bookmark_borderTijan Sila: Radio Sarajevo

Tijan Sila, 1981 in Sarajevo geboren, erlebte als Kind kurz vor dem Teenagersein die Belagerung seiner Stadt während des Bosnienkrieges und flüchtete 1994 mit seiner Familie nach Deutschland. Am Ende seines vierten Romans, Radio Sarajevo, schreibt der ebenfalls Tijan genannte Ich-Erzähler, dass er, auch nachdem der Krieg vorbei war, lange Zeit nicht in seine Geburtsstadt zurückgekehrt ist. Erst viele Jahre später, als längst erwachsener Mann, stattete er anlässlich einer Übersetzung eines seiner Texte Sarajevo einen Besuch ab.

Tijan Silas autobiographischer Roman Radio Sarajevo ist fragmentarisch angelegt, und wenn man es zuende gelesen hat, versteht man, dass ein solches Erzählen nur fragmentarisch sein kann. Und dass der Krieg, auch wenn er offiziell Geschichte ist, in den Köpfen derer, die ihn erlebt haben, nie ganz zuende ist. So wie sich die Kapitel in springender, lückenhafter Kapitelzählung aneinander reihen, hat auch der Krieg eine Stadt in Trümmern hinterlassen, und eine Bevölkerung, die mit ihren seelischen Trümmern zurecht kommen muss. Zu Beginn der Belagerung Sarajevos ist der Ich-Erzähler zehn Jahre alt, er erzählt von seinen meist heimlichen Streifzügen durch die Stadt, von der ständigen Bedrohung durch Beschuss von außen und von den auch im Inneren verrohten Zuständen, vom Eingesperrtsein in einem Familienalltag, den zu fliehen er die tödlichen Gefahren auf der Straße und die Unzuverlässigkeit seiner Freunde in Kauf zu nehmen bereit ist.

Das titelgebende Radio integriert Tijan Sila als Dingsymbol für den Kriegsalltag in seinen Text. Tijan bekommt von einem Freund der Familie eines geschenkt, ist kurze Zeit überglücklich damit, ehe es ihm wieder abhanden kommt, ein anderes Gerät taucht auf, wird vergessen, und die meiste Zeit fehlen ohnehin die Batterien. So steht das Radio für die im ganzen Roman unausgesprochene, aber im Subtext eindrücklich vermittelte Sehnsucht des Kindes danach, unbeschwert aufzuwachsen. Stattdessen besteht die Normalität während der Belagerung für den Erzähler aus Hunger, Kälte, Waffen, Schwarzmarkt, Pornographie, die Kinder sind in diesem fortgesetzten Ausnahmezustand mehr oder weniger auf sich gestellt, die Erziehungsmethoden Ausdruck vererbter Gewalt und Unterdrückung. Was sich der Erzähler in Erinnerung ruft, ist desillusionierend bis hin zu den Freundschaften, in denen sich die Prinzipien und Auswüchse des Krieges fortsetzen, die Verachtung, der Ausschluss, die Sippenhaft, die von den vorangehenden Generationen vorgelebt und von den Kindern nachgeahmt werden.

Die Perspektivlosigkeit, die sich erzählerisch im Fragmentarismus des Textes widerspiegelt, reicht über die letztlich begrenzte Dauer der Belagerung und des Krieges hinaus, und sprengt auch räumlich die Grenzen. Denn auch wenn Tijans Familie irgendwann das kriegsversehrte Land verlässt, um in Deutschland ein normales Leben zu führen, erfährt man, dass sich für die Familie der Traum eines Neuanfangs nicht bewahrheiten wird, sondern dass der Vater Krebs bekommen und die Mutter schwer psychisch krank werden wird.

Im Text heißt es einmal, dass es ein labyrinthisches Zeitalter sei, in dem der Erzähler und auch seine Eltern und deren Eltern aufgewachsen sind, ein Zeitalter der Gewalt, der Absurdität, des Chaos, in dem der Zerfall Jugoslawiens vorbereitet und ausgetragen wurde.

Umso mehr trifft einen die unaufgeregte erzählerische Haltung des jungen und autofiktionalen Ich-Erzählers, der in einer manchmal naiven, im nächsten Moment erschreckend frühreifen Direktheit von seinen Erlebnissen und Beobachtungen erzählt. Dieser Wechsel hat etwas Berührendes, und die unausgereifte Perspektive des Heranwachsenden ist es auch, die es literarisch möglich macht, das Drama aus dem Text herauszunehmen, ohne das sich all das Schreckliche doch umso eindringlicher vermittelt, etwas von der Wirklichkeit des Krieges zu transportieren und sie die Leser, auch wenn sie selbst nie in einer vergleichbaren Situation waren, ein Stück weit nachempfinden zu lassen.

Bibliographische Angaben
Tijan Sila: Radio Sarajevo, Hanser Berlin 2023
ISBN: 9783446277267

Bildquelle
Tijan Sila, Radio Sarajevo
© 2025 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderJacques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht — Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand

Und es ward Licht, „Et la lumière fut“ — der französische Originaltitel, unter dem das Buch 1953 erschien, trägt die biblische Reminiszenz noch deutlicher vor sich her als der Titel der deutschen Übersetzung, der gleichfalls Wert auf einen poetischen Klang legt. Von Beginn an ist klar: Diese Autobiographie eines Blinden, der im französischen Widerstand aktiv war, geht über einen persönlichen Erfahrungsbericht, über ein historisches Zeugnis hinaus. Was der Titel andeutet, bestätigt sich auf den ersten Seiten, die einen sofort auf eine irgendwie zarte Weise in Bann ziehen: Dieser Text ist, ohne sich hinter dem heute so verbreiteten Etikett der Autofiktion zu verstecken, zutiefst literarisch. Hier schreibt jemand, ohne sein Ich zu verfremden, voll Überschwang und Leidenschaft von seinem der radikalen Realität der Geschichte ausgesetzten Leben und von seinem Glauben, der ihn trug, auch oder gerade in der sehr weltlichen Erfahrung des Krieges. Wahrscheinlich hat diese Transzendenz, die durch das ganze Buch hindurchschimmert, etwas Altmodisches; aber sie hat zugleich auch etwas sehr Wahres. Denn die poetische Innigkeit von Lusseyrans autobiographischer Erzählung kippt eben nie ins Esoterische oder Rührselige, da ihr, das spürt man immer wieder, eine tiefe, schmerzhafte und schöne Menschlichkeit zugrunde liegt.

Beim Lesen der chronologisch erzählten Geschichte der Kindheit und jungen Erwachsenenjahre des Autors Jacques Lusseyran (1924-1971), der sie nach dem Ende des Krieges aufgeschrieben hat, taucht man nicht nur in die historisch bewegte Zeit der französischen Zwischenkriegs- und Weltkriegsjahre ein, die wir heutigen Leser ja nicht mehr selbst erlebt haben können, sondern auch in eine den allermeisten von uns auf andere Weise ebenso fremde Erfahrung des Eintritts in die innere Landschaft eines „sehenden Blinden“. Wir machen also die Erfahrung einer doppelten Alterität, die sich uns durch die mitreißende Sprache in großer Leichtigkeit vermittelt. Die Überarbeitung der Übersetzung aus den 1960er Jahren für die deutsche Neuausgabe hat sicher auch ihr Quantum zu der so flüssigen Lesbarkeit beigetragen.

Jacques Lusseyran wurde nicht als Blinder geboren. Er verlor sein Augenlicht im Alter von acht Jahren durch einen Unfall in der Schule. Und er fand es von neuem, indem er, so schildert er es, dank liebevoller Eltern und Freunde und dank seines eigenen inneren Antriebs zu einem „sehenden Blinden“ wurde. Dankbarkeit und Willenskraft erscheinen als die zwei Wesensmerkmale des Autors, die ihm, wie man heute sagen würde, zu einer besonderen Resilienz verholfen haben. Es wurde ihm möglich, seine Hilflosigkeit abzuschütteln und ein neues Sehen zu erlernen, sich auf neue Art und Weise im Dasein zu orientieren. Aus der Perspektive dieses wieder sehenden Blinden erfahren wir, wie es sich anfühlte, in den 1930er Jahren in Paris und Umgebung aufzuwachsen. Wir erfahren von seinen Freundschaften und von seiner ersten Liebe, die jedoch hinter der Innigkeit der Freundschaften, die er lebte und pflegte und die trotz der körperlichen Abhängigkeit des Blinden doch immer Freundschaften auf Augenhöhe waren, wie selbstverständlich zurückstehen musste. Etwas irritierend ist für uns heute vielleicht, dass Lusseyran anfangs trotz der, wie es scheint, gleichberechtigten Ehe seiner beiderseits berufstätigen Eltern in seinem früh begonnenen Engagement für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Möglichkeit der politischen Beteiligung von Frauen völlig außer Acht ließ. Das ändert sich später; alles andere wäre bei einer so reflektierten, lernbereiten und erfahrungsoffenen Persönlichkeit, wie sie aus dem Text hervorgeht, auch verwunderlich gewesen.

Bemerkenswert ist, dass Jacques Lusseyran den Krieg als noch größere Zäsur im Leben wahrnahm als den Verlust seines Augenlichts. Nicht nur politisch, sondern auch privat, wobei sich ab diesem Zeitpunkt der persönliche Lebensweg des Autors auch untrennbar mit dem politischen verknüpfte: Während der für die gesamte Bevölkerung als sehr belastend erlebten Besatzungszeit initiiert Lusseyran eine Widerstandsbewegung besonderer Art. Er schart eine Gruppe junger Männer um sich, die von ihm, einem blinden und ebenfalls noch sehr jungen Mann, geleitet wird, von einem jungen Mann, so schildert er es in der Rückschau, der einerseits nicht weiß, wie ihm da geschieht, und der andererseits intuitiv sehr wohl weiß, was er zu tun hat. Die Gruppe, die eine von mehreren parallel im Untergrund arbeitenden ist, entwirft erste Flugblätter zur Aufklärung der abgeschotteten Pariser Bevölkerung, bevor sie nach einiger Zeit mit anderen zusammenarbeitet, im komplexen Netz der Résistance aufgeht und sich, neben weiteren Aktionen, an einer richtigen Untergrundzeitung beteiligt, in der unter der permanenten Gefahr des Auffliegens und des Verrats über die Folterungen durch die Gestapo, die Konzentrationslager und die Judenverfolgung berichtet wird.

Dass der junge Blinde, ohne dass er sich aufgedrängt hätte, wie selbstverständlich als Anführer der Gruppe akzeptiert wird, ist, zumal in einem doch immer patriarchale Machtverhältnisse hervorkehrenden Umfeld des Krieges, schon erstaunlich. Er muss eine natürliche Autorität ausgestrahlt haben, ein besonderes geistiges Charisma, das auch mit seiner Menschenkenntnis und seinem Gespür für Situationen, wie sie vielleicht aus seiner Augenblindheit erwachsen sind, zusammenhing. Auch mit seinem Gedächtnis, das verräterisches Papier ersetzte, trug er gewiss einen unschätzbaren Teil zur Untergrundkommunikation bei. Lusseyran absolvierte neben der Kräfte und Zeit beanspruchenden Untergrundtätigkeit auch noch ein Literaturstudium und spürte auch in dieser „Nebentätigkeit“ die menschenverachtenden Auswirkungen des Krieges. Denn ein Dekret des Vichy-Regimes — die Macht der nationalsozialistischen Besatzer hatte längst auch auf die so genannte freie Zone übergegriffen — verbot nun körperlich eingeschränkten Personen, zu denen auch Blinde gezählt wurden, die Ausübung bestimmter Berufe und verschloss ihnen auch den Zugang zur höheren Bildung. Durch wohlgesinnte Vertrauenspersonen gelang es Lusseyran, sein Studium fortzusetzen, doch war diese bedrohliche Erfahrung von Ausgrenzung durch die neuen politischen Machthaber nur ein erster Vorbote weiterer politischer Gewalt. Wie zahlreiche seiner Freunde und Mitstreiter im Untergrund wurde auch Lusseyran verraten und verhaftet. Er wurde Verhören unterzogen und entging nur knapp dem Tod durch Erschießen. Im Gefängnis in Fresnes war er zeitweise in Einzelhaft und wurde dann, wie so viele andere, mit dem Zug ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Von den 2000 Franzosen, die im Januar 1944 mit ihm dort ankamen, überlebten nur 30. Auch er selbst wurde unter den menschenunwürdigen Lagerbedingungen sehr krank, war dem Tode schon näher als dem Leben und erfuhr seine fast einem Wunder gleichende Genesung wie eine erneute Wiedergeburt. Aus der er wieder eine schier unglaubliche Energie zu ziehen verstand, indem er sich, auch im KZ, für Aufklärung einsetzte, Menschen um sich scharte und seinen Widerstand fortsetzte.

Die Widerstandskraft, die Lusseyran auch im psychologischen Sinne entwickelte, lässt an das berühmte Buch …trotzdem Ja zum Leben sagen des österreichischen Psychiaters und Ausschwitzüberlebenden Viktor Frankl denken. Seine Widerstandskraft setzte Lusseyran aber auch ganz konkret politisch ein, in einem umfassenderen Sinne freilich als Einsatz für das Wohl der Menschen, für das höchste Gut der Menschlichkeit, für das es sich auch unter unmenschlichsten Bedingungen zu kämpfen lohnt. Seine Autobiographie knüpft daher in gewisser Hinsicht auch an die mittelalterliche, christlich geprägte literarische Tradition der chansons de geste an, mit der Schilderung der glücklichen Kindheit, der sich anschließenden Zeit des Aufwachsens als Zeit der Prüfungen, der Verwandlungen, mit der Verteidigung der Werte von Mut, Weisheit und Einsatz für die Gemeinschaft. In der Gegenwartsliteratur hat unlängst auch Anne Weber mit ihrem Versroman Annette, ein Heldinnenepos gleichfalls für eine historische Figur des französischen Widerstands, der aus der Bretagne stammenden Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir, dieses uralte Genre entstaubt und auf poetische Weise reaktualisiert. Beide Bücher, das des blinden Widerstandskämpfers und das über seine weibliche Verwandte im Geiste und in der Tat, sind gerade jetzt, im Kontext von Diskriminierung, Krieg, Gewalt, so zeitlos wie aktuell.

Bibliographische Angaben
Jacques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht — Die Lebensgeschichte eines Blinden im französischen Widerstand, Klett-Cotta 2024
Aus dem Französischen übersetzt von Uta Schmalzriedt [1966], überarbeitet von Tobias Scheffel
ISBN: 9783608988239

Bildquelle
Jacques Lusseyran, Das wiedergefundene Licht
© 2025 Klett-Cotta Verlag. J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

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