bookmark_borderGertrud Leutenegger: Matutin

Die Matutin, die ihren Ursprung in den rituellen Nachtwachen der frühen Christen hat, wird in der katholischen Liturgie in den ganz frühen Morgenstunden, im Hinübergehen von der Nacht zum Tag, gebetet. Dieses Transitorische zwischen zwei Wirklichkeits- oder vielleicht eher Wahrnehmungszuständen charakterisiert auch ganz stark den 2008 erschienenen gleichnamigen Roman der Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger (1948-2025), die trotz einiger literarischer Auszeichnungen in der Öffentlichkeit wenig bekannt war.

Matutin ist ein stiller Roman, der ganz wunderbar von der Sprache und den sprachlich erzeugten Bildern getragen wird. Gertrud Leutenegger war auch Lyrikerin, das merkt man dem Text an, der einen auf eine Weise in Bann zieht, die man gar nicht recht begreift, und der einen Spannungsbogen schafft, der nicht von den wenigen und im Schwebezustand des Unvollendeten verbleibenden Handlungselementen abhängig ist, sondern durch eine Wiederholung, Variation und Verdichtung der Motive und Bilder entsteht. Dabei folgt der Text in einer lyrischen Prosabewegung zwei scheinbar entgegengesetzten literarischen Pfaden, denn die Bilder verleihen sowohl dem Schrecklichen der Existenz einen Ausdruck von unaufgeregter Eindringlichkeit als auch dem Alltäglichen einen nachschwingenden Zauber, der aber nichts Mystifizierendes hat.

Der ganze Roman ereignet sich in einem Raum des Dazwischen, evoziert einen Schwellen- und Schwebezustand, in dem Joseph Vogl in einem kürzlich erschienenen Essay (Meteor — Versuch über das Schwebende, C.H. Beck 2025) eine besondere Qualität des Literarischen, wie sie etwa bei Robert Musil oder Franz Kafka hervortritt, ausgemacht hat. In Leuteneggers Text ist der Turm, der auf einem Floß in der Bucht eines Sees gelegen ist, an dessen Ufern sich die Stadtkulisse mit ihren Hotels erhebt, das dinghafte Symbol für diesen Raum des Dazwischen; ein Bauwerk, das so vertraut wie unheimlich wirkt, so bedrohlich wie bedroht, scheinbar fest erbaut, und doch wandelbar. Zu Beginn des Romans wird die Erzählerin für eine vorübergehende, vergängliche, ihr vorher nicht bekannte Zeitspanne die Kustodin dieses Turmes; 30 Tage und Nächte werden es sein, die den 30 Kapiteln des Romans entsprechen. Für sie und für uns Leser ist der Eintritt in den Turm eine Rückkehr in die Innenwelt ihrer Kindheit, die sich mit der Vergangenheit des Turms zu überlagern beginnt. In Wirklichkeit nur ein Nachbau, eine Konstruktion aus Holz, dient er als eine Art Museum oder Dokumentationsstelle für das ehemalige Handwerk der Vogelfänger in der italienischen Schweiz.

Die Vogelmetaphorik überzieht in vielen Schattierungen den ganzen Roman, das Textgewebe erscheint als Vogelschwarm, der Vergangenheit und Gegenwart und auch die Figuren und Motive miteinander verbindet. Erinnerungen an eine verletzte Amsel, die sich ins Elternhaus geflüchtet hatte, und an den vogelliebenden Vater sind mit dem Motiv des Hütens und Versorgens verknüpft, während die im Turmmuseum dokumentarisch belegten Vorgehensweisen der Vogelfänger, die die Erzählerin und Turmwächterin den Besuchern nahebringen soll, von erschreckender Brutalität und Gewaltsamkeit sind: Vögel, die gejagt, gequält, getötet wurden, geblendete und malträtierte Lockvögel, Zugvögel, die sich in einem jenseits des Turms gepflanzten Baumkorridor verirren und verfangen sollten. Der Turm erscheint hier geradezu als Hort der Gewalt, als böse Täuschung eines sicheren Hafens.

In diesen hat sich auch die Erzählerin geflüchtet, wohl ahnend, dass es sich hier weniger um einen Schutzraum denn um einen Konfrontationsraum handelt, auch um einen Raum der Konzentration, im wörtlichen Sinne eines Sich-Zentrierens. So ist die Turmwächterstelle auch mit strengen Regeln verbunden, die einen religiösen, asketischen Charakter haben. Nach Einbruch der Dunkelheit ist im Turm Stillschweigen geboten, die Mahlzeiten sind frugal, jeden Tag wird die gleiche Polenta vor die Tür gestellt. Als tatsächlich ein Besucher im Turm Unterschlupf sucht, Victoria, eine junge Frau mit vermutlich südamerikanischem Akzent, die ihr gesamtes Hab und Gut in ein paar Plastiktüten mit sich trägt, werden diese Regeln immer wieder leicht gebrochen. Victoria möchte eigentlich nichts von den Vogelfängern hören, über die die Erzählerin ihre Gäste informieren soll, doch erzählt sie irgendwann ihrerseits von der blutigen Opferung eines Kondors in ihrer Heimat. Auch sie hat Dinge zu verarbeiten, auch ihre Geschichte ist die eines Exils, sie erscheint wie ein trotz seiner Stärke verletzlicher Zugvogel, der die Turmhüterin irritiert und fasziniert, und der ihr ans Herz zu wachsen beginnt.

Die Erinnerung, die bei der Erzählerin wie auch bei Victoria von der besonderen Atmosphäre des Turmes ausgelöst zu werden scheint, stellt sich als ein flüchtiger, schwebender Zustand dar, der von Andeutungen und kurz aufscheinenden Momenten des Wiedererkennens gespeist wird. Die Ich-Erzählerin meint, im Sekretär, der ihr jeden Tag die Polenta vorbeibringt, eine Person aus ihrem früheren Leben wiederzuerkennen, Victoria lässt einmal fallen, die Turmwächterin in den Hotels, in denen sie gearbeitet hat, schon gesehen zu haben. Weitere Figuren, die die Erzählerin mit ihrem früheren Leben verbindet, tauchen schemenhaft auf, der Architekt des Turmnachbaus im schwarzen Mantel, ein Mädchen, das mal mit Pagenkopf, mal mit langen Haaren draueßen vor dem Turm erscheint und ihr von unten zuwinkt. Ist es ihre Tochter, die sie in der Andeutung einer schmerzhaften Geschichte einmal erwähnt, oder ist sie es selbst als junges Mädchen? Die Figuren verschmelzen, wie alle Eindrücke der Erzählgegenwart, mit den Bildern der Erinnerung, auch Vögel und Menschen werden ununterscheidbar, Zugvögel und Migranten, unerschütterlich bleibt vielleicht nur die Erfahrung des Exils.

Dass dieser Roman einen wie ein luftiges Seidentuch so fest umhüllt, dass er Abdrücke hinterlässt, liegt an der kunstvollen Verdichtung des Stoffes, der im gleichen Atemzug luftig, durchlässig erzählt wird; nicht leicht, denn es ist auch viel Schwermut darin, doch alles Schmerzliche, Lastvolle, Grausame der Existenz erscheint zugleich als vorübergehend, als verwandelbar. Das Schwere wird nicht negiert, es zeichnet das Leben, doch wird es in Matutin literarisch in einen Zyklus von Werden und Vergehen eingeordnet, der der religiösen Zeiterfahrung des Stundengebets entspricht. Der Turm erscheint letztlich als ein Durchgangsort, der Refugium und Aufbruch miteinander verbindet und in dem in einigen flüchtigen Augenblicken das Geheimnis der Verwandlung aufleuchtet: die möglich wird in der alltäglich-mystischen Begegnung.

Bibliographische Angaben
Gertrud Leutenegger: Matutin, Suhrkamp 2015
ISBN: 9783518466247

Bildquelle
Gertrud Leutenegger, Matutin
© 2025 Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin

bookmark_borderNadia Terranova: Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand

Mit den grandiosen Romanen der geheimnisvollen italienischen Schriftstellerin, die sich Elena Ferrante nennt und deren Platz in den Bestsellerlisten wirklich einmal ein auch literarisch verdienter ist, scheint hierzulande die Neugier auf italienische Autorinnen sichtbar gewachsen zu sein. Die sich außerdem trotz ganz unterschiedlicher Handlungsentwürfe doch an bestimmten gemeinsamen Interessenfeldern abzuarbeiten scheinen. Letzes Jahr etwa wurde ein Roman von Rosa Ventrella, Die Geschichte einer anständigen Familie, aus dem Italienischen übersetzt, das deutsche Cover erinnert wohl nicht zufällig an die Neapel-Saga Ferrantes; auch Ventrella betont den Bezug zur regionalen Herkunft, die Geschichte spielt in Bari, wo die Autorin auch selbst aufgewachsen ist, es geht auch bei ihr um die sozio-psychologischen Konflikte einer Familie und um die konfliktreichen emotionalen und intellektuellen Bedürfnisse eines in einengenden Traditionen zur jungen Frau heranwachsenden Mädchens.

Auch die junge sizilianische Schriftstellerin und Kinderbuchautorin Nadia Terranova, Jahrgang 1978, die u.a. für den Premio Strega nominiert wurde, kann man in diesem regionalen, weiblichen literarischen Kontext verorten, gleichwohl sie wieder eine ganz eigene Erzählweise hat. Ihr nun ins Deutsche übersetzter Roman über eine junge Frau aus dem sizilianischen Messina, deren an Depression erkrankter Vater aus ihrem Leben und ihrer Familie verschwand, als sie ein dreizehnjähriges Mädchen war, ist ein ganz schmales Buch, das mich mit seiner großen poetischen und psychologischen Dichte sehr beeindruckt hat.

Der sehr übersichtliche Schauplatz der Geschichte, der aber einen großen Raum in die subjektiv erinnerte Vergangenheit der Ich-Erzählerin, Ida, eröffnet, ist das Haus ihrer Eltern bzw. ihrer Mutter in Messina, das überquillt vor allzu lange aufbewahrten Gegenständen und eben auch Erinnerungen. Dorthin kehrt die inzwischen erwachsene Ida, die sich ein neues Leben mit ihrem Mann in Rom konstruiert hat, zu Beginn der Erzählung zurück, nachdem ihre Mutter ihr am Telefon angekündigt hat, das Haus ausräumen, sanieren und verkaufen zu wollen. Sie kommt ohne ihren Mann an diesen Ort ihrer Kindheit und der schmerzhaften Erinnerung zurück, um ihre beiden so verschiedenen Welten, Gegenwart und Vergangenheit, römische Hauptstadt und sizilianische Heimat, die sie allzu säuberlich auseinander hält, nun doch irgendwie in ein Verhältnis zu setzen. Ida ist — und das ist nicht ganz unwichtig — Autorin, sie schreibt Texte fürs Radion, fiktionalisierte Erzählungen, für die sie auf Erlebtes und Beobachtetes zurückgreift. Auf diese Weise schreibt sich die Aufarbeitung ihrer Kindheit und Jugend auch metaliterarisch in den Text ein — auch etwas, was an Elena Ferrante erinnert –, wenngleich das an der Oberfläche erfüllte Leben der Erzählerin und Texterin bisher eher einer Fluchtbewegung geschuldet ist, einer Vermeidung jeder tieferen Konfrontation mit der Vergangenheit, die sie daher unbewusst umso schwerer zu belasten scheint.

Die Rückkehr nach Messina stellt insofern einen Wendepunkt in Idas Leben dar, der eine gewisse inwendige Notwendigkeit zu haben scheint. Denn als sie sich in ihrem alten Kinderzimmer wiederfindet, kann sie sich der beängstigenden Versuchung des Blickes zurück, dem sie so lange durch ihre Flucht nach vorne entgangen war, nicht mehr entziehen. Schlaflos, zurückgeworfen auf ihr Inneres, setzt sie sich mit den realen und den ideellen, emotionalen Räumen ihrer Vergangenheit auseinander, öffnet sich für das, was in ihrer Erinnerung überdauert hat, sucht nach den Puzzleteilen ihrer eigenen Geschichte und ihres eigenen Selbst, dessen Autonomie nur im Prozesshaften erlangt werden kann und auch auf der bewussten, kreativen Auseinandersetzung mit den Bildern der Erinnerung beruht. Wesentlich ist dabei das Bewusstsein der Subjektivität, die jeder Wahrheit über die eigene Geschichte innewohnt. So stellt Ida eine schöne Reflexion über das unsichere und doch so faszinierende, schillernde, wandelbare Wesen der Erinnerung an, die zugleich auch als metaliterarischer Kommentar zu lesen ist:

Ich habe mich oft gefragt, ob diese Version der Geschichte vielleicht erst beim späteren Erzählen entstanden ist und schon vorwegnimmt, was ich erst am Nachmittag entdeckte, nämlich, dass mein Vater gegangen war; doch selbst wenn, wäre das erfundene Gefühl wahrer als die Wahrheit. Die Erinnerung ist ein kreativer Prozess, sie wählt aus, setzt zusammen, entscheidet, verwirft; der Roman der Erinnerung ist das unverdorbenste Spiel, das wir spielen.

Nadia Terranova

Und so steht das bewusste Rekonstruieren einer Geschichte auch im Zentrum des Romans von Nadia Terranova. Die narrative Logik der Erzählung entspricht der Suche der Erzählerin nach Identität. Es geht darum, ausgewählten Dingen und Episoden nachträglich Bedeutung und Symbolkraft zu geben, so dass die Ereignisse im Nachhinein Prägnanz erhalten, wie der Philosoph Hans Blumenberg sagen würde, der in dieser dem Prinzip des Mythos folgenden Neigung des Menschen eine anthropologische Veranlagung sieht.

Eine solche Mythisierung findet nach dem Verschwinden des Vaters im Haus der auf Mutter und Tochter reduzierten Familie tatsächlich statt, die Gegenstände erfahren eine magische Aufladung durch eine nicht thematisierte, aber im stummen Einverständnis gesetzte unsichtbare Anwesenheit des Vaters, die sich von Zeit zu Zeit in banalen, aber mythisch aufgeladenen Alltagsphänomen wie sickerndem Wasser zu manifestieren scheint. Der Vater ist verschwunden, sein Verschwinden wird bald auch nicht mehr mit Worten thematisiert, aber er bleibt permanent unterschwellig präsent. Er ist eine Leerstelle, die unablässig auf sich selbst zu verweisen scheint, für Ehefrau und Tochter jedes „normale“ Familienleben, wie Ida es bei den Nachbarn oder Schulkameraden beobachtet, forthin unmöglich macht und von ihr als fehlende Unschuld, fehlende Ausgelassenheit erlebt wird: „Mein Leben lang war ich die Tochter von Sebastiano Laquidaras Abwesenheit.“ (Nadia Terranova)

Doch im Unterschied zu damals wagt es Ida nun, diese Verlusterfahrung, die für sie unbestreitbar ein einschneidendes Erlebnis war, zu benennen und die mythische Kontingenz des zeitlichen Zusammenfalls des väterlichen Verschwindens mit ihrer Menarche, dem Beginn ihrer Pubertät, in einem kreativen Prozess erzählerisch miteinander zu verknüpfen. Die Autorin verwendet das Motiv des Vaterverlusts somit auch, um einen Roman über die Konstruktion einer weiblichen Identität zu schreiben. Die konfliktreiche Beziehung von Mutter und Tochter nimmt entsprechend großen Raum in der Erzählung ein, und es ist schön, wie es der Autorin mit leisen Zwischentönen gelingt, auch die tiefe Verbundenheit, die über die Spannungen und Gereiztheiten hinweg zwischen den beiden Frauen besteht, anzudeuten.

Die poetischen, nachdenklichen Töne, das Gespür für feine, aber sinnige Unterschiede und der unprätentiöse, sehr nah am Ich der Figur orientierte Stil, in dem diese zum Ausdruck gebracht werden, macht die literarische Qualität dieses berührenden Buches aus. So denkt Ida, als sie ihren Erinnerungen an die Großeltern und ihren Vater nachgeht, über Tod, Verlust und Verschwinden nach. Allerseelen wurde in ihrer Familie als Fest der Erinnerung gefeiert, was dem Tod seinen Schrecken nahm. Doch wie anders erlebte sie dann das Verschwinden des Vaters:

So war der Tod, wie ich ihn bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr kannte: eine direkte, blinde Linie, die mit Vererbung und Vergänglichkeit zu tun hatte, ein Ort, von dem die Menschen nur einmal im Jahr zurückkehrten, ein unschönes, aber letztlich fruchtbares Fest. Das war er, und vor ihm hatte ich keine Angst.
Dann, eines Morgens, war mein Vater verschwunden. (…) Der Tod ist ein Fixpunkt, doch das Verschwinden ist das Fehlen eines Punktes oder jedes anderen Satzzeichens am Ende der Wortreihe. Wer verschwindet, schreibt die Zeit um, und ein Reigen aus Obsessionen umgibt die Überlebenden.

Nadia Terranova

Der Roman hat drei Teile, die mit „Der Name“, „Der Körper“ und „Die Stimme“ überschrieben sind und sowohl auf die Erzählerin selbst als auch auf den Vater bezogen werden können. Die Re- und Dekonstruktion der Vergangenheit ermöglicht Ida erst, sich von unbestimmten, unterdrückten Schuldgefühlen freizumachen, die auch die Beziehungen zu anderen Personen, ihrer früheren Freundin, ihren Mann, beeinflussen. Der sakralisierte Raum des abwesenden Vaters, den bildhaft gesprochen nur ihre Mutter und sie selbst betreten durften, machte es schwer, wenn nicht unmöglich, jemanden von außen hereinzulassen. Daher die Rebellion der Tochter, als ihre Mutter eine neue Beziehung eingeht, daher die fehlende Empathie für die beste Freundin, als diese Schmerzhaftes erlebt. Erst unfreiwillig, dann mutiger verlässt Ida allmählich ihre Schutzzone und öffnet die Augen auf ihre Außenwelt, auf andere Schicksale und Erfahrungen.

Es ist ein schmerzhafter Prozess der Erkenntnis, des Sich-Annehmens, den die Erzählerin durchläuft und wir Leser ganz nah mit ihr. Und so wohnt diesem wunderbaren Roman eine von jedem Kitsch befreite Poesie von Schmerz und Hoffnung inne, die einen nachdenklich stimmt und auf magische Weise ganz intensiv berührt.

PS:
Der allzu ausgedehnte deutsche Titel, der für das schlichte italienische „Addio Fantasmi“ gefunden wurde, ist, wie ich finde, etwas irreführend, da er Assoziationen zu Büchern wie von Jonas Jonasson weckt, mit denen Terranovas Erzählung nun so gar nichts zu tun hat.

Bibliographische Angaben
Nadia Terranova: Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand, Aufbau Verlag (2020)
Aus dem Italienischen übersetzt von Esther Hansen
ISBN: 9783351034849

Bildquelle
Nadia Terranova, Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand
© 2020 Aufbau Verlag GmbH & Co KG, Berlin

bookmark_borderAlfred Kolleritsch: Die Nacht des Sehens

Taucht mit ein in die „Nacht des Sehens“, in diese Sammlung wunderschöner Gedichte von schlichter Anmut und großer Poesie, in denen man sich verlieren und immer wieder augenblicksweise finden kann, an der Schwelle von Schatten und Licht, auf der sich alle Texte fragend, suchend, hoffend, (ver)zweifelnd bewegen. Aus dem Titel sprechen bereits die Melancholie und die große poetische Spannung, die diesen schmalen, edlen Gedichtband aus der Feder des österreichischen Schriftstellers Alfred Kolleritsch auszeichnen. Kolleritsch schreibt schon sein Leben lang Gedichte und auch Prosa, promovierte einst über die Philosophie Martin Heideggers und ist auch bekannt als Herausgeber der Grazer Literaturzeitschrift „manuskripte“ und früher Förderer von Talenten wie Ernst Jandl und Peter Handke, mit dem ihn eine enge (Brief-)Freundschaft verbindet.

Mit seinem jüngst im Wallstein Verlag erschienenen neuesten Gedichtband „Nacht des Sehens“ schöpft er eine Poesie des Widerspruchs, wie ich es nennen würde, die unter die Haut geht und zugleich sehr nachdenklich ist.

Wer ersetzt das Wunder
und macht die Nacht des Sehens
zum Tage?

(…)

Das ist das Spiel.

Es spricht mit uns,
dunkel und licht zugleich,
Unvergängliches ohne Dauer.

Die Nacht des Sehens, S. 46f.

Kolleritschs Gedichte sprechen eine Sprache des Verschwindens, des Sich-Entziehens, des Widerspruchs, der auch als Widersprechen, als Protest, als Aufbäumen gegen eben jenes Verschwinden gemeint ist. Sie gliedern sich in zwei Teile, denen jeweils ein melancholisch-poetischer Vers wie ein Motto vorangestellt ist: „Die Melodien vollenden die Begegnung“ und „Sag mir etwas, das nicht verschwindet“.

Die auffällig kurzen Texte haben mich mit ihrer klaren, melodischen Sprache und ihren ahnungsvoll poetischen Bildern, die nicht überfrachtet sind, sondern von tiefer, aufrichtiger und noch lange nachklingender Poesie, sofort in ihren Bann geschlagen. Sie verwehren sich eines eindeutigen Lesens, doch trotz ihrer Vielsinnigkeit und manchmal auch Rätselhaftigkeit, die zum Immer-Wieder-Lesen ermuntern, fühlt man sich sofort vertraut mit der suchenden, findenden und wieder verwerfenden Bildersprache, die aus dem Dunkel ans Licht drängt, die hofft und bangt, trauert und wehmütig ist, die in den Schmerz des Abschieds dringt — aber all das eben nicht dramatisch oder pathetisch, sondern zart und schonungslos, sich öffnend und hinterfragend.

Immer wieder musste ich beim Lesen an Motive aus Paul Eluards surrealistischer Poesie denken, besonders an seinen Gedichtband „Capitale de la douleur“. Die Nacht assoziiert Eluard dort mit Schlaf und Tod, der Tod wird surrealistisch aufgewertet als Erfüllungsraum, als Raum der Kreativität, in dem sich die Distanz zum Tag, zum Licht, zur Frau überwinden lässt. Die surrealistische Nacht beinhaltet ein schöpferisches Sehen, der Widerspruch wird aufgelöst, indem der Blick umgekehrt wird, sich nun von der inneren Welt auf die äußere richtet. Erkenntnis und intensives Erleben erheben sich auch aus Alfred Kolleritschs metaphorischer Nacht, die gleichwohl den schmerzhaften Widerspruch nicht auflösen will:

Erleuchtet aus dem Entschwinden
bewegt uns die Erfahrung,
sie ereignet den „höchsten Augenblick“
den unvergleichbaren,
den Untergang,
als Beginn des Schönen,
verdammt außerhalb der Sprache.

Die Nacht des Sehens, S. 49

Auch der kunstvolle Umgang mit einem im philosophischen Sinne elementaren Wortschatz, die aufs Wesentliche konzentrierte Sprache, die höchste Verdichtung durch wechselnde Bezüge und durch die Überlagerung verschiedener Bildbereiche erlangt, lassen sich nicht nur bei Eluard, sondern genauso in der Lyrik Kolleritschs finden:

er mähte die Blumen fort
und löschte das Abendlicht,
er vergrub es in der Mulde

Die Nacht des Sehens, S. 23

Das Licht lässt sich freilich nicht vergraben, wohl aber die Blumen, doch begräbt der von seiner Liebe Verlassene hier nicht auch seine hell leuchtende Hoffnung? Immer wieder eröffnen solche poetischen Verschiebungen den Blick auf das Unerwartete und lenken ihn in eine neue Richtung. Die Sprache entwickelt auf diese Weise ein gewisses Eigenleben, das sich auch über die Grenzen der einzelnen Gedichte hinweg fortsetzt, denn im Kontext entfalten die Verse wieder neue Bedeutungen, und alle gemeinsam formen sie einen verschlungenen, Zickzacklinien folgenden Pfad. Michael Krüger spricht im Nachwort auch von „Gegenwegen“, die Kolleritsch in seiner Lyrik einschlägt.

Im Unterschied zum Surrealismus ist es in Kolleritschs „Nacht des Sehens“ weniger das Freud’sche Unterbewusstsein, das an die Oberfläche geholt wird, als vielmehr das Sein und das Dasein des Menschen an sich. Es sind zutiefst philosophische Fragen, um die Kolleritschs Verse kreisen; es geht um eine existenzielle Suche, in deren Zentrum der Tod als Schmerz und als Herausforderung steht. Und immer wieder drückt sich dabei der Zwiespalt aus, das Hin- und Hergerissen-Sein — „sie stürmt fort, um dazubleiben“ (S. 9) — und die Vergänglichkeit, auch der Worte:

Sag mir etwas,
das nicht verschwindet.
Was war,
ist weggeraten.
Auf der Hand klebt der Gedanke
den Flügelschlag
eines Vogels lang.

Die Nacht des Sehens, S. 69

In den Gedichten wird danach gerungen, angesichts des großen Widerspruchs des Daseins eine Sprache zu finden, es wird nach Worten gesucht für das „unfassbar Gewordene“ (S. 8). Die Nacht zeigt sich auch als letzter Schrei vor dem Verstummen. Doch des Dichters Sprache vermag es trotz aller Zweifel, Gegensätzliches zusammenzubringen, um aus dem Widerspruch den Augenblick der Poesie freizusetzen!

Sie schrieb sich in das Tal ein,
verletzte die Luft mit ihrer Sprache,
riss sich los in die Not.

Es entstanden die zerbrechlichen Reste des Sagens.
Sie versprach den Wiesen den Weg,
schuf sich die Spur durch das Geröll,
das andere Schweigen zu finden.

Die Nacht des Sehens, S. 61

Schönheit und Schmerz des Daseins offenbaren sich auch in der Begegnung mit dem Anderen. Die Personalpronomen wechseln, wir treffen auf ein Er, auf eine Sie im dunklen Kleid, ein Sie im Plural, ein Wir. Eine Umarmung kann dabei ins Gewaltsame kippen oder aber das Paar wie einen poetischen Klang zusammenbringen :

Im Gesang verschwinden,
im Geflecht der Töne,
Mann und Frau.

Das Gefühlte hoch im Klang
schweißt zusammen,
keines verliert sich
in Ängsten des Verschwindens.
Die Melodien vollenden
die Berührung

Die Nacht des Sehens, S. 12

Was sich dem Verschwinden widersetzt, sind auf jeden Fall die Gedichte und mit ihnen das Gefühl, die Reflexion und das Gedächtnis, das Tod und Gewalt, Natur und Schönheit, Schmerz und Lust in sich vereint. Sie berühren einen wie ein sanft herabsegelndes Herbstblatt, das einen nur zart anzustupsen scheint, aber eine umso innigere Melancholie entwickelt, die weiter in einem klingt, eine Begegnung voll Melodie, schmerzhaft und schön.

Alfred Kolleritsch: Die Nacht des Sehens, Wallstein (2020)
Mit einer Nachbemerkung von Michael Krüger
ISBN: 9783835336728

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