Mit seiner unvergleichlichen Sprache hat mich Jérôme Ferrari, den man in Deutschland vor allem durch seine Korsika-Trilogie kennt, auch in sein neues Buch tief, fast zu tief hineingezogen, man entkommt seiner Geschichte nicht unberührt, so wie die Figuren seines Romans der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht unverletzt entkommen. Fasziniert und betroffen habe ich das Leben der jung verunglückten (Kriegs-)Fotografin Antonia im Rhythmus der Perspektiven und Zeiten zu einem virtuosen literarischen Gesamtkunstwerk fügenden Erzählerstimme miterlebt und mitreflektiert. Wäre der geschriebene Text eine Predigt, an den Lippen eines Priesters abzulesen, man würde an ihnen hängen bis zum letzten Wort, bis die Messe vorüber ist. Mit diesem Bild befindet man sich auch schon beinahe in dem poetisch-metaphysischen Raum, den Ferrari für seinen Roman geschaffen hat.
Antonia, die im Zentrum des Romans stehende junge Frau, verunglückt 2003 auf der Heimfahrt von Calvi, wo sie eine Hochzeit fotografiert hat, tödlich. Der Zufall oder das Schicksal hat sie kurz zuvor noch mit dem Kriegsveteranen Dragan zusammengeführt, den sie das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen hatte, als sie ihn für eine Reportage über den Jugoslawienkrieg fotografiert und begleitet hatte. Ihr Leichnam wird in ihrem Heimatdorf aufgebahrt, die zwölf Kapitel des Romans entsprechen Abschnitten aus der katholischen Totenmesse, die von ihrem Patenonkel gehalten wird, der zugleich die Rolle des Priesters, des liebenden und trauernden Verwandten sowie in großen Teilen auch die eines personalen Erzählers einnimmt, aus dessen Innenschau wir das meiste über Antonias Leben erfahren.
Die Lebensgeschichte Antonias verknüpft Ferrari aufs Engste mit einer Geschichte der Fotografie, indem er tiefgründige Reflexionen über das Wesen dieses Mediums und seine Funktion für die Geschichte des 20. Jahrhunderts in die Erzählung integriert. Das intime Band zwischen Fotografie und Tod zieht sich durch den gesamten Roman, so dass man immer wieder an Roland Barthes‘ berühmten Essay über die Fotografie, La Chambre claire (Die helle Kammer), erinnert wird, an seine Beschreibung von Bildern zum Tode Verurteilter und auch an seine Definition des geheimnisvollen „punctum“, des Zufälligen der Fotografie, das emotional, unbewusst und eben auch gewaltsam auf den Betrachter wirkt und ihn verwundet. Von daher ist es nur konsequent, wenn Ferrari in seinem Roman auch der Affinität der Fotografie zur Gewalt auf den Grund zu gehen versucht, ihre Funktion im Krieg, ihre Neigung zur Obszönität oder zur symbolischen Überfrachtung erforscht sowie ihrer oft nur dem Zufall zu verdankenden Bedeutung oder eben auch Bedeutungslosigkeit nachgeht.
Jedem Kapitel ist eine Bildunterschrift vorangestellt, jedoch ohne den Abdruck der zugehörigen Fotografien, die sich meist aus der Imagination des Autors speisen, der diese fiktiven Bilder mit großer Suggestionskraft aus der Erzählung der Geschichte hervorgehen lässt. Zum Teil handelt es sich auch um real existierende Fotografien, die Ferrari — so liest man im Nachwort — zu seiner Geschichte inspiriert haben, ebenso wie auch die fiktionalisierten historischen Figuren, deren Fotografen-Biographien er in die Erzählung einbaut. Auf diese Weise ist dem Roman eine Meta-Ebene eingeschrieben, die aber an keiner Stelle den Lesefluss oder die poetische Bildersprache unterbricht, vielmehr der Geschichte noch mehr Dichte und Tiefe verleiht. Denn so wie die korsische Biographie Antonias und ihrer Familie und Freunde, darunter viele Separatisten, auf der Makroebene die Geschichte des 20. Jahrhunderts, seiner Gewalt und seiner Kriege, widerspiegelt, wird die fotografische (Sinn-)Suche der jungen Frau auch in eine universelle Beziehung gesetzt zu den über das visuelle Medium aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis von Ästhetik und Verantwortung, Idolatrie und Wahrhaftigkeit, Oberflächlichkeit und Obszönität.
Spannend ist in dieser Hinsicht auch die religiöse oder eher metaphysische Dimension, in der sich der Text bewegt, was schon durch den liturgischen Rahmen der Erzählsituation deutlich wird, und die sich immer wieder in den assoziativ sich hin und herbewegenden Gedanken und Erinnerungen des Priesters manifestiert. Der Priester selbst hat bezeichnenderweise als einzige der tragenden Figuren keinen Namen, er ist der Patenonkel Antonias, die er geliebt und gefördert hat und für deren Tod er kaum Trost finden kann. Immer wieder hadert er, muss um seinen Glauben kämpfen, der alles andere als selbstverständlich in sein Leben trat. In seiner Person sind deutliche Anklänge an Georges Bernanos auszumachen, fast scheint er eine Verkörperung von dessen Tagebuch schreibendem Landpfarrer zu sein. Die Schilderung seiner plötzlichen Berufung zum Priestertum hingegen erinnert an die zentrale Passage in Bernanos‘ Sous le Soleil de Satan (Die Sonne Satans), er fühlt sich, allein des Nachts auf dem kilometerlangen Heimweg ins Dorf, verfolgt von einer unheimlichen Gestalt, die aber unsichtbar bleibt:
Il a l’impression que quelqu’un le suit. Il se retourne de temps en temps pour scruter les ténèbres. Son cœur s’affole.
Es kommt ihm vor, als würde ihm jemand folgen. Er dreht sich von Zeit zu Zeit um und versucht, die Dunkelheit zu durchdringen. Sein Herz ist wahnsinnig vor Angst.
A son image, S. 101 (Kap. 6)
Tatsächlich ist seine Berufung untrennbar mit dem Tod verknüpft: In ebenjener Nacht, in der Antonias Onkel angst- und ahnungsvoll am Pfarramt vorüberläuft, stirbt der alte Priester. Und die Nachfolge ist mit Schmerz verbunden, der Berufene verlässt seine Freundin und deren Sohn —
il les abandonne tous les deux pour répondre à l’appel d’une voix qui a retenti dans la nuit
er lässt sie alle beide zurück, um dem Ruf einer Stimme zu folgen, die in der Nacht erklungen ist
A son image, S. 103 (Kap. 6)
— und er verlässt später auch seine Heimatgemeinde, um aufs französische Festland zu gehen, nachdem mehrere junge Männer in der Gewaltspirale des korsischen Separatismus zu Tode gekommen sind, obwohl sie sich in der Zwischenzeit vom militanten Kampf abgewendet hatten. Sie zu beerdigen übersteigt seine Kraft.
Die innerliche Zerrissenheit, mit der er sich unablässig auseinandersetzt, macht den Priester zu einer sehr sympathischen, aber zugleich auch tragischen Figur mit einer fast übergroßen Verantwortung, die er in seiner Totenmesse für Antonia anzunehmen versucht. Denn er war es, der Antonia einst die Kamera geschenkt, der sie zu ihrer Berufung hingeführt hatte, an der sie sich ein Leben lang verzweifelt abarbeiten würde. Ihre Suche nach Wahrheit, nach Wahrhaftigkeit ließ sie sich mitten hinein begeben in die Gewalt der Natur, der Menschen, des Krieges — bis sie durch ihre Erfahrung im Jugoslawienkrieg den Glauben nicht nur an Gott, sondern auch an die Fotografie verlor. Ihre Kriegsreportage, die ihr anfangs als langersehnte Erfüllung ihrer mühevollen, oft frustrierenden Fotografen- und Journalistenkarriere erschien, würde sie nie veröffentlichen:
Elle commence à penser qu’elle a vu quelque chose qu’il aurait été infiniment préférable pour elle de ne pas voir parce que maintenant, elle ne peut plus en détourner le regard.
Sie begreift allmählich, dass es für sie unendlich viel besser gewesen wäre, wenn sie das, was sie gesehen hat, nie gesehen hätte, denn jetzt kann sie den Blick davon nie mehr abwenden.
A son image, S. 178 (Kap. 10)
Sie zieht sich aus dem Journalismus zurück und macht von nun an nur noch harmlose Hochzeitsfotos. Ihr Scheitern ist verbunden mit der resignierten Feststellung, dass es nur zwei Arten von Bildern gibt: Entweder sie sind belanglos oder obszön, entweder haben sie zu wenig oder zu viel Bedeutung, entweder sind sie oberflächlich und für die Nachwelt nicht relevant oder aber sie treffen so mitten hinein, dass es pietätlos und grausam wäre, sie zu veröffentlichen.
Eine dritte Möglichkeit des Bildes deutet der Autor mehrmals an, wenngleich die Frage offen bleibt, ob sie letztlich ein unmögliches Unterfangen, eine Utopie darstellt: wenn es dem Bild nämlich gelingt, die Ebene des Todes durch die Ebene der Transzendenz zu durchbrechen, zu sublimieren, so wie im verwundeten Christus das Wunder der Auferstehung durchzuscheinen vermag. Übertragen auf die Fotografie wäre das perfekte Bild dann eines, das eine Offenheit in sich trägt auf etwas, das man nicht sehen und schon gar nicht fassen, sondern nur erahnen kann. Ein solches Bild ist dann aber eigentlich keine Kunst, da es nicht planbar, sondern dem Zufall der Geschichte ausgeliefert ist. Der besondere Moment der Geschichte und der auslösende Moment der Kamera müssen zusammenfallen. Es ist die Geschichte, die dem Bild ihre Bedeutung verleiht. Oder aber man betrachtet die Fotografie ganz einfach als Spur der Geschichte, als Spur eines Lebens:
leur enfance disparue avait pourtant déposé sur la pellicule une trace de sa réalité aussi tangible et immédiate que l’empreinte d’un pas dans un sol d’argile (…) comme si tous les instants du passé subsistaient simultanément, non dans l’éternité, mais dans une inconcevable permanence du présent
ihre verschwundene Kindheit hatte auf dem Film dennoch eine Spur ihrer Wirklichkeit hinterlassen, die ebenso berührbar und unmittelbar war wie der Abdruck eines Schrittes auf einem lehmigen Boden (…) als würden alle Augenblicke der Vergangenheit gleichzeitig fortbestehen, nicht in der Ewigkeit, sondern in einer unvorstellbaren Fortdauer der Gegenwart
A son image, S. 21 (Kap. 2)
Genau das hat schon die kleine Antonia so an den alten Familienfotografien fasziniert, und genau das macht in seiner Bescheidenheit und technischen Imperfektion auch den Reiz ihrer letzten Fotografie aus, auf der sie den Söldner Dragan am Strand von Calvi ablichtet.
Schließlich ist Antonias Geschichte auch als Versuch zu lesen, aus der beengenden und gewaltsamen korsischen Dorfgemeinschaft mit ihrem patriarchalischen Frauenbild auszubrechen. Antonias Leben scheint schon früh vorherbestimmt, lange Jahre ist sie reduziert auf ihre Rolle als „Frau von Pascal B.“, der als Anführer militanter korsischer Separatisten immer wieder im Gefängnis landet, bis sie sich schließlich von ihm löst, um frei zu sein. Sie führt von nun an ein bei weitem selbständigeres Leben als ihre Freundinnen, doch letztlich entkommt auch sie ihrer Herkunft nicht.
Was mir neben der wunderschönen Sprache und der unheimlich anregenden Auseinandersetzung mit dem Wesen des Bildes ganz besonders an diesem Roman gefällt, ist die feinfühlige Art, wie der Autor seine Figuren zeichnet. Er zeigt ihre Schwächen, ihre Ambivalenz und beschönigt nichts, doch verurteilt er sie auch nicht, sondern wagt einen Blick auf sie, der vom Anspruch getragen wird, den innerhalb des Textes die Figur des Priester für sich annimmt: den Nächsten zu lieben, auch wenn es schwer ist:
Si l’amour du prochain était chose aisée, il le sait bien, le Christ n’aurait certes pas pris la peine d’en faire le premier des devoirs.
Wenn die Liebe zum Nächsten eine leichte Aufgabe wäre, das weiß er wohl, hätte sich Christus sicher nicht die Mühe gemacht, sie zur ersten aller Pflichten zu machen.
A son image, S. 105 (Kap. 6)
Ferrari gelingt ein kritisches, aber mitfühlendes „Verstehen“ der Figuren und er zeigt, wie sie geprägt werden durch die Zeit, die Gesellschaft, das System, in dem sie leben. Er zeigt auch, wie manche versuchen auszubrechen und wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich das ist, besonders, wenn man sich einmal der Gewalt verschrieben hat, deren Absurdität und schier unaufhaltsame Dynamik ein wiederkehrendes Thema des Autors ist.
Jérôme Ferrari: À son image, Actes Sud 2018
ISBN: 9782330109448