Hand aufs wilde Herz — wer kennt Clarice Lispector (1920-1977), die ukrainisch-brasilianische Schriftstellerin mit dem faszinierenden Namen, und wer hat schon einmal etwas von ihr gelesen? Bestimmt nicht viele, schließlich sind noch längst nicht alle ihre Werke ins Deutsche übersetzt. Dabei ist sie, die zu Lebzeiten eine angesehene Journalistin und geheimnisumwitterte Autorin anspruchsvoller Prosa war, nicht weniger schillernd und modern, sich ebenso literarischen oder das soziale Geschlecht betreffenden Zuschreibungen entziehend, wie Virginia Woolf, mit der sie bisweilen verglichen wird. Doch es scheint — ich hoffe es sehr — als würde Lispectors Literatur seit kurzem auch bei uns wieder oder neu entdeckt werden. Immerhin hat der Penguin Verlag gerade zum ersten Mal ihre Kurzprosa in deutscher Übersetzung unter dem schönen Titel Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau veröffentlicht, und seit ein paar Jahren kann man in der umfangreichen Biographie von Benjamin Moser, die im Schöffling Verlag erschienen ist, der seinerseits Romane von ihr in neuer Übersetzung herausgibt, auch intensiv in Leben und Schreiben dieser Frau eintauchen, deren extravagante Texte einen Sog entwickeln, der zugleich irritierend und faszinierend, vor den Kopf stoßend und poetisch ist.
Ich möchte hier allen Lesern mit einem offenen Herzen für wilde Prosa Clarice Lispectors ersten Roman ans Herz legen. Sie schrieb ihn als ganz junge Frau mit Anfang 20 und gab ihm den Titel Perto do coração selvagem (Nahe dem wilden Herzen), ein Zitat aus James Joyce Portrait of the Artist as a Young Man.
1944, als der Roman erschien, hatte sich Clarice Lispector gerade gegen den Willen der Eltern mit einem brasilianischen Konsul vermählt, mit dem sie zwei Kinder haben und die meiste Zeit ihrer Ehe im Ausland verbringen würde. 1959 lässt sie sich scheiden, kehrt nach Brasilien zurück und zieht ihre Söhne alleine auf. Die journalistische Arbeit dient ihr hauptsächlich als Broterwerb, während sie parallel ihre literarischen Projekte voranbringt, zahlreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht, ehe sie 1977 an Krebs stirbt. Auch wenn Clarice Lispector, die nach der Ankunft in Brasilien einen portugiesischen Vornamen bekommt und im Unterschied zu ihren Eltern mit der portugiesischen Sprache und der brasilianischen Kultur aufwächst, scheint sie doch zeitlebens ihre Identität als etwas Flüchtiges und Multiples zu begreifen und über ihr Schreiben zu greifen versuchen. Über ihre Herkunft hält sie sich bedeckt und verschleiert auch ihr wahres Geburtsdatum: Tatsächlich wurde sie 1920 in einem jüdischen Schtetl in der Ukraine geboren und floh noch als Kleinkind wegen nationalistischer und kommunistischer Pogrome mit ihrer Familie über Deutschland nach Brasilien. (Einen schönen ersten Einblick in Biographie und Werk gibt F. P. Ingold in der Zürcher Zeitung: „Das Geheimnis der Sphinx“.)
Mit „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“, der deutsche Titel ihrer Kurzprosa, ließe sich auch ihr erster Prosatext ziemlich gut charakterisieren. In Nahe dem wilden Herzen geht es um eine junge Frau, Joana, und ihre rastlose Suche nach einem Ausdruck ihres immer wieder als fluide wahrgenommenen Selbst und des komplexen Verhältnisses von Ich und Welt, das sie in Worte zu fassen sucht, die sich im Prozess des Formulierens, ja eigentlich während sie nur gedacht werden, bereits wieder entziehen. Und so wird Joanas Leben von der Kindheit bis in die jungen Erwachsenenjahre hinein in einer losen, unsteten, assoziativen Weise erzählt, einzelne Phasen ihres Lebens werden in wenigen, extrem verdichteten und oft onirisch verfremdeten Szenen heraufbeschworen, Schwebezustände zwischen Wachsein und Schlaf oder Traum ausgelotet, in denen die mäandernde, sich stets neu formende und nie still stehende Gedankenwelt einer weiblichen Stimme imaginiert wird, wobei selbst das Weibliche alles andere als eine stabile, klar umrissene Größe darstellt. Es ist ein Schreiben, das ganz aus dem Inneren heraus zu entstehen scheint, das ein wenig den Bewusstseinsströmen bei Virginia Woolf oder James Joyce verwandt ist, und doch etwas ganz eigenes hervorbringt.
Anstatt einer kausalen und temporalen Ordnung schafft Clarice Lispector ein nicht klar voneinander zu trennendes Ineinander von eher spärlicher Handlung und subtilen, unterschwelligen Empfindungen. Man muss sich auf die Lektüre einlassen und bereit sein, sich ihr in gewisser Weise ebenso intuitiv hinzugeben wie Joana sich ihren Protogedanken in den frühen Morgenstunden hingibt, wenn das Gehirn noch nicht auf seinen rationalen Modus umgeschaltet hat. Auch um den Preis, wie Joana ein gewisses Ungenügen zu verspüren, wenn die bezaubernde, berauschende Idee einem im nächsten Moment schon wieder entgleitet. Doch vielleicht liegt gerade darin das Wesen der Freiheit, der Wahrheit, der Ewigkeit? Joana weiß, dass sie die Dinge nur fühlen kann, ohne sie zu besitzen („sentir a coisa sem possuí-la“, S. 22), denn die Kehrseite wäre, von den Dingen besessen zu werden („E havia um meio de ter as coisas sem que as coisas a possuíssem?“, S. 31). Auf jeden Fall scheint dieser Schwebezustand, diese Unfassbarkeit und Wandelbarkeit der Dinge, gerade den Reiz der Imagination auszumachen:
Pensar agora, por exemplo, em regatos louros. Exatamente porque não existem regatos louros, compreende?
Zum Beispiel, an goldblonde Bäche denken. Genau aus dem Grund, weil es keine goldblonden Bäche gibt, verstehst du?
Perto do coração selvagem, S. 20
Auch wenn der Roman quasi von einer Metapher strukturiert wird, gibt es durchaus Handlungselemente, die Einblick in Joanas Leben geben, so etwa die Abwesenheit der Mutter, der frühe Verlust des Vaters, das Unverständnis und die Angst der Tante vor der kleinen Joana, die sie als „víbora“ (Viper) bezeichnet und ins Internat schickt, weil sie mit ihrer Art, Grenzen auszutesten, nicht zurecht kommt, Joanas Heirat mit dem Rechtsanwalt Otávio, die Begegnung mit seiner Ex-Verlobten Lídia, die nun zu seiner Geliebten geworden ist, die Trennung des Ehepaares. Dabei wird Joana, die ihr Selbst als äußerst instabil und flüchtig erlebt, immer wieder auf sich zurückgeworfen. Sie versucht, sich in Beziehungen zu verorten, doch erfährt sie diese als instabil und einengend. Sie versucht, sich mit anderen Frauen zu vergleichen, Ähnlichkeiten aufzuspüren, doch erlebt sie sich immer als anders und findet sich in keinem der beobachteten Rollenmodelle wieder.
Es ist erstaunlich, dass Clarice Lispector diesen Text, in dem sie eine verletzliche und zugleich starke Frauenfigur mit einem unbändigen Verlangen nach Freiheit in so vielen ambivalenten, faszinierenden Schattierungen skizziert, zu einem so frühen Zeitpunkt ihres Lebens geschrieben hat.
Unkonventionell und modern ist dieses Buch noch immer: ob es der Frage der weiblichen Eigenständigkeit nachgeht oder mit fluide gewordenen Kategorien von „gut“ und „böse“ experimentiert, das unerwartete Verhalten der Protagonistin stellt alles Starre, Festgefahrene, Einengende in Frage und auf den Kopf.
– Clarice Lispector: Perto do coração selvagem [1944], Rocco (1998)
ISBN: 9788532508102
Zur deutschen Übersetzung beim Schöffling Verlag
– Clarice Lispector: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau, Penguin Verlag (2019)
ISBN: 9783328600947