bookmark_borderTove Ditlevsen: „Kopenhagen-Trilogie“ (Kindheit, Jugend, Abhängigkeit)

In ihrer Kindheit sagte Tove Ditlevsens Vater zu seiner Tochter, dass Mädchen keine Dichterinnen werden könnten. Die junge Tove, die, seit sie ganz klein ist, ihren Vater beim Bücherlesen beobachtet hat und sich später selbst Bücher aus der Erwachsenenabteilung der Bücherei ausleiht, da sie mit den konfliktarmen Inhalten der Kinderbücher nichts anfangen kann, beginnt trotzdem Verse in ein Poesiealbum zu schreiben, das sie jahrelang versteckt hält, bis sie den Mut und die Gelegenheit findet, einzelne Gedichte daraus wichtigen Männern der Zeitungs- und Buchbranche zu zeigen und ihre Schriftstellerinnenkarriere mühsam in Gang zu setzen. Die Heimlichkeit des Schreibens, das für sie lange Zeit mit Scham verbunden bleibt, und ebenso das Glück und der Ansporn, die sie daraus gewinnt, der Mut, gegen vielseitige Widerstände ihrer Berufung zu folgen, die weder durch ihre soziale Herkunft noch durch ihr Geschlecht vorgezeichnet war, charakterisieren ihren Lebensweg als Schriftstellerin, von dem sie auf autofiktionale Weise in den drei Romanen Kindheit, Jugend und Abhängigkeit erzählt.

Tove Ditlevsen ist 1917 in Kopenhagen geboren und wächst dort in den 1920er Jahren im Arbeiterviertel Versterbro auf. Im ersten Teil der Trilogie, Kindheit, bekommt man ein sehr lebendiges Bild von der erstickenden Enge und der Armut, die dieses Milieu prägten, und die für ein Mädchen, das von klein auf das Gefühl hatte, anders als die anderen Mädchen zu sein, die sich ihre Zukunft nicht innerhalb der ihr gesteckten Grenzen vorstellen konnte, für Unsicherheit und Verzweiflung sorgten. Weiblichkeit erscheint ihr schon in der Kindheit und auch später die meiste Zeit als eine Pose, und sie entspricht weder den Erwartungen, die man von ihr als Mädchen hat, noch denen ihres Milieus. Tove Ditlevsen findet in ihrem ansonsten sehr nüchtern und wenig ausschweifend erzählten Text mehrere Metaphern für die Kindheit, die der kleinen Tove als ein kaum auszuhaltender Zustand erscheinen. Wie auch ihr Bruder, der mit seiner Volljährigkeit die Familie verlässt, hat Tove schon früh eine große Sehnsucht nach einem Raum nur für sich. Ihre Mutter, die von ihrer eigenen Herkunft geprägt ist — mit ihrer Heirat hat sie einen minimalen Aufstieg erreicht und ist daher umso ungehaltener, wenn ihrem Mann wieder eine Anstellung gekündigt wird — ist Tove auch kein Halt, sondern gibt ihre Ängste und Rollenerwartungen unbewusst an ihre Tochter weiter. Das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter, der sie gefallen möchte und zu der sie doch keine wirkliche Nähe findet, ist eines der versteckten psychologischen Themen dieser autobiographischen Erzählung, die ganz auf einordnende oder erklärende Analysen verzichtet, indirekt aber sehr genaue psychologische und soziologische Beobachtungen vermittelt. Fast ohne dass es einem bei der Lektüre auffällt, die einen mit ihrer schlichten Unmittelbarkeit in Bann zieht, wechselt sie immer wieder zwischen Präteritum und Präsens, und führt uns sehr nah heran an das Erleben und Beobachten ihrer Erzählerin. Ihr Stil ist, obgleich sie nichts, auch nicht ihren eigenen Namen oder den ihrer Eltern, unter dem Deckmäntelchen der Fiktion verschleiert, sehr literarisch.

Im zweiten Teil, Jugend, der im Kopenhagen der 1930er Jahre spielt, gewinnen die bereits in den Kindheitsjahren der Erzählerin noch eher diffus wahrgenommenen soziopsychologischen Dilemmata an Kontur. Die Kindheit, die Tove als so ungenügenden Zustand erlebt hat, erscheint im Vergleich zu den Jugendjahren auf einmal fast leicht. Mit 15 Jahren ist für die Jugendliche die Schule schon zuende, der Besuch einer weiterführenden Schule kommt für ihre Eltern nicht infrage. Stattdessen tritt Tove ins fordernde Arbeitsleben der unteren Schichten ein, um sich ihren Unterhalt selbst zu erwirtschaften. Es sind typische weibliche Anstellungsberufe, in denen sie ihr erstes eigenes Geld verdient, Haushälterin, Bürogehilfin. Sie hat auch ihren ersten festen Freund und macht erste Erfahrungen in der Liebe, empfindet dabei aber nichts, was nur entfernt an Glück oder Erfüllung erinnert. Anstatt selbst zu fühlen, beobachtet sie die Gefühle und das Verhalten der anderen. In den Beziehungen zu Männern verfestigt sich ein Motiv, das sich schon in Kindheit angedeutet hat, nämlich die soziokulturell vermittelte Notwendigkeit, sich anzupassen und darüber auch das eigene Ich aus den Augen zu verlieren. Was der heranwachsenden Tove Kraft gibt, ist allein das Gedichteschreiben; es ist ihr Ansporn, es an ihrer drögen Arbeitsstelle auszuhalten und die Zeit bis zu ihrem 18. Geburtstag zu überbrücken. Ganz undramatisch und doch sehr unter die Haut gehend schildert die Erzählerin dieses Schwanken zwischen Motivation und Mutlosigkeit, das ihre Jugendzeit bestimmt, die von einem schier endlos scheinenden Ausharren, einem Warten auf eine irgendwo in der Ferne liegende Unterstützung, geprägt ist. Kleine Hoffnungsschimmer wie der, als ein Redakteur Potential in ihren Gedichten erkennt, wechseln sich mit schmerzhaften Rückschlägen ab.

Mit ihren Eltern zieht sie unterdessen in eine größere Wohnung, in der sie ein eigenes Zimmer bekommen soll. Doch ist dieses eigene Zimmer am Tage gleichzeitig auch das Wohnzimmer und überhaupt nur durch einen dünnen Vorhang abgetrennt. Der sehnsüchtige Wunsch nach Privatsphäre und einem ungestörten Raum zum Schreiben treibt sie, als sie die ersehnte Volljährigkeit endlich erreicht hat, schließlich in ein armseliges Zimmerchen zur Untermiete, das noch dazu von einer Frau vermietet wird, die sich als fanatische Anhängerin Hitlers und der Nationalsozialisten herausstellt. Zu den existentiellen Bedrohungen wie Krankheit, Armut, Arbeitslosigkeit, die in Jugend ebenfalls stärker thematisiert werden, kommt in diesem zweiten Teil der Trilogie zunehmend die Bedrohung durch den Aufstieg Hitlers und den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zur Sprache. Vor diesem apokalyptischen Hintergrund veröffentlich Tove ihr erstes Gedicht in einer Zeitschrift und, mit Unterstützung des Herausgebers der Zeitschrift, bald auch ihren ersten Gedichtband.

Der Krieg und die Besatzungszeit grundieren auch den dritten und letzten Teil der Trilogie, der in den 1940er Jahren spielt. Tove hat den deutlich älteren Herausgeber geheiratet, nicht aus Liebe, aber doch aus einer gewissen Verbundenheit zu diesem väterlichen Freund, der sie in ihr bisher verschlossene literarische Kreise einführen konnte, und wohl auch, um endlich das von einer Frau ihrer Herkunft erwartete Lebensziel einer Grundsicherung durch Heirat zu erreichen. In ihrer Ehe merkt sie jedoch schnell, dass sie nicht nur nicht glücklich ist, sondern richtiggehend unglücklich. Sie trennt einfach zu viel voneinander, nicht nur der Altersunterschied, auch, dass ihr Mann nicht versteht, „was es bedeutet, arm zu sein und fast seine ganze Zeit verkaufen zu müssen, nur um ein Auskommen zu haben“. Dass sie an einem Roman schreibt, verheimlicht sie ihrem Mann, ebenso die Affäre, die sie mit einem jüngeren Schriftstellerkollegen beginnt.

Sie trennt sich schließlich von ihrem Mann und lernt nach einigen schmerzhaften und enttäuschenden Erfahrungen ihren zweiten Mann kennen, einen jungen Politikstudenten, mit dem sie sich ihren Wunsch nach einem Kind endlich erfüllen kann. Auch ihr neues Ehe- und Familienleben ist nicht frei von Konflikten, die materielle Situation ist weiterhin schwierig, und nun ist da ja auch noch ein kleines Mädchen, das Zeit und Aufmerksamkeit braucht. Im von der Außenwelt unverstandenen Gefühlschaos zwischen Mutterliebe und „regretting motherhood“ wird sie erneut schwanger. Die Passagen, in denen es um die verzweifelten Versuche geht, das Kind abzutreiben, sind mit die bewegendsten und erschütterndsten in dieser Autofiktion. Was die Erzählerin nicht nur moralisch und psychisch, sondern auch körperlich durchgemacht hat, ist kaum vorstellbar und ist sicher nicht oft in einer so direkten und zugleich zurücknehmenden Weise erzählt worden. Es dauert dann auch nicht mehr lange, und auch diese zweite Ehe, die aus Liebe geschlossen wurde und in Untreue und Unverständnis mündet, geht zuende. Denn Tove lernt jemand anders kennen: auch einen Mann, ja, aber wer sie eigentlich so in Bann schlägt, dass sie ihr ganzes bisheriges Leben für ihn aufgibt, ist kein Mensch, sondern ein Gefühl, ein Rausch, eine Betäubung. Sie wird abhängig von Schmerzmitteln, die sie in einen künstlichen und höchst gefährlichen Zustand des Glücks, der Ruhe versetzen. Sie geht eine Beziehung ein, die man wirklich mit dem inzwischen inflationär gebrauchten Adjektiv toxisch beschreiben muss. Denn der junge Arzt, der ihr dritter Ehemann werden wird, beschafft ihr diese Rauschmittel, bis sie schließlich süchtig und völlig aus der Spur geworfen wird. Abhängig ist sie nicht nur von den Medikamenten, sondern auch von ihrem Mann, mit dem sie zwei weitere Kinder hat, ein leibliches und ein uneheliches, adoptiertes. Abhängigkeit liest sich zuletzt wie eine Tragödie, soziale Isolation, körperlicher Verfall, Aufenthalt in der Psychiatrie. Und das Ende bleibt, zumindest in dieser autofiktionalen Trilogie, offen. Dass ein Entzug keine Garantie ist, deutet sich schon auf den letzten Seiten des Textes an, die von Rückfall und einer neuen Liebe erzählen. Wer die Biographie der Autorin kennt, weiß, dass die Verzweiflung bleibt. Abhängigkeit, Depression, Psychiatrieaufenthalte bestimmen auch ihr weiteres Leben, in dem sie noch einige bedeutende und stets autobiographisch grundierte Romane schreibt, bevor sie sich 1976 das Leben nimmt.

Trotz aller äußerer und innerer Dramen enthält Tove Ditlevsens Text auch kleine Utopien, etwa wenn sie von der Auszeit mit einer Freundin auf dem Landsitz einer Bekannten erzählt, wo sie schreiben kann, so viel sie will, wo sie Gespräche auf Augenhöhe führt, eine Nähe ohne Begehren und ohne Reibung lebt. Und auch der unprätentiöse Stil der Autorin bewirkt, dass man die Kopenhagen-Trilogie in allen drei Teilen sehr gerne liest. Unwilkürlich wird man hineingesogen in diese Geschichte, man fühlt mit, doch auch das Denken wird nicht ausgeschaltet durch diesen beeindruckenden Text, der zur Reflexion über soziale und geschlechterspezifische Ungleichheiten anregt, über psychologische und soziologische Mechanismen, die auch dann ins Rollen kommen, wenn man einen ganz anderen Weg einschlagen will.

Bibliographische Angaben
Tove Ditlevsen: Kindheit, Aufbau Taschenbuch 2022
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
ISBN: 9783746639925

Tove Ditlevsen: Jugend, Aufbau Taschenbuch 2022
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
ISBN: 9783746639932

Tove Ditlevsen: Abhängigkeit, Aufbau Taschenbuch 2022
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
ISBN: 9783746639949

Bildquelle
Tove Ditlevsen, Kopenhagen-Trilogie
© 2025 Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

bookmark_borderJean-Philippe Toussaint: L’Échiquier

Wer von der Literatur lebt — und das ist nicht ökonomisch gemeint –, für den ist das Schreiben als Projekt niemals abgeschlossen, am Text des Lebens wird unermüdlich weitergewoben. Neigt sich die Arbeit an einem Buch dem Ende entgegen, hat die Zeit des neuen Textentwurfs schon begonnen, die immer wieder auch eine Zeit der neuen Orientierung ist. In dieser Nervosität ebenso wie Euphorie hervorrufenden Phase ist L’Échiquier, das neue Buch des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint, entstanden: Während er die Druckfahnen seines letzten Buches Les Émotions korrigiert, schwelgt er, schreibend, denkend, entwerfend, bereits darin, mit gleich drei schriftstellerischen Vorhaben seine literarische Verteidigung gegen die unvermeidlichen Verletzungen des Daseins fortzuführen. Er will, erstens, Stefan Zweigs Schachnovelle ins Französische übersetzen, zweitens, einen Essay über das Übersetzen verfassen und, drittens, parallel dazu eine Art Bordtagebuch, eben den vorliegenden Text, L’Échiquier (dt. „das Schachbrett“), in Angriff nehmen, einer Reflexion zugleich über das Schreiben und das Übersetzen.

Zwei dieser Projekte, die Übersetzung von Stefan Zweig und das „journal de bord“, sind 2023 im Verlag Les Éditions de Minuit erschienen. Sie sind zu einem gewissen Teil auch von den besonderen Umständen der Coronapandemie getragen und beeinflusst, die Toussaint als beunruhigenden und zugleich merkwürdig beflügelnden, in jedem Fall nachhaltig erschütternden Einbruch der Wirklichkeit in das individuelle Dasein wahrnimmt. Während in dieser angespannten Situation öffentlich viel über die Zukunft und die notwendigen Veränderungen in ihr diskutiert wird, erfährt Toussaint die Krise vor allem als Rückkehr in die Vergangenheit, wirft diese ihn zurück in die Abgründe der Erinnerung. Doch auch wenn immer wieder Autobiographisches in seinen Text mit einfließt, ist dieses „Tagebuch“ in jeder Zeile Literatur und Reflexion. Das Persönliche motiviert das Erzählte, es drängt sich immer wieder auf und hinein in den Text, da Leben und Schreiben bei Toussaint eng miteinander verwoben sind. Doch das Ordnungsprinzip seines Buches besteht nicht darin, romanhaft ein Leben ab ovo zu erzählen, zu rekonstruieren. Die Ordnung oder Struktur des Textes ist vielmehr das titelgebende „Schachbrett“, auf dessen Feldern er wie die Figur des Pferdchens springt, in einer raumzeitlichen Logik, deren Zügel innerhalb des gegebenen Rahmens gelockert sind und mit denen in der schreibenden Hand er weniger den Spielregeln der Chronologie als gewissen Mustern und Assoziationen folgt, die ihn auf das Terrain der Erinnerung führen. Die Erinnerungen in L’Échiquier sind nicht ausufernd, aber sie werden mit den Instrumenten des Schriftstellers bearbeitet, durchdrungen, durchleuchtet, in ihrer Vielschichtigkeit und auch Inkonsistenz konstruiert und hinterfragt. Es sind vor allem blitzlichtartige Momente seiner Kindheit und Jugend, die der sich erinnernde Ich-Erzähler an die Oberfläche des Textes holt, Erinnerungsspuren, die ihn zurück ins Internat, zu vergangenen Freundschaften und nicht zuletzt zu seinem inzwischen verstorbenen Vater führen, der es zu Lebzeiten immer wieder bedauert hat, als einziger der Familie in keinem der Bücher seines Schriftstellersohnes aufzutauchen. Nun, nach seinem Tod, scheint der Moment gekommen, und L’Échiquier ist, so wird sich der Erzähler beim Schreiben immer deutlicher bewusst, im Grunde ein Buch darüber, wie er zum Schriftsteller geworden ist, und, eng damit verbunden, über seine Beziehung zum Vater, der selbst ein renommierter Journalist war und dessen uneingestandenen Wunsch, Schriftsteller zu werden, er als sein Sohn schließlich gewissermaßen substitutiv erfüllt hat.

Auffallend ist auch die Nähe zu Patrick Modiano in manchen Passagen, mit dem er das schriftstellerische Interesse für die so hartnäckige wie behutsame Erkundung der literarischen Dimension der Zeit teilt und für die Rolle, die die subjektive und in der Folge immer wieder mysteriöse Kategorie der Erinnerung darin spielt. Das Geheimnisvolle der Erinnerung, das von einem leisen Unbehagen, ja manchmal auch von Schmerz durchzogen ist, das Bruchstückhafte, Schemenhafte früherer Begegnungen, die im Nachhinein anders oder überhaupt gedeutet werden, all das findet man auch bei Jean-Philippe Toussaint, der etwa von einem älteren Internatsjungen erzählt, der sich mit einem Mysterium umgeben hat, sich in Andeutungen an einen Vater erging, der beim Geheimdienst sei, der nach den Weihnachtsferien ohne Erklärung nicht mehr in die Schule zurückgekehrt ist, und dessen Verschwinden noch immer ein von der Aura der Gefahr und des Todes umwehtes Rätsel darstellt.

So wie Stefan Zweig den Schriftsteller schon sein Leben lang beschäftigt, begleitet ihn auch das Schachspiel seit seiner Kindheit; er erinnert sich an Schachpartien mit seinem Vater, die dieser grundsätzlich gewann, daran, wie er beim Duell Karpov/Kasparov im Publikum saß, wie er in der Schachabteilung der Bibliothek im Centre Pompidou auf andere Gestalten traf, die von diesem Sport auf ähnliche Weise in den Bann gezogen wurden wie er. Auch sein erster, unveröffentlichter Roman hat den Titel Échecs (dt. „Schach“). Und doch ist das Schachspiel für den Schriftsteller Toussaint vor allem eine Gedankenfigur, die ihn durch seinen gedankenreichen Text trägt, der immer wieder in Reflexionen über die Literatur und das Schreiben mündet. Sie fließen aus der Feder eines Schriftstellers, der Kafka und Nabokov bewundert, der in einem Verlag publiziert wird, in dem auch Beckett, Robbe-Grillet und Sarraute verlegt wurden, der das Schreiben als Umgang mit dem Dasein in seiner Existentialität betrachtet, der in der Literatur Schutz vor der Wirklichkeit sucht und diese dabei doch nicht ausblendet, sondern sich intellektuell mit ihr auseinanderzusetzen versucht, wie Odysseus, der den Sirenen zu lauschen vermag, ohne sich von ihrem Gesang töten zu lassen. So hat L’Échiquier eine philosophische Grundierung, die neben einer unbestreitbaren Melancholie auch den Humor nicht ausschließt. Was den Text so sympathisch und lesenswert macht, ist nämlich die immer wieder aufblitzende Selbstironie des sich erinnernden, schreibenden, alternden, aufrichtigen Schachbretthüpfers der Literatur, der mit so treffenden wie komischen Zeilen Einblick in die Detailarbeit aus dem Alltag eines Übersetzers gibt und das augenzwinkernde Porträt eines um Aufrichtigkeit bemühten und doch immer wieder auf Stolpersteine stoßenden existentiellen Sprachsuchers entwirft.

Bibliographische Angaben
Jean-Philippe Toussaint: L’Échiquier, Editions de Minuit 2023
ISBN: 9782707348852

Deutsche Ausgabe:
Jean-Philippe Toussaint: Das Schachbrett, Frankfurter Verlagsanstalt 2024
Übersetzt von Joachim Unseld
ISBN: 9783627003180

Bildquelle
Jean-Philippe Toussaint, L’Échiquier
© 2024 Les Editions de Minuit, Paris

bookmark_borderPola Polanski: Ich bin Virginia Woolf

Eine verwöhnte junge Firmenerbin mit Angst vor festen Beziehungen, einer diversen Sexualität und unvollendetem Germanistikstudium, die seit den Deutschaufsätzen in ihrer Schulzeit keinen zusammenhängenden Text mehr geschrieben hat, sich aber unbedingt zur Schriftstellerei berufen fühlt und sich, um ihr Genie von seiner Schreibblockade zu befreien, einer Therapie unterzieht: Das klingt zunächst nach einer Figur, die aus Leif Rands Generationenporträt in Allegro Pastell gefallen sein könnte (vgl. Rezension vom 13.5.2020), so seelen- und haltlos, so verloren und überfordert vom konsumbestimmten Überangebot unserer modernen bindungslosen Zeit scheint auch Inka Ziemer, die Protagonistin von Pola Polanskis Roman. Auch sie scheint in einer Identitätskrise zu stecken, die mehr eine der Form als des Inhalts ist. Gleichwohl auch Inka Ziemer auf ihre Außenwirkung bedacht ist und es in dem Roman zu einem großen Teil um Selbstinszenierung geht, verlässt die Autorin mit dieser Figur den vertrauten Boden einer ironisch gebrochenen Alltagsnormalität von lifesylegeprägten Millennials. Denn ihre Protagonistin fühlt sich nicht nur als Schriftstellerin, sie fühlt sich identisch mit einer ganz bestimmten Schriftstellerin, und zwar mit keiner geringeren als der großen Virginia Woolf. Und bei der Therapie, mit der sie ihre Schreibhemmung lösen will, handelt es sich ausgerechnet um eine Reinkarnationstherapie!

Die vielen in den Text gestreuten Ähnlichkeiten mit der berühmten britischen Schriftstellerin sind also keinesfalls zufällig, das Spiel mit den (Geschlechts-)Identitäten, das wohlhabende Herkunftsmilieu, in dem auch die Protagonistin Pola Polanskis verortet wird, ihr Hang zum Wahnsinn. Das fällt natürlich auch Inka Ziemer auf, deren Nachsinnen über all die bedeutungsvollen Gemeinsamkeiten die Züge einer Farce annimmt und ins Komische gesteigert wird:

Inka, die mittlerweile die ganze Flasche geleert hatte, wurde immer euphorischer. Wie genau das alles zusammenpasste! Diese exakten Übereinstimmungen konnten doch nicht nur Zufall sein. […] Zudem — bei diesem Gedanken geriet Inka vollends aus dem Häuschen — war Virginias Mutter bereits früh gestorben. Genau wie Maman! Und wie Virginia hatte Inka sich immer verlassen gefühlt. Nicht zu vergessen: Beide waren Raucherinnen!

Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf

Inka Ziemer entwickelt mehr und mehr einen Wahn, der auf die Literaturgeschichte Bezug nimmt, eine Art der Bibliomanie, die sich in einer ins Extreme gesteigerten identifikatorischen Lektüre Ausdruck verschafft. Auch hier verwendet die Autorin Pola Polanski ein vertrautes literarisches Motiv. Auch Don Quijote oder Emma Bovary verfallen lesend einem Rausch, der mit einem abgründigen Realitätsverlust einhergeht, indem sie sich in ihren Lektüren verlieren und in eine fiktionale Parallel- oder Gegenwelt eintauchen. Natürlich ist dieser dem Lesen so ursprüngliche, so wesenhafte Prozess des Sich-Spiegelns, der ja auch mit Fantasie und Perspektivwechseln einhergeht und insofern ein großes Moment der Befreiung enthält, nichts, was aus sich selbst heraus psychologisch abseitig wäre, im Gegenteil. Doch Pola Polanskis Protagonistin lebt ihre Manie mit so ausgeprägt psychotischen, narzisstischen Zügen aus, die ihren Ursprung nicht in der Lektüre, sondern anderswo haben, dass klar wird, dass die Autorin mit ihrer schizophrenen Figur auch ein Psychogramm unserer Zeit zu zeichnen versucht; ein Beispiel: Während Inka, so wie vor ihr schon ihre früh verstorbene Mutter, eine fast exzentrische Liebe zu Tieren verspürt, schöpft die Firma ihrer Familie ihre Gewinne gerade aus dem Geschäft mit toten Tieren, das unter dem Deckmäntelchen des Recyclings einen progressiven Anstrich erhalten soll:

Die Firma exportierte tierische Abfälle nach China. Dort waren Schweinsohren und andere Teile, die hierzulande als Abfälle gehandelt wurden, eine Delikatesse.

Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf

Da der Text sich jedoch, wie allein schon die grotesk in Szene gesetzte Theorie einer Reinkarnation Virginia Woolfs spüren lässt, nicht auf eine Entlarvung schizophrenen Sozial- und Konsumentenverhaltens beschränkt, freut man sich über seine erfrischende Vielschichtigkeit, die dem amüsanten und manchmal auch provokanten, aber im Unterschied zu dem der Protagonistin nie inhaltslosen Spiel mit der Intertextualität zu verdanken ist.

Oh, ein eigener Satz! Das war es. Sie musste in Virginias Sätze hineinschreiben wie in einen Flickenteppich. Man konnte heutzutage sowieso nur noch sampeln, es gab ja bereits alles. Die Kopie der Kopie der Kopie.

Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf

Ja, die Ironie macht auch vor dem Verfahren der Intertextualität selbst nicht halt, das, auf die reine Form bezogen, ins Leere abzudriften droht. Was ist das für eine Literatur, die sich an Klassikern abarbeitet, ohne etwas Eigenes mit hineinzubringen? Hier ist ironischerweise doch die so exzentrische Mutter der Protagonistin das vom Wahn befallene, aber innerlich von Fantasie und Geschichten blühende Gegenbeispiel. Der Roman bleibt uneindeutig und ein bisschen verrückt, und das ist gut so.

Bibliographische Angaben
Pola Polanski: Ich bin Virginia Woolf, Größenwahn (2021)
ISBN: 9783957712851

Bildquelle
Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf
 © 2021 Größenwahn Verlag bei der Bedey & Thomas Media GmbH, Hamburg

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