Pola Polanski: Ich bin Virginia Woolf

Eine verwöhnte junge Firmenerbin mit Angst vor festen Beziehungen, einer diversen Sexualität und unvollendetem Germanistikstudium, die seit den Deutschaufsätzen in ihrer Schulzeit keinen zusammenhängenden Text mehr geschrieben hat, sich aber unbedingt zur Schriftstellerei berufen fühlt und sich, um ihr Genie von seiner Schreibblockade zu befreien, einer Therapie unterzieht: Das klingt zunächst nach einer Figur, die aus Leif Rands Generationenporträt in Allegro Pastell gefallen sein könnte (vgl. Rezension vom 13.5.2020), so seelen- und haltlos, so verloren und überfordert vom konsumbestimmten Überangebot unserer modernen bindungslosen Zeit scheint auch Inka Ziemer, die Protagonistin von Pola Polanskis Roman. Auch sie scheint in einer Identitätskrise zu stecken, die mehr eine der Form als des Inhalts ist. Gleichwohl auch Inka Ziemer auf ihre Außenwirkung bedacht ist und es in dem Roman zu einem großen Teil um Selbstinszenierung geht, verlässt die Autorin mit dieser Figur den vertrauten Boden einer ironisch gebrochenen Alltagsnormalität von lifesylegeprägten Millennials. Denn ihre Protagonistin fühlt sich nicht nur als Schriftstellerin, sie fühlt sich identisch mit einer ganz bestimmten Schriftstellerin, und zwar mit keiner geringeren als der großen Virginia Woolf. Und bei der Therapie, mit der sie ihre Schreibhemmung lösen will, handelt es sich ausgerechnet um eine Reinkarnationstherapie!

Die vielen in den Text gestreuten Ähnlichkeiten mit der berühmten britischen Schriftstellerin sind also keinesfalls zufällig, das Spiel mit den (Geschlechts-)Identitäten, das wohlhabende Herkunftsmilieu, in dem auch die Protagonistin Pola Polanskis verortet wird, ihr Hang zum Wahnsinn. Das fällt natürlich auch Inka Ziemer auf, deren Nachsinnen über all die bedeutungsvollen Gemeinsamkeiten die Züge einer Farce annimmt und ins Komische gesteigert wird:

Inka, die mittlerweile die ganze Flasche geleert hatte, wurde immer euphorischer. Wie genau das alles zusammenpasste! Diese exakten Übereinstimmungen konnten doch nicht nur Zufall sein. […] Zudem — bei diesem Gedanken geriet Inka vollends aus dem Häuschen — war Virginias Mutter bereits früh gestorben. Genau wie Maman! Und wie Virginia hatte Inka sich immer verlassen gefühlt. Nicht zu vergessen: Beide waren Raucherinnen!

Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf

Inka Ziemer entwickelt mehr und mehr einen Wahn, der auf die Literaturgeschichte Bezug nimmt, eine Art der Bibliomanie, die sich in einer ins Extreme gesteigerten identifikatorischen Lektüre Ausdruck verschafft. Auch hier verwendet die Autorin Pola Polanski ein vertrautes literarisches Motiv. Auch Don Quijote oder Emma Bovary verfallen lesend einem Rausch, der mit einem abgründigen Realitätsverlust einhergeht, indem sie sich in ihren Lektüren verlieren und in eine fiktionale Parallel- oder Gegenwelt eintauchen. Natürlich ist dieser dem Lesen so ursprüngliche, so wesenhafte Prozess des Sich-Spiegelns, der ja auch mit Fantasie und Perspektivwechseln einhergeht und insofern ein großes Moment der Befreiung enthält, nichts, was aus sich selbst heraus psychologisch abseitig wäre, im Gegenteil. Doch Pola Polanskis Protagonistin lebt ihre Manie mit so ausgeprägt psychotischen, narzisstischen Zügen aus, die ihren Ursprung nicht in der Lektüre, sondern anderswo haben, dass klar wird, dass die Autorin mit ihrer schizophrenen Figur auch ein Psychogramm unserer Zeit zu zeichnen versucht; ein Beispiel: Während Inka, so wie vor ihr schon ihre früh verstorbene Mutter, eine fast exzentrische Liebe zu Tieren verspürt, schöpft die Firma ihrer Familie ihre Gewinne gerade aus dem Geschäft mit toten Tieren, das unter dem Deckmäntelchen des Recyclings einen progressiven Anstrich erhalten soll:

Die Firma exportierte tierische Abfälle nach China. Dort waren Schweinsohren und andere Teile, die hierzulande als Abfälle gehandelt wurden, eine Delikatesse.

Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf

Da der Text sich jedoch, wie allein schon die grotesk in Szene gesetzte Theorie einer Reinkarnation Virginia Woolfs spüren lässt, nicht auf eine Entlarvung schizophrenen Sozial- und Konsumentenverhaltens beschränkt, freut man sich über seine erfrischende Vielschichtigkeit, die dem amüsanten und manchmal auch provokanten, aber im Unterschied zu dem der Protagonistin nie inhaltslosen Spiel mit der Intertextualität zu verdanken ist.

Oh, ein eigener Satz! Das war es. Sie musste in Virginias Sätze hineinschreiben wie in einen Flickenteppich. Man konnte heutzutage sowieso nur noch sampeln, es gab ja bereits alles. Die Kopie der Kopie der Kopie.

Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf

Ja, die Ironie macht auch vor dem Verfahren der Intertextualität selbst nicht halt, das, auf die reine Form bezogen, ins Leere abzudriften droht. Was ist das für eine Literatur, die sich an Klassikern abarbeitet, ohne etwas Eigenes mit hineinzubringen? Hier ist ironischerweise doch die so exzentrische Mutter der Protagonistin das vom Wahn befallene, aber innerlich von Fantasie und Geschichten blühende Gegenbeispiel. Der Roman bleibt uneindeutig und ein bisschen verrückt, und das ist gut so.

Bibliographische Angaben
Pola Polanski: Ich bin Virginia Woolf, Größenwahn (2021)
ISBN: 9783957712851

Bildquelle
Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf
 © 2021 Größenwahn Verlag bei der Bedey & Thomas Media GmbH, Hamburg

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