen Einblick in das Schicksal und Handeln einzelner Menschen in einer vom Schatten der Kriegsgewalt verfinsterten Zeit.

Bibliographische Angaben
Toon Horsten: Der Pater und der Philosoph — Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis, Galiani Berlin (2021)
Aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas
ISBN: 9783869712116

Bildquelle
Toon Horsten, Der Pater und der Philosoph
© 2021 Galiani Berlin bei Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderRüdiger Zill: Der absolute Leser — Hans Blumenberg, eine intellektuelle Biographie

Rüdiger Zill stellt seine Biographie von Hans Blumenberg unter das Motto des „absoluten Lesers“ und charakterisiert damit nicht nur das unstillbare Lesebedürfnis des Philosophen, für den die zuerst lesende, dann schreibende Auseinandersetzung mit Texten zeit seines Lebens Antrieb seines Denkens war, ja dessen Werk selbst als fortgesetztes Lesen bezeichnet werden könnte, sondern umreißt damit auch schon die ambitionierte Zielsetzung eines Textes, der Hans Blumenberg als Person und in seinem Denken einfangen möchte, ohne ihn jedoch in absolut gestellten Begriffen seiner Philosophie gefangen zu halten.

Gerade der Begriff des Absoluten würde sich dafür ja durchaus anbieten, lässt er doch an die „absolute Metapher“ aus Blumenbergs Philosophie der Unbegrifflichkeit denken, der Metaphorologie, die eine große Rolle in seinem Denken spielt, oder auch an den „Absolutismus der Wirklichkeit“, in dem er, pointiert gesagt, seine Theorie der Metaphorologie in eine Anthropologie überführt, die die Geschichte des menschlichen Denkens und Handelns zugleich konstant und variantenreich auf eine als übermächtig erfahrene Wirklichkeit bezogen versteht und die etwa sein Kollege Odo Marquard nicht zu Unrecht als Blumenbergs philosophisches Herzstück betrachtet. Doch so wie sich Hans Blumenbergs auf die Spitze getriebene Hermeneutik des absoluten Lesers als letztlich unabschließbares Projekt versteht, so verwehrt sich sein Biograph explizit gegen jeden absoluten Ansatz. Vielmehr geht es Rüdiger Zill vor allem darum, Leben und Werk zu kontextualisieren und das Prozesshafte in Blumenbergs Denken herauszuarbeiten, das ohne Zweifel große, wiederkehrende Lebensthemen aufwies, sich über die Jahre und Jahrzehnte jedoch auf bemerkenswerte Weise immer wieder wandelte, sich der Zeit, den (Lese-) Erfahrungen anpasste, sich formte und umbildete und immer wieder neue, unerwartete Wege und Umwege einschlug.

Rüdiger Zill, Herausgeber der 2019 erschienenen Schrift Die nackte Wahrheit aus dem Nachlass Blumenbergs und selbst Philosoph, ist sich der Herausforderung seines biographischen Unterfangens bewusst, die auch darin besteht, dass der, über den er schreibt, sich anders als seine sehr präsenten Kollegen Adorno oder Habermas zunehmend der Öffentlichkeit entzog; und er stellt sich dieser Herausforderung mit Bravour, mit stilistischem Feingefühl und enormem Erkenntnisgewinn für den auf Blumenbergs Denken und Leben neugierigen Leser. Der Untertitel „intellektuelle Biographie“ trifft, wie ich finde, ziemlich gut, was einen erwartet: ein Buch, das sich nicht oberflächlich oder voyeuristisch am Privaten entlang hangelt, sondern tief in das Denken eines Menschen eintaucht und auf diese Weise fast en passant auch einige bezeichnende Charakterzüge offenlegt, die einem Blumenberg auch als Person näherbringen.

Und natürlich hat sich der Biograph, sich am Ideal des absoluten Lesers orientierend, intensiv mit dem umfangreichen Werk des Philosophen auseinandergesetzt, hat nicht nur die zu Lebzeiten erschienenen wissenschaftlichen Texte studiert, sondern auch alle möglichen weiteren Quellen: unveröffentlichte Schriften, Briefe, Feuilletonartikel, Typoskripte — und nicht zuletzt auch Blumenbergs mit Leselisten und Zettelkästen reich dokumentierte intellektuelle Vorarbeiten eines nicht immer in Veröffentlichungen mündenden unermüdlichen Denkens. Die Vertrautheit Zills mit dem Werk des Philosophen, aus dem er viele spannende Passagen zitiert, spürt man auf jeder Seite. Geschmeidig bewegt er sich durch komplexe Gedankengänge, ja macht sich fast selbst schon das Denken Blumenbergs in seiner Argumentation zu eigen, spinnt es weiter, in einem reflektierten und kritischen Dialog mit dem Philosophen, dessen Gedanken er in ihrer Genese ebenso sichtbar macht wie in ihrer immer wieder frappierenden Tauglichkeit für heute und für die Zukunft.

So liegt ein Hauptverdienst des Buches auch darin, dass es all die Verknüpfungen herausarbeitet, zwischen Philosophie und Leben, Lesen und Schreiben, zwischen den verschiedenen Phasen seines Lebens und Denkens. Um das zu erreichen, hat Zill auch eine für eine Biographie zunächst etwas ungewöhnlich erscheinende Komposition gewählt. Er unterteilt sein Buch in drei große Teile: Der „Beschreibung des Lebens“, einem im engeren Sinne biographischen ersten Teil, folgt in „Arbeit am Werk“ ein kürzerer Abschnitt über die verschlungenen Wege von Blumenbergs Publizieren und Schreiben, die nicht immer einfache Beziehung zu Verlegern und Redakteuren, zu seinem Publikum, und in „Der Prozess einer philosophischen Neugierde“ ein umfangreicher dritter Teil, in dem sich Zill vor dem bereits geschilderten Hintergrund von Leben und Publikationstätigkeit auf Blumenbergs Philosophie konzentrieren kann, deren Wesen oder „Selbstverständnis“, wie er es nennt, er anhand mehrerer Schlüsseltexte herausarbeiten möchte.

Auch wenn nicht viele Äußerungen Blumenbergs über seine Kindheit und Jugend überliefert sind und er ja ohnehin generelle Vorbehalte gegenüber memoirenhaften Erinnerungen hatte, lassen sich doch ein paar aufschlussreiche biographische Erfahrungen herausarbeiten, die auch so manche Entwicklungen seines Lebens und Denkens verständlicher machen. 1920 in Lübeck geboren erlebte Hans Blumenberg das Dritte Reich als Jugendlicher und junger Mann. Ebenso wie ihn der Katholizismus des Vaters und der Humanismus seiner ersten Schule prägten, hinterließ auch die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Krieges Spuren in ihm, hielt sie doch eine Art ersten schmerzhaften Kontakt mit dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ für ihn bereit: Als Sohn einer zum Christentum konvertierten Jüdin gestaltete sich der Beginn seiner akademischen Laufbahn schwierig; studieren durfte er aufgrund der restriktiven antisemitischen Politik zunächst nur an einer katholischen Hochschule und bald überhaupt nicht mehr. 1942 wurde sein Elternhaus — und mit ihm auch die gesamte Bibliothek des in alle Richtungen belesenen jungen Mannes, für den in den Worten Zills „diese Nacht eine Art ersten Tod“ (S. 7) bedeutete — bei einem Flächenbombardement zerstört und Blumenberg zum Arbeitsdienst verpflichtet; später wurde er für einige Zeit in einem Arbeitslager interniert, und die letzten Wochen vor der Kapitulation verbrachte er untergetaucht in der Dachkammer einer Lübecker Schuhmacherfamilie, deren Tochter dann seine Frau und die Mutter von insgesamt vier gemeinsamen Kindern wurde.

Nachdem es während dem Krieg zeitweise so ausgesehen hatte, als stünde ihm eine Laufbahn als Firmenangestellter bevor, nutzte er schon im Wintersemester 1945/46 die Gelegenheit, sich an der Universität in Hamburg für die Fächer Philosophie, Germanistik und Griechisch zu immatrikulieren. Getrieben von dem Gedanken, die verlorene Zeit aufzuholen und außerdem in Sorge, seine junge Familie zu versorgen, absolvierte er sein Studium in kürzester Zeit und schloss schon 1947 seine Dissertation ab. Sein Doktorvater war der Phänomenologe Ludwig Landgrebe, dem er an die Universität Kiel folgte, wo er sich — nach einigem universitären Streit — auch habilitierte. Die nächsten Stationen seiner Laufbahn waren Hamburg, Gießen, Bochum und zuletzt bis zu seiner Emeritierung 1985 Münster, unter seinen Weggefährten befanden sich der Altphilologe Bruno Snell, der Romanist Hans Robert Jauß, mit dem er die einflussreiche Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ gründete, und für eine kurze Zeit auch Jürgen Habermas, mit dem er die Reihe „Theorie“ im Suhrkamp Verlag herausgab. Rüdiger Zill schildert Formen des ergiebigen geistigen Austausches Blumenbergs mit Lehrern, Förderern und Kollegen, genauso aber auch, wie er immer wieder aneckte, sich mit universitären Autoritäten oder Verlegern anlegte, Projekte beendete, wie er — auch als er sich längst einen Namen gemacht hatte, — zeitlebens das Gefühl hatte, um die Anerkennung seiner Arbeit ringen zu müssen.

Während sich die Charakterisierung Blumenbergs als vielseitig interessierter und exzessiver Leser — Zill nennt ihn einen „bibliophile(n) Allesfresser“ und „intellektuellen Freigeist“ (S. 99), der sich für Wissenschaft, Technik, Philosophie und eben auch für die schöne Literatur interessierte — wie ein roter Faden durch das Buch zieht, geht insbesondere aus dem zweiten Teil hervor, wie die Prozesse des Lesens und Schreibens einander wechselseitig bedingten. Aufschlussreich ist, dass sich der Philosoph gerade in seinen Anfängen intensiv mit literarischen Texten auseinandersetzte, seinen auf das Narrative, Anschauliche ausgerichteten Stil nicht zuletzt an Interpretationen von Dostojewski, Kafka, Valéry schulte und sich in seinen frühen Beiträgen fürs Feuilleton, wie Zill das nennt, auch für seine philosophischen Texte „freischreiben“ konnte. Immer auch kritisch mit sich selbst, freute Blumenberg sich umso mehr über das Lob seines Redakteurs Neukirchen, bei dem er seinen ersten wissenschaftlichen Aufsatz für die Zeitschrift Studium Generale eingereicht hatte:

„Du hast sehr genau gemerkt, was mir die Sprache, das Wort bedeuten, daß ich mich mit der Korrosion und Erosion gerade des wissenschaftlichen Wortschatzes nicht abfinden mag und mich doch auch von Heideggers Etymologisterei abgestoßen fühle, daß ich also dem Begriff seine Obertöne an Bedeutung zurückzugeben bestrebt bin (…).“

Blumenberg, zit. nach Zill, Der absolute Leser, S. 211

Zum Feuilleton, mit dem er in den 1950er Jahren sein Schreiben begann, kehrte er am Ende seines Lebens auch wieder zurück, mit Glossen für Tageszeitungen, geisteswissenschaftlichen und kulturkritischen Texten. Dazwischen liegt als sichtbarer Höhepunkt die Publikation einer Reihe von Monographien, mit denen er — bezeichnenderweise erst spät, nachdem er längst ordentlicher Professor war — auch über die akademischen Kreise hinaus Berühmtheit erlangte: Die Legitimität der Neuzeit, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Arbeit am Mythos, Die Lesbarkeit der Welt — um nur ein paar der bekanntesten Titel zu nennen. Darüber hinaus gibt es jedoch noch eine Vielzahl an Texten, in denen sich die verschiedenen Stadien des intellektuellen Lese- und Schreibprozesses spiegeln, Vorlesungsskripte etwa, Vorträge, Aufsätze für Fachzeitschriften. Und es gibt Blumenbergs Leselisten und Zettelkästen, die so einiges über seine Denk- und Verstehensprozesse verraten. Zill führt in einem sehr spannenden Kapitel aus, wie sich der experimentelle Umgang mit dem Material auch auf weiteren Stufen fortsetzt, wie Blumenberg zunächst für die Vorlesungen eine erste schriftliche Verarbeitung seiner Gedanken unternimmt, wie diese später dann in Aufsätze umgewandelt und aus den Aufsätzen wiederum durch weitere Prozesse „des Schreibens und Umschreibens, des Erweiterns und Revidierens“ (S. 395) Monographien entstanden.

Entsprechend legt Zill den Fokus auch im dritten Teil, in dem die Philosophie im Zentrum steht, auf das Prozessuale, die Wandelbarkeit und Offenheit von Blumenbergs Denkens. Früh interessierte ihn der Zusammenhang von Wissenschaft und Wahrheit, und die Rolle, die die Philosophie in diesem Kontext einnimmt. Die Auseinandersetzung mit den philosophischen Strömungen seiner Zeit und gewiss auch seine eigene Lebenserfahrung brachten ihn dazu, dem Absoluten in jeder Hinsicht zu misstrauen und die Geschichtlichkeit des Menschen und seines Denkens, quasi als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, in den Vordergrund auch und gerade der Philosophie zu rücken. Für ihn, der sich empörte, wenn man ihn einen bloßen Philosophiehistoriker nannte, gehörten auch in der Philosophie Geschichte und System untrennbar zusammen. Über seine Forschungen zur Wissenschaftsgeschichte und mehr und mehr auch der Geschichte der Technik kristallisierte sich allmählich der Gedanke der Freiheit heraus und eröffnete einen neuen Weg zu einer Kritik der reinen Rationalität:

Kopernikus ist für Blumenberg nicht einfach der Befreier, der dieses System [das dogmatische Weltbild des Mittelalters] durch den Gebrauch der Vernunft zerschlagen hat, sondern jemand, dessen Denken überhaupt erst möglich war, nachdem sich dieses System aufgrund seiner inneren Widersprüche selbst zersetzt und dadurch einen Raum für Gedankenspiele eröffnet hatte (…).

Zill, Der absolute Leser, S 469

So wie Blumenberg die Philosophie nun als werdendes Selbstbewusstsein des Menschen verstand, verschob sich der Fokus seines Interesses von der Geistesgeschichte zur Anthropologie. Dabei rückte dann auch ein früheres Randthema auf einmal prominent in den Vordergrund, nämlich seine Gedanken zur Metaphorologie. Das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen betrachtete er grundlegend als ein metaphorisches, also eines der Distanz. Und über diese Umwegstruktur der Metapher, die den indirekten, verzögerten, umständlichen Bezug zur Wirklichkeit kennzeichnet, über die Erforschung von kleinen Formen der „Unbegrifflichkeit“ wie der Anekdote oder der Fabel, gelangte er schließlich zu seiner Philosophie der Umwege und der Antimethode (in Analogie und Abgrenzung zu Descartes‘ Discours de la méthode), die ihn am Ende seines Lebens am meisten beschäftigte und die sich auch publizistisch im Übergang zu den Formen des Fragments und der Glosse niederschlug. Das Narrative, per se dem Umweg verpflichtet und gegen das Diktat der Effizienz gerichtet, blieb auch diesen kurzen Formen erhalten, und lässt sich generell als Charakteristikum seiner Schriften betrachten, die nicht immer einfach zu lesen, aber zur Freude auch des heutigen Lesers stets auf Anschaulichkeit bedacht sind.

„Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück?“ — „Sagen zu können, was ich sehe.“

Blumenberg, zit. nach Zill, Der absolute Leser, S. 78

Der Umweg im Sinne Blumenbergs verstanden als Abenteuer, das nicht ziel- und zwecklos ist, sondern überraschende Erkenntnisse liefert, ist auch ein wenig das Strukturprinzip von Rüdiger Zills Biographie. Sie erfordert bei den vielen und vielfach verknüpften Gedankengängen, die sie verfolgt, einiges an Konzentration, und ist daher auch als Einstiegslektüre zu Blumenberg nicht wirklich geeignet. Wer sich aber für Philosophie begeistert und Blumenberg vielleicht bereits in dem einen oder anderen Text begegnet ist, kann sein Verständnis von seiner Philosophie in diesem Buch wunderbar vertiefen — und sich beeindrucken lassen, wie zeitlos bzw. wie zeitgemäß gerade heute sein Denken erscheint.

Rüdiger Zill: Der absolute Leser — Hans Blumenberg, eine intellektuelle Biographie, Suhrkamp (2020)
ISBN: 9783518587522

bookmark_borderKate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir — Ein modernes Leben

Eine in ihrem Detailreichtum und ihrem differenzierten, genauen Blick zugleich ungemein fesselnde und bereichernde Biographie!

Ich war überrascht, auf welche Vorurteile und Klischees diese intelligente und empathische, aber — zum Glück — eben auch eigenwillige Frau selbst am Ende ihres Lebens noch stieß, nach all den überzeugenden Beweisen ihres philosophischen und literarischen Talents, wenn sie in der Presse als „eifersüchtige Geliebte“ oder bloße „Jüngerin von…“ geschmäht wurde.

Natürlich war sie, waren ihr Denken und Werk, aufs engste mit Sartre verbunden, die beiden unterstützten und beflügelten sich gegenseitig in ihrer so ungewöhnlichen, so viel Erstaunen und auch Häme erntenden intellektuellen Freundschaft, die ein Leben lang hielt. Doch Kate Kirkpatrick, selbst Philosophin, macht eindrucksvoll deutlich, dass die junge Simone ihre Philosophie schon vor ihrer Begegnung mit Sartre zu entwerfen begonnen hatte und auch später ihre eigenen Wege ging, sowohl gedanklich als auch was ihre Beziehungen betraf, unter denen Sartre zwar einen besonderen, aber längst nicht den einzigen Platz einnahm.

Die Autorin wertet mit großem Erkenntniswert die erst in den Jahren nach Beauvoirs Tod veröffentlichten und vorerst nur in französischer Sprache vorliegenden Korrespondenzen aus, die einiges in einem neuen Licht erscheinen lassen und manches auf erhellende Weise zum Vorschein bringen, was Beauvoir selbst in ihren literarisierten Memoiren unter den Tisch hat fallen lassen. Vor allem zeigt sich, dass Beauvoir, die sich eher als Literatin sah, als Philosophin einen absolut eigenständigen Platz neben dem von seiner wohlhabenden Herkunft und seinem Geschlecht begünstigteren und in der Nachwirkung berühmteren Freund Sartre einnimmt. So beschränkt sich ihr Verdienst nicht nur auf ihr freilich einschneidendes, den Feminismus prägendes Werk Das andere Geschlecht, das v.a. in den angelsächsischen Ländern bis vor kurzem nur in einer stark gekürzten Fassung vorlag und lange Zeit — da in die Alltagsforschung hineinreichend — nicht als den wissenschaftlichen Kriterien entsprechend anerkannt war, sondern besteht auch in der wichtigen Leistung, den Existenzialismus und seinen Freiheitsgedanken in der sozialen Erfahrungswelt der Menschen verankert zu haben. In dieser Hinsicht war wohl auch sie es, die auf Sartres Philosophie einwirkte, der seine Texte im Übrigen nie ohne Beauvoirs Gegenlesen veröffentlichte. Und eben da rührte wohl auch Beauvoirs Vorliebe zum Literarischen her: in bester Kierkegaard’scher Tradition die Philosophie in die Lebenswelt der Menschen zu tragen.

Man ist ganz fasziniert und voll Bewunderung, wenn man Kirkpatricks Schilderungen von Beauvoirs Leben folgt, obwohl oder gerade weil sie die Philosophin nicht als unfehlbar und entrückt, sondern in ihren mal mehr, mal weniger sympathischen Eigenheiten beschreibt.

Ein absolut lesenswertes, sehr lebendiges (Zeit-)Zeugnis des Lebens einer ganz besonderen Frau im 20. Jahrhundert!

Bibliographische Angaben
Kate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir — Ein modernes Leben, Piper (2020)
Übersetzt von Erica Fischer und Christine Richter-Nilsson
ISBN: 9783492070331

Bildquelle
Kate Kirkpatrick, Simone de Beauvoir — Ein modernes Leben
© 2020 Piper Verlag GmbH, München

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