Jackie Thomae: Brüder

Jackie Thomae hat einfach einen wunderbaren Stil, sie erzählt so lebendig und so wirklichkeitsnah, dass auch komplexere Themen, die persönlichen und gesellschaftlichen Konflikte, mit denen sie ihre Figuren konfrontiert, ganz leicht und natürlich in der Handlung aufgehen und zugleich nichts an Differenziertheit einbüßen. Man hat Spaß beim Lesen, ist gefesselt und amüsiert, und gerät zugleich, animiert von der intelligent komponierten Vielstimmigkeit des Textes, in einen Modus der Nachdenklichkeit, des Weiterdenkens, des gedanklichen Weiterspinnens auch der tollen Dialoge, in denen die Autorin verschiedene Ansichten, Einstellungen, Werturteile in ihrer Subjektivität entlarvend und doch einfühlsam aufeinandertreffen lässt.

Ein großes Thema des Romans ist ja gerade auch die Hinterfragung von Vorurteilen, ob sie nun auf Misstrauen und Feindseligkeit aufbauen oder auf vorschnellen oder gar gut gemeinten, doch letztlich auch wieder vereinnahmenden und diskriminierenden Annahmen. Denn mit solchen müssen sich die beiden titelgebenden „Brüder“, die eigentlich Halbbrüder sind und die nicht gleichzeitig, sondern nacheinander im Zentrum der Handlung stehen, immer wieder auseinandersetzen, und meistens nervt sie das ganz gewaltig. Zugleich treibt sie die Frage nach ihrer Herkunft, ihrer Identität, ihrem Platz in der Welt natürlich auch selbst um. Sie heißen Mick und Gabriel, beide haben sie einen – wie sich für den Leser recht schnell herausstellt, auch denselben – schwarzen Vater, der in den 1970er Jahren in der DDR, dann in Westberlin Medizin studierte, mindestens zwei ostdeutsche Frauen liebte, nach seinem Studium aber wieder zurück in die afrikanische Heimat ging und aus dem Leben seiner zwei Söhne und ihrer Mütter verschwand, beide sind sie in Ostdeutschland aufgewachsen – und beide könnten sie doch sonst nicht unterschiedlicher sein:

Mick, von dem im ersten Teil erzählt wird, ist ein eher unzuverlässiger, unbeständiger und doch irgendwie auf seine Weise aufrichtiger und grundsympathischer Draufgänger, der in den 1990er Jahren des wiedervereinigten Berlin hauptsächlich nachts eine wilde Zeit verbringt, seine Lehre abbricht, sich zeitweise und mit peinlichem Ausgang in dubiose Drogengeschäfte verwickeln lässt und dann eine Weile als Mitbetreiber eines Clubs Arbeit und Spaß unter einen Hut zu bringen scheint. Doch das Leben hält immer wieder Unvorhergesehenes bereit, der Millenniumswechsel wird für Mick zur Rundumkatastrophe, alles bricht zusammen, er verliert seine Freundin Delia und zeitweise sein Gehör, und sein bisheriger Lebenswandel erweist sich als fragiles Konstrukt.

Nach einem kurzen zweiten Teil, in dem quasi als verbindendes Element der Vater Idris auftritt, seiner Person und seiner Lebenswelt Raum gegeben werden, beginnt der dritte Teil über den anderen Bruder Gabriel seinerseits mit einem Zusammenbruch, allerdings fast zwei Jahrzehnte nach Micks Millenniumsdebakel. Dabei hatte sich Gabriel konsequent ein erfolgreiches Leben aufgebaut, mit dem er absolut zufrieden schien. Er lebt schon lange in London, hat Familie und ist ein international angesehener, gut verdienender Architekt. Wie kommt er dazu, sich durch eine Banalität derart provozieren zu lassen, dass er einer — noch dazu jungen weiblichen und dunkelhäutigen — Passantin gegenüber völlig ausrastet und handgreiflich wird? Seine Frau Fleur spricht von Burn-Out, was er nicht hören will, genauso wenig von angeblich verdrängten Komplexen wegen seiner Herkunft. Im Laufe der weiter in die Vergangenheit zurückreichenden Erzählung werden jedenfalls so einige Konfliktlinien und Unsicherheiten sichtbar, die sein Leben und auch das seiner Frau durchziehen. Und dann gibt es auch noch den gemeinsamen Sohn, der ein nicht so leicht zu bändigender Teenager geworden ist und mit dem die Frage nach Identität und Zugehörigkeit wieder eine Generation weitergetragen wird.

Ob und wie die Fäden der einzelnen Lebensgeschichten letztlich zusammengeführt werden, sei hier nicht verraten. Was aber unbedingt hervorgehoben werden muss, ist die grandiose Zeichnung der Figuren, die allesamt wie unmittelbar aus dem Leben gegriffen sind und deren vielschichtige Persönlichkeiten die Autorin mit dem Gang der Geschichte kontinuierlich weiterentwickelt und in immer neuen Aspekten einzufangen versteht.

Neben den Hauptfiguren Mick und Gabriel bekommen viele weitere Figuren ihre eigene Stimme, sind ihrerseits gebrochene, schillernde Charaktere, allen voran die beiden Frauen Delia und Fleur und Gabriels Sohn Albert, aber zum Beispiel auch Micks Mutter Monika oder ein alter, inzwischen sozial abgerutschter Schulkamerad von Mick, der ihn Jahre später rassistisch beleidigt und in eine Prügelei verwickelt. So wird ein ganzer bunt gemusterter Teppich an Lebenswegen und -modellen gewoben, die miteinander konkurrieren, sich beeinflussen und in einer unaufhörlichen Wechselwirkung stehen.

Identität gibt es bei Thomae somit nur im Plural. Im Sinne von Kwame Appiah, der in seinem Sachbuch mit dem Titel Identitäten essentielle Kategorien der Zuschreibung von Identität wie Rasse oder Religion dekonstruiert, sind in Thomaes Roman die Figuren so viel mehr als ihre Herkunft, die im Übrigen allein ohnehin schon zu komplex wäre, um sie eindeutig zu definieren: In der alten BRD ist Gabriel der Ossi, in London der mit dem deutschen Akzent, und wo passt dann da noch die afrikanische Herkunft mit hinein oder der Shitstorm, in dem er absurderweise plötzlich den alten weißen Mann verkörpert? Die „Brüder“ sind Individuen, mit ihren ganz eigenen Stärken und Schwächen, eigenwillig, stur und liebenswert, und die sich natürlich trotzdem wie wir alle zugleich als gesellschaftliche Wesen in gewissen Rollen wiederfinden und positionieren müssen. Der Roman zeigt sehr überzeugend dieses nie enden wollende Ringen zwischen einer tiefen Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Heimat, Herkunft einerseits, und dem ebenso starken Wunsch, sich allen festen und eben auch einengenden Zuschreibungen zu entziehen.

Psychologische und soziologische Beobachtungsgabe verbinden sich hier auf so grandiose Weise mit Erzähltalent und einer weltoffenen, intelligenten, humorvollen und empathischen Haltung, dass man den Roman Brüder, der auch auf der Shortlist des deutschen Buchpreises stand, durchaus ein modernes Gesellschaftsepos nennen darf, dessen Lektüre unbedingt ans Herz zu legen ist!

Bibliographische Angaben
Jackie Thomae: Brüder, Hanser 2019
ISBN: 9783446264151

Bildquelle

Jackie Thomae, Brüder
© 2019 Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

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