bookmark_borderUrsula Krechel: Sehr geehrte Frau Ministerin

Vielleicht muss man zu Beginn erwähnen, dass eine der Hauptfiguren in Ursula Krechels Roman Lateinlehrerin ist. Silke Aschauer wird sie genannt, im zweiten der drei Teile des Romans tritt sie selbst als Erzählerin hervor und offenbart sich allmählich als diejenige, die in diesem Text zumindest erzählerisch die Fäden in der Hand hält. Und die mit ihren Schülern auch Passagen aus den antiken Werken liest, in denen literarisch und historisch Zeugnis abgelegt wird von einer Gewalt, von denen einige meinen, dass sie nicht in den Schulunterricht gehört, und die doch seit Jahrhunderten Teil der Realität ist. Einer Gewalt, die sich immer wieder auffällig gegen Frauen richtet, sie betrifft und oft auch bezichtigt. So beginnt der Roman mit Agrippina, der Mutter Neros, der unterstellt wird, ihren Mann Claudius ermordet zu haben, und die dann angeblich von ihrem eigenen Sohn umgebracht wurde; später ist von Boudica die Rede, einer weniger bekannten britannischen Heerführerin, die einen letztlich vergeblichen Aufstand gegen die römischen Besatzer angeführt hatte. Das konfliktreiche Mutter-Sohn-Motiv der antiken Literatur wird im ersten Teil mit der Geschichte einer weiteren fiktionalen Figur der Gegenwart aufgegriffen, mit einer Frau namens Eva Patarak, die einen erwachsenen Sohn zuhause mitversorgt und in einem kleinen Kräuterladen arbeitet, mit dessen unerwarteter Schließung sie in eine prekäre Lage gerät.

Damit sind die Themen des Romans, um die dieser sich eher konzentrisch als thesenhaft bewegt, gesteckt: Es geht um Frauenrollen und -bilder, um Gewalt an Frauen, um Machtfragen, die sich auch darin abbilden, wer und wer nicht gehört und gesehen wird, wer und was überliefert wird. Durch die Öffnung in die Geschichte, die Ursula Krechel von den ersten Seiten an vornimmt, fächert sich dieser Themenbogen immer weiter aus, Geschichte und Gegenwart überlagern sich sprachlich und inhaltlich. Der Roman ist auf eine extravagante Weise intersektional, setzt ganz unterschiedliche Perspektiven zueinander in Beziehung, den Blick auf Kolonialismus, Natur und Ökologie, Gynäkologie, Kapitalismus, Politik und Rechtsstaat. Auch formal fächert sich der sehr an Sprache und Übersetzung interessierte Text auf und gewinnt eine Komplexität, die sich schon mit den in die Gegenwartshandlung eingeschobenen Passagen aus der römischen Geschichte angekündigt hat und an der mit dem fiktionsironischen Wechsel der Erzählperspektive in den folgenden Teilen weiter gestrickt wird. Die Erzählung in der dritten Person über die Mutter Eva Patarak im ersten Teil wird im zweiten Teil von der Ich-Perspektive der Lateinlehrerin Silke Aschauer abgelöst, die sich als Frau mit roter Mütze zuvor in der dritten Person in die Geschichte eingeschlichen hatte und von der man nun sowohl erfährt, dass sie als Schriftstellerin für die Erzählung des ersten Teils verantwortlich ist, als auch dass sie an ungewöhnlich starken Blutungen leidet. Die Textebenen überlagern sich, die verschiedenen Ebenen der Zeit und der Figuren greifen mehr und mehr ineinander, so dass der Schreib- und Erzählprozess zu einem hinterfragenden Spiegel von Machtfragen und Rollenbildern wird. Im dritten Teil kommt dann noch die titelgebende Ministerin hinzu und ein Anschlag wird zum physischen Kulminationspunkt dieser Erzählung von Macht und Gewalt.

Das eigentliche Konstruktionsprinzip des Romans scheint jedoch nicht die äußere Handlung zu sein, sondern die Sprache. Immer wieder entfernt sich der Text von einer rein handlungsbasierten Erzählung, um ins Essayistische hinüberzugleiten. Vom Thema entfernt er sich jedoch nie, die Exkursionen, die er in die Kunst, in die Geschichte oder auch in die Naturbeobachtung unternimmt, lassen die zentralen Motive der Handlung in differenzierterem Licht erscheinen. Der Text bewegt sich fort, indem er der Sprache auf den Grund geht und sich scheinbar treiben lässt von Wortverwandtschaften, um so immer wieder Unausgesprochenes sichtbar zu machen. Analog zur Übersetzung als Kern des Lateinunterrichts hat es sich der Roman zum Projekt gemacht, aus der Geschichte ins Heute zu übersetzen und aus der historischen Geschichte in die fiktionale Geschichte. Und das sowohl mit einem Feingefühl, das der Nuance nachspürt, als auch ohne Scheu vor Tabus und Anstößigkeit; der Text will geradezu anstoßen, aussprechen, der Scham keinen Raum geben, sondern sie entwaffnen, so wie die verschiedenen Frauenfiguren im Text auf ihre jeweils persönliche Weise Widerstand zu leisten versuchen.

Bibliographische Angaben
Ursula Krechel: Sehr geehrte Frau Ministerin, Klett-Cotta 2025
ISBN: 9783608966534

Bildquelle
Ursula Krechel, Sehr geehrte Frau Ministerin
© 2025 Klett-Cotta Verlag J.G. Cotta sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderOyinkan Braithwaite: Das Baby ist meins

Auf den ersten Blick scheint es irritierend, dass eine Geschichte, die als feministische Emanzipationserzählung gefeiert wird, durchgehend aus der Perspektive eines Mannes erzählt wird, der es sich in den Privilegien, die einem attraktiven jungen Lebemann in der Gesellschaft zufallen, bequem eingerichtet hat — auf (die auch emotionalen) Kosten der jeweiligen Geliebten, die der männlichen Unverbindlichkeit und Verantwortungslosigkeit erwachsen.

Dieser keinesfalls unsympathische junge Mann und Ich-Erzähler strandet, von seiner aktuellen Freundin aus der komfortablen Wohnung geworfen, während der Corona-Ausgangssperren im Haus seiner Tante, deren Mann gerade an Corona gestorben ist und die vor kurzem ein Baby auf die Welt gebracht hat. In ihrem Haus trifft er zu seiner Bestürzung aber nicht nur auf Tante und Baby, sondern auch auf eine junge Frau, die nicht nur die Geliebte seines Onkels, sondern auch eine seiner eigenen zahlreichen Eroberungen gewesen ist. Während die zwei Frauen, die das Baby mit erbitterter Kampfbereitschaft jeweils für sich beanspruchen, aus dem Blick des Erzählers wie Furien erscheinen, macht der männliche Erzähler, ohne sich dessen selbst so richtig bewusst zu werden, eine Verwandlung durch, wechselt Windeln, verzichtet auf Schlaf und übernimmt auf einmal Verantwortung für das kleine schutzlose Baby.

Der sehr kurze, sehr locker und schwarzhumorig erzählte Text erinnert allerdings eher an eine Novelle, auf keinen Fall ist er ein Roman, wie es der Klappentext verkündet. Es wird keine Lebensgeschichte erzählt, sondern eine unerhörte Begebenheit, die sich während des Lockdowns im nigerianischen Lagos ereignet, die aber im Grunde überall auf der Welt so ähnlich verlaufen könnte und die nicht ganz zeitlosen, aber auf jeden Fall exemplarischen Charakter hat.

Vor allem darf man die Erzählung nicht wortwörtlich nehmen, sie ist überspitzt, von abgründigem Witz und, getarnt durch die Perspektive des männlichen Erzählers, nur sehr subtil entlarvend. Dass man den Ich-Erzähler so vernünftig findet, so väterlich verantwortungsvoll, und die beiden Frauen hysterisch, verbittert, verantwortungslos, dass all das, was die beiden Frauen schon durchgemacht haben, ein von Corona hinweggeraffter Ehemann, ein nach der Geburt gestorbenes Baby, ein Geliebter, der gerade in dem Moment stirbt, wenn das Baby unterwegs ist, ein anderer Geliebter, der sich von vornherein aus der Verantwortung stiehlt, an den Rand der Erzählung gerückt wird, während das Aussehen der Frauen, ihr etwas verwahrlostes Erscheinungsbild, ihre sinnlichen Reize, ihre einschüchternde Mütterlichkeit, intensiv kommentiert werden, so dass man kaum umhin kann, aus dem Optischen Rückschlüsse auf die moralische Integrität zu ziehen — all das gehört ja mit zu den geschlechterstereotypischen Bildern, die man sich von der männlichen und der weiblichen Rolle macht.

Die für den männlichen Blick, den man als Leser zu übernehmen verführt ist, völlig überraschende Solidarität zweier Frauen, die sich doch bis aufs Blut anzufeinden scheinen, bringt den feministischen Subtext der Erzählung ans Licht, in der keine salomonische Vaterfigur ein weises allgültiges Urteil spricht, aber in der ein Mann entgegen jeder gesellschaftlichen Erwartung mit immer größerer Selbstverständlichkeit einen Teil der Sorgearbeit übernimmt.

Bibliographische Angaben
Oyinkan Braithwaite: Das Baby ist meins, Blumenbar 2021
Aus dem Englischen übersetzt von Yasemin Dinçer
ISBN: 9783351050894

Bildquelle
Oyinkan Braithwaite, Das Baby ist meins
© 2024, Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderKate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir — Ein modernes Leben

Eine in ihrem Detailreichtum und ihrem differenzierten, genauen Blick zugleich ungemein fesselnde und bereichernde Biographie!

Ich war überrascht, auf welche Vorurteile und Klischees diese intelligente und empathische, aber — zum Glück — eben auch eigenwillige Frau selbst am Ende ihres Lebens noch stieß, nach all den überzeugenden Beweisen ihres philosophischen und literarischen Talents, wenn sie in der Presse als „eifersüchtige Geliebte“ oder bloße „Jüngerin von…“ geschmäht wurde.

Natürlich war sie, waren ihr Denken und Werk, aufs engste mit Sartre verbunden, die beiden unterstützten und beflügelten sich gegenseitig in ihrer so ungewöhnlichen, so viel Erstaunen und auch Häme erntenden intellektuellen Freundschaft, die ein Leben lang hielt. Doch Kate Kirkpatrick, selbst Philosophin, macht eindrucksvoll deutlich, dass die junge Simone ihre Philosophie schon vor ihrer Begegnung mit Sartre zu entwerfen begonnen hatte und auch später ihre eigenen Wege ging, sowohl gedanklich als auch was ihre Beziehungen betraf, unter denen Sartre zwar einen besonderen, aber längst nicht den einzigen Platz einnahm.

Die Autorin wertet mit großem Erkenntniswert die erst in den Jahren nach Beauvoirs Tod veröffentlichten und vorerst nur in französischer Sprache vorliegenden Korrespondenzen aus, die einiges in einem neuen Licht erscheinen lassen und manches auf erhellende Weise zum Vorschein bringen, was Beauvoir selbst in ihren literarisierten Memoiren unter den Tisch hat fallen lassen. Vor allem zeigt sich, dass Beauvoir, die sich eher als Literatin sah, als Philosophin einen absolut eigenständigen Platz neben dem von seiner wohlhabenden Herkunft und seinem Geschlecht begünstigteren und in der Nachwirkung berühmteren Freund Sartre einnimmt. So beschränkt sich ihr Verdienst nicht nur auf ihr freilich einschneidendes, den Feminismus prägendes Werk Das andere Geschlecht, das v.a. in den angelsächsischen Ländern bis vor kurzem nur in einer stark gekürzten Fassung vorlag und lange Zeit — da in die Alltagsforschung hineinreichend — nicht als den wissenschaftlichen Kriterien entsprechend anerkannt war, sondern besteht auch in der wichtigen Leistung, den Existenzialismus und seinen Freiheitsgedanken in der sozialen Erfahrungswelt der Menschen verankert zu haben. In dieser Hinsicht war wohl auch sie es, die auf Sartres Philosophie einwirkte, der seine Texte im Übrigen nie ohne Beauvoirs Gegenlesen veröffentlichte. Und eben da rührte wohl auch Beauvoirs Vorliebe zum Literarischen her: in bester Kierkegaard’scher Tradition die Philosophie in die Lebenswelt der Menschen zu tragen.

Man ist ganz fasziniert und voll Bewunderung, wenn man Kirkpatricks Schilderungen von Beauvoirs Leben folgt, obwohl oder gerade weil sie die Philosophin nicht als unfehlbar und entrückt, sondern in ihren mal mehr, mal weniger sympathischen Eigenheiten beschreibt.

Ein absolut lesenswertes, sehr lebendiges (Zeit-)Zeugnis des Lebens einer ganz besonderen Frau im 20. Jahrhundert!

Bibliographische Angaben
Kate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir — Ein modernes Leben, Piper (2020)
Übersetzt von Erica Fischer und Christine Richter-Nilsson
ISBN: 9783492070331

Bildquelle
Kate Kirkpatrick, Simone de Beauvoir — Ein modernes Leben
© 2020 Piper Verlag GmbH, München

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