bookmark_borderMarkus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner

Jannes ist ein junger Mann, die Schulzeit ist noch nicht lange vorbei, und er ist Schäfer. Er arbeitet auf dem Hof und mit der Herde, um die sich seine Familie seit mehreren Generationen kümmert. So exotisch das im 21. Jahrhundert, in einer Gegenwart der Urbanität, der Schnelllebigkeit, der Vernetzung, klingen mag, hat es für Jannes, der auf dem Land und mit den Tieren aufgewachsen ist, zunächst eine Selbstverständlichkeit, die ihm, und hieraus zieht der Text seine Dynamik, nun schleichend abhanden zu kommen droht. Der Zweifel an dieser aus der Zeit gefallenen Daseinsform ist eines der großen Themen dieses Romans, der sich dem modernen Landleben auf komplexe Weise nähert.

Ein Schäferroman, der im 21. Jahrhundert spielt, muss natürlich mit den literarischen Traditionen, die er wachruft, brechen. Von der arkadischen Schäferidylle der antiken und barocken Literatur, von ihren loci amoeni, an denen sich heitere Liebes- und Verkleidungsspiele ereignen, sind die Weidelandschaften der Lüneburger Heide, auf die Jannes seine Schafe führt, weit entfernt. Die wohl noch zu erahnende Romantik der Heidelandschaft wird schon auf den ersten Seiten gebrochen von der unübersehbaren industriellen und militärischen Präsenz von Rheinmetall und Bundeswehr, und im Laufe der Handlung wird auch die Verklärung einer romantischen Vergangenheit, wie sie von nationalen „Heidedichtern“ wie Hermann Löns besungen wurde, in ihrer geschichtsvergessenen Verlogenheit und Verblendung enttarnt. Kein mediterraner heller Himmel lacht über einem bunten Treiben verliebter Schäfer und Schäferinnen, von Anbeginn evoziert der Autor mit seinen eindringlichen Naturbeschreibungen eine dunkle, düstere Atmosphäre, in der der Einzelne auf sich gestellt scheint. Auch wenn Vater und Sohn zu zweit unterwegs sind, begleiten Schweigen und Einsilbigkeit eine Kooperation, die in der Vertrautheit der Handgriffe und Abläufe kaum der Worte bedarf.

Jannes wird oft in der Natur gezeigt, und immer sind die Landschaftsbeschreibungen ein Spiegel der Seele, oder, etwas moderner gesprochen, der Psyche, wenngleich dieser Begriff für das, was der Autor, auch im Rückgriff auf eine umfassendere, mythische Ebene, auszudrücken versucht, wohl nicht weit genug greift. In jedem Fall spiegeln sich hier außen und innen, verschmelzen zu einem anfangs diffusen Gefühl der Verunsicherung, das Jannes zunehmend aus dem Konzept bringt und ihn schließlich dazu veranlasst, tiefer zu graben und sich und seine Familie mit der Vergangenheit zu konfrontieren.

Dabei scheint die Gegenwart schon genug Herausforderungen für die Schäferfamilie bereitzuhalten, zu der neben Jannes noch Opa Wilhelm, Mutter Sibylle und Vater Friedrich gehören, während Schwester und Onkel von Jannes dem Hof längst den Rücken gekehrt haben und Oma Erika mit Demenz im Heim betreut wird. Die geradezu mythisch aufgeladene Rückkehr des Wolfes in die deutschen Kulturlandschaften ist ein großes, die Geister und Gemüter aufreibendes Thema nicht nur für die Vieh haltende Landbevölkerung. Auch in Jannes‘ Familie sorgt sie für Divergenzen. Der Opa würde am liebsten die Herde nur noch mit dem Gewehr bewachen und kurzen Prozess mit den Wölfen machen, der Vater dagegen gibt ungefragt eine Menge Geld für kostspielige Schutzzäune und Hunde aus, und gründet einen Verein zur Mahnwache gegen Wölfe, um Politik und Öffentlichkeit wachzurütteln. Die regelrechte Obsession des Vaters, mit der er das eingebildete oder tatsächliche Näherkommen der Wölfe verfolgt, überlagert sich auf problematische Weise mit einer beginnenden Demenz, die Jannes am liebsten nicht wahrhaben möchte, für die er aber mehr und mehr Anzeichen bei seinem Vater entdeckt.

Verwoben mit der Wolfsdebatte und den ohnehin schon großen Herausforderungen des Schäferalltags im 21. Jahrhundert führt der Autor mit der wiederholten, vermutlich halluzinierten Erscheinung einer der regionalen NS-Vergangenheit entspringenden Frau noch eine weitere Konfliktebene ein, in der sich erzählerisch wiederum Traum und Geschichte, Wahn und Wirklichkeit übereinanderlegen. Jannes sieht diese Frau zum ersten Mal, nachdem er bei einer Party zu viel getrunken hatte. Doch ob wirklich der Alkohol der Auslöser seiner Panikattacke war, die sich später in einer ganz anders gearteten Stresssituation wiederholt, bleibt uneindeutig. Die diffuse Angst, die Jannes nicht mehr loslässt, greift in Form einer bewusst gestreuten Verunsicherung, was den Wirklichkeitsgehalt des Erzählten betrifft, auch auf den Leser über. Auch wenn er seine Herde nach draußen begleitet, meint Jannes immer wieder Spuren und Schatten in der Landschaft zu entdecken — der Beweis, dass er keiner Halluzination erlegen ist, oder doch Indizien für das Näherkommen der Wölfe? Tief verunsichert beginnt Jannes seine eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu hinterfragen und die befürchtete Demenz seines Vaters anders zu beurteilen. Indem der Autor das Brüchigwerden von Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit vorführt, unterstreicht er deren ausgeprägte Subjektivität und zeigt, wie Angst die Gefahreneinschätzung verformt und — nicht bei Jannes, der als selbstreflexiver Mensch über andere Mittel verfügt — anfällig für Ideologien und Verschwörungstheorien machen kann. Letztlich erzählt der Roman von einem Leben in der Krise, die über die Familienangelegenheiten oder die Herausforderungen einer bestimmten Berufsgruppe weit hinausreicht und die unvermeidlichen Veränderungen evoziert, die unsere gesamte gegenwärtige Gesellschaft betreffen. Die sich immer mehr in Jannes‘ Bewusstsein schleichende Erwartung einer Katastrophe, die er mit anderen Figuren des Romans teilt, die jedoch problematischere Bewältigungsstrategien dafür finden, ist im Grunde zurückzuführen auf einen anhaltenden Erschöpfungszustand, der als symptomatisch für unsere Gegenwart gelesen werden kann. Die Arbeit auf dem Hof, die immer weniger Leute stemmen müssen, und die damit verbundene steigende Verantwortung setzen Jannes spürbar unter Druck. Ein Gefühl der Auflösung macht sich breit, ein Zerbröckeln, Sich-Zersetzen, das in diesem Roman auf mehreren Ebenen literarisch durchgespielt wird.

Bezwingend ist dabei die Sprache, die Thielemann für diesen Auflösungsprozess findet. Einerseits haftet dem Text ein Realismus an, der einem den Alltag des Schäferdaseins eindrücklich vermittelt und das Geschehen in einer bestimmten Region lokalisiert. Der prosaische, kurzangebundene norddeutsche Dialekt der Dialoge findet jedoch Eingang in eine sehr sprachbewusste, lautmalerische Erzählung, deren atmosphärische Naturbeschreibungen ja bereits hervorgehoben wurden. Es ist also ein poetisch überhöhter Realismus, ein immer wieder auch verfremdeter Realismus, der bisweilen bis an die Grenze zum Surrealen, Alptraumhaften reicht. Diese sprachliche Überlagerung und Verschmelzung verschiedener Stile passt gut zur Wahrnehmungsproblematik des Romans. Sie entspricht auf kompositorischer und inhaltlicher Ebene der Überlagerung von Geschichte und Gegenwart, von Einbildung und Wirklichkeit, von Wolfsabwehr und Fremdenabwehr. Der Text ist auch ein Warnsignal, der am scheinbar so klein angelegten Beispiel eines Schäfer-Hofes im 21. Jahrhundert die wunden Punkte und Konfliktfelder unserer Gegenwart offenlegt (Stadt- und Landbevölkerung, Naturschutz und praktisches Leben im Austausch mit der Natur, Öffentlichkeitswirkung und Vermarktung, Heimatverbundenheit und Volkstümelei, Diversität und gesellschaftliche Spaltung, usw.), und er appelliert, mit der fiktiven Geschichte von Jannes‘ Familie, die sich trotz divergenter Ansichten um ein den anderen achtendes Miteinander bemüht, an den Zusammenhalt in einer auseinanderbrechenden Gesellschaft.

Bibliographische Angaben
Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner, C. H. Beck 2024
ISBN: 9783406822476

Bildquelle
Thielemann, Von Norden rollt ein Donner
© 2025 C.H.Beck oHG, München

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