bookmark_borderThomas Melle: Haus zur Sonne

Am Anfang des Romans steht ein faustischer Pakt. Nach einem Rückfall in die psychische Krankheit, der den Ich-Erzähler mit der Aussichtslosigkeit konfrontiert, sein Leben je wieder in Griff zu bekommen, entdeckt er auf dem Arbeitsamt einen etwas nebulös gehaltenen Flyer mit einem verlockenden Versprechen: Lebensmüde sollen eine letzte gute Zeit erleben, sollen vor einem assistierten Suizid noch einmal die Möglichkeit bekommen, es sich mit allen Mitteln der Medizin und Technik gut gehen zu lassen. Mit der Unterschrift des Ich-Erzählers ist es besiegelt; er bricht alle Kontakte zur Außenwelt ab und zieht ins so genannte „Haus zur Sonne“, dessen Name im Laufe der Geschichte, die immer alptraumhaftere Züge annimmt, sehr bald einen zynischen Beigeschmack bekommt.

Es geht in diesem Roman um alles, um Glück, um Leben, um Tod, um Krankheit, und darum, wie der Einzelne und wie die heutige Gesellschaft mit Tod und Sterben und Krankheit umgehen. Thomas Melles vielschichtiger Text ist Dystopie und Sehnsuchtsroman, ist ein wahrhaftes „Todesbuch“, wie Miriam Zeh es treffend im Deutschlandfunk formuliert hat, ist Autofiktion mit Thrillerelementen.

Trotzdem darf man den Ich-Erzähler hier nicht mit dem Autor gleichsetzen, wenngleich viel Autobiographisches in den Text mit eingeflossen sein mag, der wesentlich auf der Erfahrung am eigenen Leib und Geiste beruht, wie eine psychische Erkrankung ein Leben prägt und verändert. Seine bipolare Störung, die wechselnden Phasen von Manie und Depression, hat Thomas Melle schon vorher literarisch bearbeitet. Auch in Haus zur Sonne macht er ganz klar Literatur daraus, so dass man sich beim Lesen, anders als in vielen anderen als Autofiktion klassifizierten Romanen, nicht die Frage stellt, was denn nun „authentisch“ und was „hinzugedichtet“ ist. Man schlüpft vielmehr ganz unter die Haut des Roman-Ichs, das in seinem Erleben und in seinen Gedanken so nah und auch so komplex erzählt wird, dass, wie es in der Kunst eben möglich ist, das Allgemeine im Individuellen aufscheint.

Die erzählte Krankheitsgeschichte hat als Geschichte eines Rückfalls eine besondere Hoffnungslosigkeit, zumal der Rückfall so heftig erlebt wurde. In der letzten Manie sind Freundschaften zu Bruch gegangen, hat der Ich-Erzähler seine Wohnung ruiniert, sein Geld verprasst, ist polizeiauffällig geworden; in der sich anschließenden Depression hat sich ein tiefes Gefühl von Scham und Trostlosigkeit breitgemacht. Hinzu kommt die sehr rational wirkende Angst vor einem erneuten Rückfall. Und der Frust darüber, dass sein früheres Krankheitsbuch und damit sein verarbeitendes Schreiben sich als illusionär herausgestellt hat. Und dennoch schreibt der Erzähler erneut, er schreibt um sein Leben, radikal und schonungslos. Er schreibt einen Text, der nichts Aufbauendes hat, nichts Versöhnliches, seitenweise geht es um den Tod, richtig beklemmend ist die Todessehnsucht, die den Text zu grundieren scheint.

Doch während man den Ich-Erzähler beim Lesen allmählich immer besser kennenlernt, versteht man, dass er von einer Todessehnsucht mit Vorbehalt erzählt: Dieser ist der Kipppunkt, ist das Entscheidende, das Urmenschliche, das Unberechenbare, das die Dynamik des Romans bestimmt, die mehr und mehr an einen Thriller erinnert und einen beim Lesen wirklich mitnimmt. Mitnimmt in beiderlei Sinne: man ist gefesselt und erschüttert, durchgerüttelt; denn es geht in dieser Geschichte ums Ganze, es geht um Leben und Tod, um die conditio humana, um das, was man doch so gern verdrängt und weit nach hinten schiebt, mit dem wir beim Lesen konfrontiert werden und dem wir an keiner Stelle ausweichen können. Manchmal erinnert Thomas Melles Text an die Philosophie des Absurden, an Camus oder Beckett, immer wieder, angesichts der undurchsichtigen Strukturen im „Haus zur Sonne“, auch an Kafka, auf dessen kleine Fabel der Ich-Erzähler einmal anspielt.

Wie den Erzähler erfasst auch den Leser eine zunehmende Klaustrophobie, je weiter die Zeit im „Haus zur Sonne“ voranschreitet. Was genau man sich unter diesem Haus vorstellen soll, wissen auch seine Bewohner, die Patienten, die hier Klienten genannt werden, nicht genau. Ist es eine Klinik, ein Sanatorium, eine Versuchsanstalt, ein Fegefeuer? Wohlwollend könnte man es ein Hospiz nennen, das jedoch mit sehr eigentümlichen Palliativmaßnahmen aufwartet. Das sich in Menschenfreundlichkeit kleidende Angebot, dabei zu unterstützen, sich kurz vor dem Tod noch einmal Herzenswünsche zu erfüllen und ein Glück zu konsumieren, das in der „normalen“ Welt draußen unerreichbar schien, erweist sich als janusköpfig. Denn eingelöst werden soll dieses große Versprechen mit KI, mithilfe von Simulationen, die nach den geäußerten Wünschen des Klienten erstellt werden und ihn virtuell in seine Wunschwelt eintauchen lassen. Wenn man jedoch gar nicht weiß, was seine innigsten Wünsche sind, wird es schwierig, wie der Erzähler schnell feststellt. Auch bei abstrakten Wünschen wie Geborgenheit und Freiheit gerät die KI an ihre Grenzen. Beschwerden über Fehler und Unzulänglichkeiten der Simulationen häufen sich, und der Verdacht drängt sich auf, dass die so genannten Klienten nichts anderes sind als Lebendmaterial in einer großen Versuchsmaschinerie. Jenseits der stets ein Gefühl des Ungenügens zurücklassenden Glückssimulationen wählt der weiterhin an Depression leidende Erzähler folgerichtig immer wieder auch Simulationen des eigenen Sterbens, probiert auf diese Weise verschiedene Todesarten aus. Das mag makaber anmuten, knüpft aber zugleich an bestimmte Selbsttechniken der Kultur- und Philosophiegeschichte an, in denen es darum geht, sich mental auf den Tod vorzubereiten, ihn zu imaginieren. Überhaupt durchzieht den Text ein schwarzer Humor, der genauso gut ins Alptraumhafte wie ins Absurde und ins Philosophische gleiten kann.

Im Text ist der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Simulation mit dem Wechsel vom Präteritum ins Präsens markiert; ansonsten werden diese beiden Wahrnehmungsebenen für den Erzähler, und auch für den Leser, immer schwerer zu unterscheiden, geht es im „Haus zur Sonne“ doch letztlich um nichts anders als darum, eine künstliche Realität für seine Insassen zu erzeugen. Was ist echt, was ist fiktiv? Was ist geträumt, was ist medikamenteninduziert, was ist simuliert? Der Erzähler beginnt zu zweifeln, an seiner eigenen Wahrnehmung und an den ihm immer unheimlicher werdenden Methoden des Hauses. Im Verlauf des Romans schwankt er auf teilweise extreme Weise in der Beurteilung dieser Methoden, mal lässt er sich auf sie ein, mal schreckt er vor ihnen zurück, entwickelt Fluchtreflexe. Ein vergleichbar großes Pendel schlägt in seinem Inneren zwischen Hoffnung und Angst, Auflehnung und Resignation, Versöhnung und Niedergeschlagenheit; dabei werden diese hin und herpendelnden Gefühlszustände sprachlich in feinsten Nuancen eingefangen. So gut wie nie verliert der Ich-Erzähler jedoch seinen kritischen Blick, auch wenn er sich in manchen Momenten der Illusion hingibt, dass hier wirklich etwas zu seinem Wohl getan wird und das „Haus zur Sonne“ nicht nur eine virtuell aufgehübschte Verwahr- und Todeszelle für die untauglichen Elemente der Gesellschaft ist. Doch auch wenn die Lage aussichtslos ist und auch wenn angesichts des Todes auf Erden alles nur Fiktion ist, so möchte der Erzähler diese wenigstens selbst bestimmen. Und so ändert er am Ende, so viel darf man verraten, wie die kleine Maus in der Fabel die Laufrichtung.

Bibliographische Angaben
Thomas Melle: Haus zur Sonne, Kiepenheuer & Witsch 2025
ISBN: 9783462004656

Bildquelle
Thomas Melle, Haus zur Sonne
© 2025 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderSimone Weil: La Pesanteur et la Grâce

Wenn ich meine erste Begegnung mit den Texten der jung verstorbenen und in Deutschland lange Zeit wenig bekannten französischen Philosophin Simone Weil in nur zwei Adjektiven zusammenfassen müsste, so würde ich sagen, dass ich fasziniert und verstört aus der ersten Lektüre hervorgegangen bin — die keine einmalige geblieben ist: Der postum erschienene Band La Pesanteur et la Grâce, den nach dem Krieg ein guter Freund aus ihren nachgelassenen Schriften zusammengestellt hat, die sie ihm bei ihrer Emigration aus Frankreich anvertraute, besteht aus einer Fülle von philosophischen Skizzen, Aphorismen, aus Gedanken in der Tradition der Pascal’schen Pensées, die zusammen Ausdruck eines radikalen, aber kohärenten philosophisch-religiösen Denkens sind, aber auch einzeln ihre Wirkung entfalten, so dass manche von ihnen wie ein Mantra lesbar sind.

Simone Weils philosophische Schriften sind eine intellektuelle und, wie ich finde, vor allem auch eine große emotionale Herausforderung. Die Radikalität ihrer Philosophie lässt sich beim Lesen am eigenen Leib und Geist erfahren, intellektuell nachvollziehend möchte man, emotional getroffen, immer wieder protestieren, in eine innere Revolte, auf jeden Fall in einen bewegten Dialog mit ihren Texten treten.

1909 in Paris geboren, wuchs Simone Weil in einer gebildeten jüdischen Familie auf, studierte Philosophie, wurde Gymnasiallehrerin und vollzog in ihren jungen Erwachsenenjahren bald eine Wende zur christlichen Mystik. Dem jüdischen Glauben und überhaupt dem Alten Testament stand sie ablehnend gegenüber, und auch ihr Verständnis des Christentums mag anders, ja radikal erscheinen: Für sie ist Gott die Liebe, doch an das Kreuz, das Leiden Jesu glaubt sie ohne den rettenden Glauben an die Unsterblichkeit. Es ist ein von jeglicher Kompensation freier Glaube ohne Hoffnung, ohne Trost, weshalb aus dem Alten Testament zumindest auch die biblische Figur Hiobs eine Rolle für ihr Denken spielt. Genausowenig wird das Elend bei ihr jedoch verklärt oder gar mit Zynismus bedacht, ihre eigene Lebensführung, ihre radikale und zugleich ganz praktische Hingabe an die anderen, ihr politischer Einsatz, der zugleich ein spiritueller war, zeigt das eindrücklich. Philosophie und Leben waren für sie eng verbunden, sie war engagiert, heute würde man sie vielleicht eine Aktivistin nennen, ihre Revolte, die nicht nur intellektueller Natur war, trieb sie bis zur Selbstauslöschung auch in ihrem politischen Einsatz. Sie wirkte als Gewerkschafterin, teilte ihr Lehrerinnengehalt mit Arbeitslosen, ließ sich ein Jahr von ihrem Dienst freistellen, um unter harten Bedingungen in einer Fabrik zu arbeiten, nahm am Spanischen Bürgerkrieg teil und starb mit Mitte dreißig geschwächt und ausgelaugt, auch durch ihre selbst auferlegte solidarische Nahrungsrestriktion, im Exil in England an Tuberkulose.

Die Liebe Gottes lässt sich für Simone Weil nur in der Auslöschung des Ich erfahren, göttliche Gnade (la grâce) nur im radikalen Aushalten von Leere (le vide). Ein weiterer wichtiger Begriff in ihrem Denken ist die Schwerkraft (la pesanteur), die das Dasein physikalisch und moralisch bestimmt. Auch diese gilt es anzunehmen, da ein jegliches Streben nach ihrer Überwindung, nach Erhebung uns doch nur wieder nach unten zieht. Ganz unten zu sein, auf illusorische Kompensationen zu verzichten, ist denn auch die unabdingliche, wenngleich keine Garantie darstellende Voraussetzung für den Einbruch der Gnade in unser Dasein. Denn die Gnade sucht sich ihren Weg zu uns über den Riss, die Verletzung, den Schmerz.

Ne pas exercer tout le pouvoir dont on dispose, c’est supporter le vide. Cela est contraire à toutes les lois de la nature: la grâce seule le peut. / La grâce comble, mais elle ne peut entrer que là où il y a un vide pour la recevoir, et c’est elle qui fait ce vide. […] L’homme n’échappe aux lois de ce monde que la durée d’un éclair. Instants d’arrêt, de contemplation, d’intuition pure, de vide mental, d’acceptation du vide moral. C’est par ces instants qu’il est capable de surnaturel. / Qui supporte un moment de vide, ou reçoit le pain surnaturel, ou tombe. Risque terrible, mais il faut le courir, et même un moment sans espérance. Mais il ne faut pas s’y jeter.

Die Leere auszuhalten bedeutet, nicht die ganze Kraft auzusüben, über die man verfügt. Das widerspricht allen Naturgesetzen. Allein die Gnade ist dazu imstande. / Die Gnade erfüllt, doch sie kann nur dort eintreten, wo sie von einer Leere empfangen wird, und sie ist es, die diese Leere erschafft. […] Der Mensch entflieht den Gesetzen dieser Welt nur für die Dauer eines Blitzstrahls. Augenblicke des Innehaltens, der Kontemplation, der reinen Intuition, der geistigen Leere, der Akzeptanz der moralischen Leere. In diesen Augenblicken ist er offen für das Übernatürliche. / Wer einen Moment der Leere aushält, empfängt entweder das übernatürliche Brot oder er fällt. Ein schreckliches Risiko, aber man muss es eingehen, sogar einen Moment ohne Hoffnung. Doch man darf sich nicht hineinstürzen.

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, pp. 53-55 (Übersetzung der Rezensentin)

Wenn man Simone Weil liest, wenn man sich auf ihre Texte einlässt, muss man viele Paradoxe aushalten — man besitzt nur, auf was man verzichtet, man hat an der Erschaffung der Welt teil, indem man sich selbst auslöscht, die Abwesenheit Gottes als Modus seiner Präsenz, anmaßend sein, wenn man vergisst, dass man Gott ist, verwurzelt sein in der Abwesenheit eines Ortes, usw. –, um dann, wenn man mit ihr diese scheinbaren Widersprüche weiterdenkt, in ihnen immer wieder die Wahrheit zu spüren, die sich nur auf diesem, oft vor den Kopf stoßenden Wege ertasten lässt. Der Widerspruch (la contradiction), dem sie auch ein Kapitel widmet, ist im Grunde das zentrale strukturelle Prinzip ihrer Texte:

Méthode d’investigation: dès qu’on a pensé quelque chose, chercher en quel sens le contraire est vrai.

Untersuchungsmethode: sowie man etwas gedacht hat, herauszufinden suchen, inwiefern das Gegenteil wahr ist.

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, p. 174 (Übersetzung der Rezensentin)

Die Auslöschung des Ich (le détachement, vs. l’attachement, dem Hängen an den Dingen, an allem Irdischen, Lebenden, das illusorisch ist und trotz seiner scheinbaren Materialität von der Wirklichkeit wegführt, anstatt sie uns näherzubringen) ist eine Gemeinsamkeit der fernöstlichen Philosophie, für die Simone Weil sich ebenfalls sehr interessierte, und ihrem eigenen christlich verankerten Denken, das hier mehr von der christlichen Mystik als von der christlichen Theologie beeinflusst ist.

Nous ne possédons rien au monde — car le hasard peut tout nous ôter — sinon le pouvoir de dire je. C’est cela qu’il faut donner à Dieu, c’est-à-dire détruire. Il n’y a absolument aucun autre acte libre qui nous soit permit, sinon la destruction du je.

Wir besitzen nichts auf der Welt — denn der Zufall kann uns alles nehmen — außer die Möglichkeit ich zu sagen. Das ist es, was man Gott geben muss, das heißt was man zerstören muss. Es gibt absolut keine andere freie Handlung, die uns möglich ist, außer der Zerstörung des Ich.

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, p. 73 (Übersetzung der Rezensentin)

Diese radikale Auslöschung des Ich, mit der Simone Weil dem Individualismus der Moderne klar den Rücken kehrt, macht uns in ihrer Vorstellung jedoch nicht stoisch-unberührbar, sondern vielmehr schmerzhaft verletzlich und damit einzig empfänglich für die göttliche Gnade. Entsprechend schmerzhaft sind auch die Übungen und Selbsttechniken, die sie vorschlägt:

Ne jamais penser à une chose ou à un être qu’on aime et qu’on n’a pas sous les yeux sans songer que peut-être cette chose est détruite ou que cet être est mort. […] Chaque fois qu’on dit: « que ta volonté soit faite », se représenter dans leur ensemble tous les malheurs possibles.

Niemals an eine Sache oder ein Wesen, die man liebt und nicht vor Augen hat, denken, ohne sich vorzustellen, dass diese Sache vielleicht zerstört oder dieses Wesen vielleicht tot ist. […] Sich jedesmal, wenn man sagt: „dein Wille geschehe“, in ihrer Gesamtheit alle möglichen Unglücke vorstellen.

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, p. 60 (Übersetzung der Rezensentin)

Mit der radikalen Zurücknahme des Ich verbindet Simone Weil auch eine Praxis, die heute mit dem Begriff der Achtsamkeit ein verstärktes Interesse auch in der westlichen Welt erfährt. Simone Weil spricht von attention, einer gerichteten Aufmerksamkeit, mit der es uns möglich wird, eine Stille in uns zu schaffen, in der Gott hörbar wird. Diese Form der Achtsamkeit entspricht auch ihrer Vorstellung des Gebets, intentionslos zu betrachten und zu lauschen, was — vielleicht — Gottes Wille ist. Und das Gebet ist, wie es auch andere Mystiker vor und nach ihr empfunden haben, manchmal nichts anderes als Poesie, die sich auch am besten erspüren lässt, wenn man den intellektuellen Denkapparat zunächst ausschaltet, um sich ganz auf die Kontemplation der Bilder, Klänge, Worte einzulassen:

Non pas essayer de les interpréter [les images, les symboles], mais les regarder jusqu’à ce que la lumière jaillisse.

Nicht versuchen, sie [die Bilder, die Symbole] zu interpretieren, sondern sie zu betrachten, bis das Licht hervorbricht.

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, p. 197 (Übersetzung der Rezensentin)

Es verwundert nicht, dass ihre Definition der Poesie auf sehr poetische Weise wieder auf dem Prinzip des Widersprüchlichen beruht:

Poésie : […] Une joie qui, à force d’être pure et sans mélange, fait mal. Une douleur qui, à force d’être pure et sans mélange, apaise.

Poésie: […] Eine Freude, die, da sie rein ist und unvermischt, weh tut. Ein Schmerz, der, da er rein ist und unvermischt, beruhigt.


Simone Weil, La pesanteur et la grâce, pp. 234-235 (Übersetzung der Rezensentin)

Jenseits dessen, dass uns Simone Weils Texte auch heute ganz klar etwas zu sagen haben — ihr wertschätzender Blick auf das Dasein, auf die uns anvertraute göttliche Schöpfung, in der wir die Aufgabe von Mittlern zwischen Gott und Schöpfung haben, und, weil wir selbst das Göttliche in uns haben, letztlich nichts hervorbringen können, das besser ist als wir selbst, uns vor der Hybris allzu großer Technikgläubigkeit also in Acht nehmen sollten — lassen sie uns mit ihrer den Geist weitenden Wortkunst (nur ein Beispiel, das mir sehr gefallen hat: une force déifuge, eine Gott fliehende, eine Deifugalkraft) und Wahrheit aus der willkürlich dahinjagenden horizontalen Zeit augenblicksweise in die Vertikale der Fiktion, der Poesie fallen, an die fragile und zugleich robuste Zartheit von Schneeglöckchen erinnernd, die aus der spätwinterlichen Erde brechen.

Si seulement je savais disparaître, il y aurait union d’amour parfait entre Dieu et la terre où je marche, la mer que j’entends…

Wenn ich es nur verstehen würde zu verschwinden, gäbe es einen perfekten Liebesbund zwischen Gott und der Erde, auf der ich laufe, dem Meer, das ich höre…

Simone Weil, La pesanteur et la grâce, p. 94 (Übersetzung der Rezensentin)

Bibliographische Angaben
Simone Weil: La Pesanteur et la Grâce [1948; 1988], Plon 2020
ISBN: 9782266045964

Deutsche Ausgabe:
Simone Weil: Schwerkraft und Gnade, herausgegeben von Charlotte Bohn, Matthes & Seitz 2020
Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp
ISBN: 9783957579348

bookmark_borderAlain Claude Sulzer: Fast wie ein Bruder

Die Romane des Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer umkreisen in Variationen immer wieder ein bestimmtes Motiv, das sich mit dem Begriffspaar des Aufleuchtens und Verschwinden umreißen lässt und übrigens nicht nur die Haupt-, sondern auch die scheinbaren Nebenfiguren betrifft. Vielleicht ist es auch das, was mir an der Feder dieses Autors so gefällt: dass, ohne historische oder gesellschaftliche Machtstrukturen zu verkennen, die Hierarchie von wichtigen und weniger wichtigen Figuren ausgehebelt wird, dass Vordergrund und Hintergrund in Bewegung geraten. In Postskriptum, das von einem berühmten Schauspieler erzählt, der in unterdrückerischen Zeiten in Vergessenheit gerät, geht es um die Hinfälligkeit von Ruhm, in Unhaltbare Zustände folgt die Erzählung dem unauffälligen Leben eines Schaufensterdekorateurs, auf dessen Existenz sich für einen Moment die Scheinwerfer richten, in Doppelleben kontrastiert das doppelte Leben der Brüder Goncourt, die in ihrem berühmten Tagebuch über die Abgründe und Lächerlichkeiten der intellektuell-mondänen Kreise des 19. Jahrhunderts schreiben, mit dem Doppelleben ihrer unscheinbaren Haushälterin. Und sie bewegen sich alle im Dunstkreis der Kunst, jeder Roman hat etwas von einer kleinen Künstlerbiographie, der das Scheitern als tragisches oder vielleicht eher melancholisches Element eingeschrieben ist.

Auch in seinem jüngsten Roman Fast wie ein Bruder fällt Frank, der fast wie ein Bruder für den Erzähler ist, nicht auf, zumindest nicht zu seinen Lebzeiten und nicht für das, was er sich im Innersten wohl gewünscht hätte, nämlich für seine künstlerischen Arbeiten. Was ihn in den Augen seiner Umgebung auffällig macht, ist seine Homosexualität, die zu der Zeit, in der der Roman spielt, ein Stein des Anstoßes ist und vertuscht werden muss. Doch etliche Jahre nach seinem frühen Aidstod tauchen auf einmal Gemälde von ihm in einer Berliner Galerie auf und sorgen dort für Furore. Der verkannte Künstler erlangt postum eine plötzliche, unerwartete, aber auch namenlose Berühmtheit, denn niemand außer dem Erzähler weiß, wer diese Bilder gemalt hat. Es sind Bilder aus dem Nachlass des Künstlers, die bisher unbeachtet in einer französischen Gartenhütte verwahrt wurden, in die sie der inzwischen nach Frankreich ausgewanderte Erzähler nach dem Tod seines ehemals engsten Freundes recht achtlos untergebracht hatte. Der Raub der Werke ist für den Erzähler denn auch der Anlass zum Schreiben und Sich-Erinnern an eine Freundschaft, die im Laufe der Zeit mehr und mehr verblasste, und auch der Beginn einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Frage nach den eigenen Fehlern und Unterlassungen.

Am Anfang steht eine große Nähe. Frank und der Erzähler wachsen in den 70er Jahren im Ruhrgebiet auf, leben seit ihrer Geburt als Nachbarn im selben Haus und sind einander wie Brüder. Im Teenageralter entwickeln sie unterschiedliche Interessen, dann sterben beide Mütter kurz nacheinander an Krebs. Die Väter bleiben mit ihren Söhnen zunächst im gemeinsamen Haus wohnen, bis Frank eines Abends halbnackt mit einem Zigeunerjungen erwischt wird. Nach diesem Skandal, der alle, auch den Erzähler überfordert, kommt es zum Bruch, mit der vorurteilslosen Brüderlichkeit der beiden Nachbarsjungen ist es vorbei und auch räumlich entsteht durch den Umzug beider Familien Distanz. Frank verschlägt es nach New York, wo er in der Künstler- und Schwulenszene ein ausschweifendes Leben führt. Zwar arriviert er nicht als Künstler, kann fern von Deutschland und seinen erstickenden Moralvorstellungen aber seinen sexuellen Neigungen nachgehen. Bis er von der Krankheit eingeholt und ausgebremst wird, die damals für unzählige Schwule den so gut wie sicheren Tod bedeutete. Es ist ein grausamer Tod, ein Dahinsiechen mit dem Stigma des Aussätzigen. Zum Sterben kehrt er nach Deutschland zurück, in einem Berliner Krankenhaus sehen sich Frank und der Erzähler nach langer Zeit wieder, können ihre Kommunikation aber nicht mehr wirklich wieder aufnehmen, so dass vieles ungesagt bleibt. Der Erzähler arbeitet inzwischen als Filmkameramann, hat eine Französin geheiratet und seinen Lebensmittelpunkt nach Frankreich verlagert, von wo aus er seine beruflichen Reisen in die Welt unternimmt. Er ist nicht wirklich glücklich, das Auseinanderleben, das seine früheste Freundschaft fast zur Auflösung gebracht hat, wiederholt sich auf andere Weise auch in seiner Ehe, deren Geschichte Alain Claude Sulzer in dem unaufgeregten Ton, den er so gut beherrscht, am Rande miterzählt.

Unter der Oberfläche der Handlung, die mit dem Raub der Bilder die Andeutung eines Kriminalfalls und die biographischen Werdegänge der Protagonisten verbindet, ist die Erzählung eine kontinuierliche Hinterfragung der eigenen Verantwortung des Erzählers, eine Gewissensbefragung, in der ausgehend von der Entwicklung einer Freundschaft die Entscheidungen des Lebens in neuem, mitunter sehr schmerzlichem Licht betrachtet werden.

Der Erzähler muss sich eingestehen, dass er die Arbeiten seines Freundes unterschätzt hat. Was nicht nur einem unterschiedlichen Kunstverständnis geschuldet war, sondern auch seinem mangelnden Interesse, seiner Trägheit und Unentschlossenheit. Mit bildender Kunst, auch mit Musik, für die der junge Frank früh zu schwärmen beginnt, kann der Erzähler wenig anfangen; in den frühen künstlerischen Versuchen seines Freundes sieht er nur die nicht sehr originelle Nachahmung anderer Künstler, die ja nicht selten vor Beginn der Herausbildung einer eigenen künstlerischen Handschrift steht. Spätere Arbeiten Franks kennt er kaum mehr, fragt auch nicht nach. Sein künstlerisches Interesse gilt einzig dem Film, dem bewegten Bild, das er zu seinem Beruf macht, wobei er auch hier eine gewisse Trägheit an den Tag legt. Auch wenn er wohl Talent hinter der Kamera zu haben scheint, macht er zum Großteil Werbefilme und überlässt dem Regisseur die Verantwortung für das künstlerische Ergebnis. Ist der fehlende Mut die traurige Konstante in seinem Leben? Waren ihm die bewegten Bilder der Kamerakunst ein willkommener Vorwand, nicht stehenzubleiben, nicht innezuhalten, nicht Farbe zu bekennen? Stattdessen hatte er sich der Unaufhaltsamkeit der Zeit unterworfen, der einzig die Kunst etwas entgegenzusetzen vermag.

Zeit und Kunst, so geht es auch aus diesem Roman Alain Claude Sulzers hervor, stehen in einer spannungsreichen Wechselwirkung, in der der einzelne Mensch verlorengehen kann. Denn Kunst reicht über eine Lebensspanne hinaus, wird in ihrer Bedeutung oftmals erst erkannt, wenn die Zeiten andere sind, ja die Bedeutsamkeit zeigt sich gerade im Überdauern, in der zeitlichen Enthobenheit. Für Franks Kunst war die Rezeption zu Lebzeiten noch nicht reif, vor allem war es der Erzähler nicht, der dafür erst einen Anstoß von außen und einen reflektierenden Prozess im Inneren erleben musste, den er im Schreiben wiederum nach außen trägt. Das aufleuchtende Ergebnis ist ein schöner, ein nachdenklicher Roman, der auffälligerweise weniger unaufgeregt erzählt ist als die anderen Bücher des Autors. Das mag daran liegen, dass die Erzählerstimme diesmal in der Ich-Perspektive zu uns spricht. Man spürt, wie der Erzähler mit seinen Schuldgefühlen ringt, wie angegriffen er von der Geschichte seines Freundes ist, die zu dessen Lebzeiten so wenig fertig erzählt werden konnte wie seine Kunst. Auch der Roman ist im Übrigen nicht auserzählt, ein Geheimnis bleibt am Ende, was der Überzeugungskraft der Geschichte keinen Abbruch tut, im Gegenteil.

Bibliographische Angaben
Alain Claude Sulzer: Fast wie ein Bruder, Galiani 2024
ISBN: 9783869712949

Bildquelle
Alain Claude Sulzer, Fast wie ein Bruder
© 2025 Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co KG, Köln

bookmark_borderKirsty Gunn: Untreuen

Ein einsamer Schwan ist auf dem Titelbild zu sehen, das Tier, an dessen lebenslange Treue zu seiner Partnerin wir doch so gerne glauben. Der Titel, zumal im Plural, verheißt also Vielschichtigkeit und Brüche, und macht neugierig auf die Erzählungen, ebenfalls im Plural, die dahinter stecken.

In den verschiedenen Kurzgeschichten, die die Autorin in diesem Band versammelt, lesen sich diese Untreuen fast immer als Freiheitsfluchten ihrer meist weiblichen Protagonistinnen. Gemeinsam ist den Geschichten auch die rückblickende Perspektive, sei es der Ich-Erzählerin oder der in der dritten Person, aber mittels erlebter Rede erzählten Figur, auf einen oft im Nachhinein erst als entscheidend bewerteten Moment der Veränderung.

Untreu sind die Figuren vor allem gegenüber Konventionen, mal geht es um kleinere, mal um größere Übertretungen, die aber von denen, die sie begehen, immer als große Freiheit empfunden werden. Das Skandalöse hat in diesen Geschichten immer etwas Befreiendes, und umgekehrt, seien es die etwas zu weit gespreizten statt sittsam übereinander geschlagenen Beine bei der Unterhaltung mit einer anderen Frau auf einer Party, oder ein unangekündigter Lauf allein und auf bloßen Füßen über den matschigen Waldboden und die stille nächtliche Rückkehr mit schlammbesudelten Beinen ins häusliche Bett. Beide Geschichten, aus so unterschiedlichen Lebenswelten sie erzählen, eint der kurze, intensive Moment der Freiheit: Statt oberflächlichem Partysmalltalk erlebt die erste Protagonistin ein erotisches und intellektuelles Gespräch, eine zeitlich begrenzte, intensive Begegnung mit einem anderen Menschen; und auch die Protagonistin der anderen Geschichte unterläuft mit ihrer wortlosen Flucht zum ersten Mal die Machtposition ihres Ehemannes, die sich, so erfährt man es zu Beginn der Geschichte, tagtäglich in der unhinterfragten Deutungshoheit seiner Aussagen manifestiert. Die Ehe erscheint nicht nur hier als Verbündete der Konventionen, der Bund fürs Leben erweist sich in vielen Geschichten als Band einer eher einseitigen Anpassung: an ein erwartetes Bild, an eine Rolle, an die zerstörerischen Gewohnheiten des Partners, wie im Falle einer Protagonistin, die trinkt, weil ihr Mann trinkt.

Auch bei guten Paarbeziehungen kann sich dieses Bedürfnis nach einem Ausbruch, einer Veränderung, eines Bruches zeigen, nach einem Herauslösen aus den alltäglich gewordenen Strukturen. In einer anderen, sehr berührenden Geschichte kehrt eine unheilbar kranke Musikerin allein, ohne den liebenden Partner, vom Land in die große Stadt London zurück, um dort ihr Werk aufzuführen und dem Tod entgegenzutreten.

Zusammengehalten werden die Geschichten nicht nur motivisch, sondern zusätzlich durch die vielleicht etwas gewollte Konstruktion einer Rahmenhandlung, in der eine Kurzgeschichtenautorin ihren Auftritt hat. Poetologische Ansätze schimmern auf subtilere Weise auch in den einzelnen Geschichten durch, in denen es, in einem dialogreichen, für meinen Geschmack etwas flapsigen Stil, immer wieder um das Erzählen der eigenen Geschichte geht, um das Ergreifen des Wortes, darum, sich von der männlichen Version über das eigene Leben freizumachen. Eindeutig sind zum Glück auch die neu erzählten Versionen nicht, da die Autorin ihre Figuren als sich und ihr Leben hinterfragende Charaktere angelegt hat.

Bibliographische Angaben
Kirsty Gunn: Untreuen, Oktaven 2020
Aus dem Englischen von Uda Strätling
ISBN: 9783772530210

Bildquelle
Kirsty Gunn, Untreuen
© 2025 Verlag Freies Geistesleben und Urachhaus GmbH, Stuttgart

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