bookmark_borderGertrud Leutenegger: Matutin

Die Matutin, die ihren Ursprung in den rituellen Nachtwachen der frühen Christen hat, wird in der katholischen Liturgie in den ganz frühen Morgenstunden, im Hinübergehen von der Nacht zum Tag, gebetet. Dieses Transitorische zwischen zwei Wirklichkeits- oder vielleicht eher Wahrnehmungszuständen charakterisiert auch ganz stark den 2008 erschienenen gleichnamigen Roman der Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger (1948-2025), die trotz einiger literarischer Auszeichnungen in der Öffentlichkeit wenig bekannt war.

Matutin ist ein stiller Roman, der ganz wunderbar von der Sprache und den sprachlich erzeugten Bildern getragen wird. Gertrud Leutenegger war auch Lyrikerin, das merkt man dem Text an, der einen auf eine Weise in Bann zieht, die man gar nicht recht begreift, und der einen Spannungsbogen schafft, der nicht von den wenigen und im Schwebezustand des Unvollendeten verbleibenden Handlungselementen abhängig ist, sondern durch eine Wiederholung, Variation und Verdichtung der Motive und Bilder entsteht. Dabei folgt der Text in einer lyrischen Prosabewegung zwei scheinbar entgegengesetzten literarischen Pfaden, denn die Bilder verleihen sowohl dem Schrecklichen der Existenz einen Ausdruck von unaufgeregter Eindringlichkeit als auch dem Alltäglichen einen nachschwingenden Zauber, der aber nichts Mystifizierendes hat.

Der ganze Roman ereignet sich in einem Raum des Dazwischen, evoziert einen Schwellen- und Schwebezustand, in dem Joseph Vogl in einem kürzlich erschienenen Essay (Meteor — Versuch über das Schwebende, C.H. Beck 2025) eine besondere Qualität des Literarischen, wie sie etwa bei Robert Musil oder Franz Kafka hervortritt, ausgemacht hat. In Leuteneggers Text ist der Turm, der auf einem Floß in der Bucht eines Sees gelegen ist, an dessen Ufern sich die Stadtkulisse mit ihren Hotels erhebt, das dinghafte Symbol für diesen Raum des Dazwischen; ein Bauwerk, das so vertraut wie unheimlich wirkt, so bedrohlich wie bedroht, scheinbar fest erbaut, und doch wandelbar. Zu Beginn des Romans wird die Erzählerin für eine vorübergehende, vergängliche, ihr vorher nicht bekannte Zeitspanne die Kustodin dieses Turmes; 30 Tage und Nächte werden es sein, die den 30 Kapiteln des Romans entsprechen. Für sie und für uns Leser ist der Eintritt in den Turm eine Rückkehr in die Innenwelt ihrer Kindheit, die sich mit der Vergangenheit des Turms zu überlagern beginnt. In Wirklichkeit nur ein Nachbau, eine Konstruktion aus Holz, dient er als eine Art Museum oder Dokumentationsstelle für das ehemalige Handwerk der Vogelfänger in der italienischen Schweiz.

Die Vogelmetaphorik überzieht in vielen Schattierungen den ganzen Roman, das Textgewebe erscheint als Vogelschwarm, der Vergangenheit und Gegenwart und auch die Figuren und Motive miteinander verbindet. Erinnerungen an eine verletzte Amsel, die sich ins Elternhaus geflüchtet hatte, und an den vogelliebenden Vater sind mit dem Motiv des Hütens und Versorgens verknüpft, während die im Turmmuseum dokumentarisch belegten Vorgehensweisen der Vogelfänger, die die Erzählerin und Turmwächterin den Besuchern nahebringen soll, von erschreckender Brutalität und Gewaltsamkeit sind: Vögel, die gejagt, gequält, getötet wurden, geblendete und malträtierte Lockvögel, Zugvögel, die sich in einem jenseits des Turms gepflanzten Baumkorridor verirren und verfangen sollten. Der Turm erscheint hier geradezu als Hort der Gewalt, als böse Täuschung eines sicheren Hafens.

In diesen hat sich auch die Erzählerin geflüchtet, wohl ahnend, dass es sich hier weniger um einen Schutzraum denn um einen Konfrontationsraum handelt, auch um einen Raum der Konzentration, im wörtlichen Sinne eines Sich-Zentrierens. So ist die Turmwächterstelle auch mit strengen Regeln verbunden, die einen religiösen, asketischen Charakter haben. Nach Einbruch der Dunkelheit ist im Turm Stillschweigen geboten, die Mahlzeiten sind frugal, jeden Tag wird die gleiche Polenta vor die Tür gestellt. Als tatsächlich ein Besucher im Turm Unterschlupf sucht, Victoria, eine junge Frau mit vermutlich südamerikanischem Akzent, die ihr gesamtes Hab und Gut in ein paar Plastiktüten mit sich trägt, werden diese Regeln immer wieder leicht gebrochen. Victoria möchte eigentlich nichts von den Vogelfängern hören, über die die Erzählerin ihre Gäste informieren soll, doch erzählt sie irgendwann ihrerseits von der blutigen Opferung eines Kondors in ihrer Heimat. Auch sie hat Dinge zu verarbeiten, auch ihre Geschichte ist die eines Exils, sie erscheint wie ein trotz seiner Stärke verletzlicher Zugvogel, der die Turmhüterin irritiert und fasziniert, und der ihr ans Herz zu wachsen beginnt.

Die Erinnerung, die bei der Erzählerin wie auch bei Victoria von der besonderen Atmosphäre des Turmes ausgelöst zu werden scheint, stellt sich als ein flüchtiger, schwebender Zustand dar, der von Andeutungen und kurz aufscheinenden Momenten des Wiedererkennens gespeist wird. Die Ich-Erzählerin meint, im Sekretär, der ihr jeden Tag die Polenta vorbeibringt, eine Person aus ihrem früheren Leben wiederzuerkennen, Victoria lässt einmal fallen, die Turmwächterin in den Hotels, in denen sie gearbeitet hat, schon gesehen zu haben. Weitere Figuren, die die Erzählerin mit ihrem früheren Leben verbindet, tauchen schemenhaft auf, der Architekt des Turmnachbaus im schwarzen Mantel, ein Mädchen, das mal mit Pagenkopf, mal mit langen Haaren draueßen vor dem Turm erscheint und ihr von unten zuwinkt. Ist es ihre Tochter, die sie in der Andeutung einer schmerzhaften Geschichte einmal erwähnt, oder ist sie es selbst als junges Mädchen? Die Figuren verschmelzen, wie alle Eindrücke der Erzählgegenwart, mit den Bildern der Erinnerung, auch Vögel und Menschen werden ununterscheidbar, Zugvögel und Migranten, unerschütterlich bleibt vielleicht nur die Erfahrung des Exils.

Dass dieser Roman einen wie ein luftiges Seidentuch so fest umhüllt, dass er Abdrücke hinterlässt, liegt an der kunstvollen Verdichtung des Stoffes, der im gleichen Atemzug luftig, durchlässig erzählt wird; nicht leicht, denn es ist auch viel Schwermut darin, doch alles Schmerzliche, Lastvolle, Grausame der Existenz erscheint zugleich als vorübergehend, als verwandelbar. Das Schwere wird nicht negiert, es zeichnet das Leben, doch wird es in Matutin literarisch in einen Zyklus von Werden und Vergehen eingeordnet, der der religiösen Zeiterfahrung des Stundengebets entspricht. Der Turm erscheint letztlich als ein Durchgangsort, der Refugium und Aufbruch miteinander verbindet und in dem in einigen flüchtigen Augenblicken das Geheimnis der Verwandlung aufleuchtet: die möglich wird in der alltäglich-mystischen Begegnung.

Bibliographische Angaben
Gertrud Leutenegger: Matutin, Suhrkamp 2015
ISBN: 9783518466247

Bildquelle
Gertrud Leutenegger, Matutin
© 2025 Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin

bookmark_borderNona Fernández: Twilight Zone

Wie kann man, ohne Sensationslust oder Voyeurismus zu schüren und ohne in Betroffenheit zu erstarren, über Folter, über Gewalt, über die Unmenschlichkeit in einem diktatorischen Regime schreiben, ihren Ursachen auf die Spur kommen und ein Stück historischer Aufarbeitung versuchen, das über die Lippenbekenntnisse offizieller Gedenktage und die Leerstellen musealer Dokumentation hinausgeht?

Nona Fernández, 1971 in Chile geboren, Schauspielerin und prämierte Autorin von Theaterstücken, Drehbüchern, Prosatexten, erlebte ihr Land quasi von Geburt an als Diktatur. In Twilight Zone schlüpft sie in eine sehr subjektive erzählerische Rolle, die ihrer eigenen Biographie entspringt, doch literarisch nach allen Regeln der Kunst darüber hinausgeht. Der Nucleus ihres Textes ist die in die Kindheit zurückreichende Erinnerung an ein eigentlich ganz durchschnittlich wirkendes Gesicht in einer Zeitung, unter dem aber der brutale Satz: „Ich habe gefoltert“ prangte. Dieses Gesicht und dieser Satz lassen die Ich-Erzählerin nicht mehr los, sie wird Journalistin und Dokumentarfilmerin und betreibt ihre ganz eigenen Recherchen zu dem Mann, Geheimagent der Pinochet-Diktatur, der zugleich als Monster und Aufklärer erscheint, der das Böse ebenso verkörpert wie den Mut der öffentlichen Reue, die ohne die juristische Unterstützung, die er erhielt, damals einem Todesurteil gleichgekommen wäre.

Um die Distanz des aufklärerischen Verstandes zu bewahren und zugleich ohne den verurteilenden Gestus des scheinbar Außenstehenden zu erforschen, wie Menschen sich in Folterer verwandeln können, und auch, um sich der ebenfalls unvorstellbaren und doch so breiten Dimension derjenigen anzunähern, die mit dem Verschwinden von Menschen aus ihrer Familie, ihrem Umkreis konfrontiert wurden, schafft Nona Fernández eine ganz eigene Textsorte, die zwischen faktenbasiertem dokumentarisch-investigativem Stil und subjektiver autobiographischer Haltung und Nähe schaffender Einbettung der Fakten variiert. Das Neben- und teilweise Ineinander vom Alltag der Fernsehserien und Schulbesuche und dem Ausnahmezustand der Entführungen und gewalttätigen Ausschreitungen, die für diese Zeit der Diktatur charakteristisch waren, führt sie uns auf diese Weise eindringlich vor Augen.

Immer wieder gesteht die Ich-Erzählerin im Verlauf des Textes, dass sie sich selbst wie eine Spionin fühlt, die ungesehen in privateste Szenen hineinschlüpft, etwa wenn sie sich ein letztes alltägliches familiäres Zusammensein ausmalt, ehe eines der Familienmitglieder für immer im Dunkel der Folterkammern verschwindet, oder wenn sie in präziser Genauigkeit von der schweißtreibenden Angst des sich auf der Flucht über die Landesgrenze befindlichen ehemaligen Folterers erzählt. Dabei bleibt sie jedoch jederzeit eine Schriftstellerin; sie schöpft mit ihrem Text das Potential der Literatur aus, die es möglich macht, sich in anderen Figuren zu spiegeln, sich in fremde Gefühle und Gedanken einzufühlen. So kann sie in das Innerste des Mannes vordringen, der gefoltert hat, sich literarisch in den Grauzonen, dem Dämmerlicht bewegen, in der „Twilight-Zone“, wie auch eine Fernsehserie hieß, die die Erzählerin sich in ihrer Kindheit gerne ansah und die in jeder Folge mit den Grenzen der Realität spielte. Wenn sie sich in die Psyche des ehemaligen Folterers einfühlt, in seine Gewissensqualen, in seine Alpträume, unterbricht Nona Fernández ihren Prosatext für kurze, aber nachhallende lyrische Passagen, eine gute Form, um sich eine ja letztlich unterstellte Gefühlswelt anzueignen und in literarische Wahrheit zu verwandeln. Das Monster wird, auch wenn viele Leerstellen bleiben, von der Autorin als ganzer Mensch mit einer Biographie erfasst, es wird aus seiner monströsen Dimension herausgelöst, ohne das Monströse der in diesem Regime verübten Taten zu verleugnen. Das Böse, so geht es aus Fernández‘ Text hervor, nimmt im Verhalten der Menschen perfideste Ausmaße an, psychisch wie physisch, und ist, wie Hannah Arendt das in Bezug auf die Verbrechen der Nazidiktatur analysierte, doch ganz häufig von einer erschreckenden Banalität — um in die Mechanismen der Gewalt hineinzugeraten, genügt es, ein Mensch zu sein, man muss nicht als Monster geboren werden.

Bibliographische Angaben
Nona Fernández: Twilight Zone, Culture Books 2024
Aus dem chilenischen Spanisch von Friederike von Criegern
ISBN: 9783959881937

Bildquelle
Nona Fernández, Twilight Zone
© 2024 CulturBooks Verlag GbR, Hamburg

bookmark_borderMichael Lentz: Heimwärts

Autofiktionale Verarbeitung von deutschen Familiengeschichten aus der Perspektive der Generation, die den Krieg nicht mehr selbst erlebt hat, aber seine erdrückenden oder beengenden Folgen über die Eltern oder Großeltern noch zu spüren bekommt, scheint momentan wieder ein Trend auf dem Buchmarkt zu sein. Diese Texte, die sich, meist schmerzhaft, mal mit der ostdeutschen, mal mit der bundesdeutschen Gesellschaft, mit weiterwirkenden patriarchalen Machtstrukturen, mit versteckten Traumata, mit fragwürdigen Erziehungsmethoden, auseinandersetzen, sind stilistisch sehr unterschiedlich: die Spannbreite reicht von akribisch recherchierten Büchern mit vorwiegend dokumentarischem Charakter bis hin zu stark fiktionalisierten Romanen, in denen sich das erzählende Ich deutlich vom Autor abgrenzen lässt. Michael Lentz geht in Heimwärts noch einen anderen Weg, der deutlich selbstreferentielle, bisweilen poetologische Züge aufweist, das Erinnern und ihre Versprachlichung in vielen mäandernden Bildern selbst zum zentralen Gegenstand des Textes macht. Diese zugleich radikal subjektive und stark reflektierende, literarische Herangehensweise an die eigene Familiengeschichte ist einerseits bemerkenswert, andererseits führt die Gleichzeitigkeit von Innerlichkeit und poetologisch-philosophischem Anspruch in diesem Fall zu einer wohl auch bewusst herbeigeführten stilistischen Heterogenität, die intersubjektiv schwer greifbar ist, es also dem Leser nicht gerade einfach macht, der sich immer wieder entziehenden, richtungslos dahinfließenden Erzählung zu folgen, die auf einen dramaturgischen Spannungsbogen verzichtet und einen mitunter ein wenig die Orientierung verlieren lässt.

Gleichwohl ist der Text nicht ohne Struktur, die man vielleicht als diejenige des Schachtelteufels bezeichnen könnte. So wie der Erzähler schon als Kind von den Schachteln und Truhen und Regalen mit Einmachgläsern fasziniert ist, deren Inneres er im Haus der Eltern meist heimlich untersucht, erhebt er die Verschachtelung zum Prinzip seines Textes. Es ist ein Ineinander von mehreren Perspektiven, der kindlichen und der erwachsenen des Erzähler-Ichs, in die er, fast unmerklich, auch noch das Ich seines eigenen Kindes hineinschreibt; es ist auch ein Ineinander von Vorstellung und Wirklichkeit, von Halluzination und Traum, die in der Erinnerung oft kaum voneinander zu unterscheiden sind und dem Leser einen auch oft bedrückenden Einblick in die Psyche des kindlichen Erzähler-Ichs geben, die im sich erinnernden, schreibend nach Ordnung suchenden Erwachsenen weiterhin ihr „Unwesen“ treibt und der er mit den Mitteln der Sprache, der Literatur entgegenzugehen versucht — sowie in seiner, so scheint es immer wieder durch, als große Verantwortung empfundenen Rolle als Vater, als der er so ziemlich alles anders machen will als sein eigener Vater. Dass das Aufwachsen in den 60er und 70er Jahren in seiner Familie, bei seiner depressiven Mutter und seinem sich noch unmissverständlich als Patriarch verstehenden Vater von ihm zugleich als beklemmende Enge und fehlende emotionale Nähe erlebt wurde, davon sprechen die Erinnerungsbilder, die der Erzähler in vielen Variationen heraufbeschwört, eindrücklich. „Die jammernde Mutter. Der strafende Vater. Das nicht ausweichen könnende Kind.“, so heißt es im Text einmal. Der Mangel an Geborgenheit entspricht einem wiederkehrenden Missverstehen in der Beziehung zwischen Eltern und Kind, und darüber hinaus in der Beziehung des Kindes mit der Welt, die sich — auch noch dem sich erinnernden Erzähler — als große Unordnung präsentiert, in der sich innen und außen nur selten miteinander in Einklang bringen lassen. Wenn die Zeit als „zunehmende Unordnung“ erlebt wird, leitet der Erzähler, schon als Kind, daraus ein Verständnis der Gegenwart ab, in der es seine Aufgabe ist, Ordnung herzustellen. Daher rührt die Bedeutung, ja die große Faszination, die Worte und Wörter, seit seiner sprachlichen Initiation des als ambivalent erlebten Lesenlernens, für den Erzähler haben. Während er in der mit der Sprache verbundenen Imaginations- und Assoziationskraft, ihrer Affinität zum Experiment, zur Gestaltung und ja, zur Anarchie, eine Form von Freiheit erfährt, die ihn aus der Enge des Elternhauses heraushebt, werden um ihn herum die Worte auch anders benutzt, als in sprachliche Klischees gehüllte Glaubenssätze und Machtinstrumente.

Indem der Erzähler kreativ mit der Sprache als Material umgeht, führt er das, was er als Kind, noch gefangen im magischen Denken, als immer auch von Furcht begleitetes emanzipatorisches Projekt begonnen hat, schreibend fort: eine ganz auf der Ebene der Sprache praktizierte Selbstsuche, eine Annäherung an die Wirklichkeit, die nicht mehr ausschließlich über eine Ordnung der Gegenwart erschließbar wird, sondern gleichfalls eine Annäherung an die Vergangenheit zur Bedingung hat. Diese Annäherung, als welche der Erzähler, und sicher auch der Autor Michael Lentz, die Erinnerung versteht, ist ein letztlich unabschließbarer, bruchstückhaft bleibender Prozess, der für ihn nur über die Sinnlichkeit der Gegenstände — als welche auch die Worte erscheinen — vorangetrieben werden kann. Der Erzähler hangelt sich an der Sprache entlang, an Ausdrücken, die er in Metaphern verwandelt und die ihm zu Erkenntnis- oder vielleicht eher Annäherungsinstrumenten werden, um die als so flüchtig wie manipulierbar wahrgenommene Erinnerung irgendwie greifen zu können. Der Text, der so sehr um Sprache kreist, übt auf einer weiteren Ebene fast permanent Sprachkritik als Erkenntniskritik, und er legt ein Misstrauen gegenüber der Erinnerung an den Tag, das nur scheinbar im Widerspruch dazu steht, dass das ganze Buch als mäandernder Erinnerungsfluss konstruiert ist. Vielmehr tritt auf diese Weise das Kippbare als das Eigentümliche der Erinnerung hervor, die sich vielleicht besser über die Sinne und Gefühle erfassen lässt als über das rationale Bewusstsein. So sind auch die Worte, gleich den Gegenständen aus der Kindheit, die wie der bunt zusammengewürfelte Inhalt einer alten Spielzeugtruhe nacheinander zum Inhalt der einzelnen Kapitel werden, mit ambivalenten Gefühlen, mit Begehren wie mit Angst, verknüpft; auch die zunehmend bedrohlich wirkende Zerstörungswut des Kindes führt den schmalen Pfad vor, auf dem der Erzähler in seiner fragil erlebten Erinnerung wandelt. Das Anarchische hat eine konstruktive und ebenso eine destruktive Seite, es schafft Freiräume und vernichtet; genauso hat die Wut eine Kehrseite, verwandelt sich in manchen Momenten in ein Empfinden von Angst und Verlorenheit.

Durch eine Art mikroskopisches Erzählen, einem Erzählen mit vielen Details und Verästelungen, wird der begrenzte Raum des Kindes, die Bedrückung und Enge, die es verspürt, sprachlich vermittelt; die Beschreibungen sind teilweise minutiös, wie mit der Lupe werden hier einzelne kleinste Szenen und Stillleben aus dem Alltag einer Familie in den 1960er Jahren vergrößert und auf fast ein bisschen unheimliche Weise verlangsamt. Diesem sezierenden Schauen wohnt immer etwas Heimliches, etwas Verbotenes inne, ein Gefühl, das den Jungen von damals im Haus seiner Eltern niemals loslassen mag. Gleichzeitig ist sein Erkundungsdrang übermächtig, akribisch wird der Inhalt einer alten Truhe mit Erinnerungsstücken der Mutter ebenso auseinandergenommen wie ein Regal mit Quittengelee im Keller oder ein Insektengefängnis; und immer wird von da aus sprachlich eine Welt aufgemacht, eine Welt der Erinnerung, der Gefühle, der Beobachtungen und der minimalen Grenzüberschreitungen. Jede dieser mikroskopischen Untersuchungen, für die der Erzähler intensiv das Stilmittel der Metapher einsetzt, zeigt, wie nahe Konstruktion und Destruktion beieinander liegen, wie sie sich in der Psyche des Kindes vermischen, das sich — gewissermaßen noch im exzessiven Lernprozess der symbolischen Formen — aus den Lexika der Erwachsenen komplizierte Wörter „stiehlt“ und das seine eigenen Rachepüppchen herstellt, um die Spannungen in der Familie zu kanalisieren und zu transformieren. Mit der Materialität der untersuchten Gegenstände, mit der Körperlichkeit seiner Metaphern führt Michael Lentz einem die schmerzhafte Körperlichkeit der Einsamkeit vor Augen, mit der sein Erzähler einen Umgang sucht, offenbart er ohne pathetische Affirmationen, einfach mit dem Mittel der Sprache, ein tief verletztes, ein angegriffenes Ich. Ein Ich, das zwischen Enge und Verlorenheit, zwischen Last und Verflüchtigung, zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit hin und herpendelt, das einerseits das Gewicht des Vererbten, des transgenerationell weitergegebenen Traumatischen, der überholten Erziehungsstile wie der alten Gegenstände als erdrückende Last verspürt, und andererseits das Verblassen der noch nicht ausreichend verstandenen oder verarbeiteten Vergangenheit wie der Gegenwart, das Unzuverlässige einer sich kontinuierlich entziehenden Erinnerung. Michael Lentz verwandelt in seinem jedoch nicht leicht zugänglichen Buch diese so subjektive wie generationelle Erfahrung in Literatur und schreibt ein mikroskopisches Kapitel der bundesdeutschen Geschichte, indem er anstelle von historischen Fakten die tieferen Schichten der Psyche erforscht und einen Einblick gibt in das Unterbewusstsein einer Generation.

Bibliographische Angaben
Michael Lentz: Heimwärts, S. Fischer Verlag 2024
ISBN: 9783103975185

Bildquelle
Michael Lentz, Heimwärts
© 2024 S. FISCHER Verlag GmbH, Frankfurt am Main

bookmark_borderJean-Philippe Toussaint: L’Échiquier

Wer von der Literatur lebt — und das ist nicht ökonomisch gemeint –, für den ist das Schreiben als Projekt niemals abgeschlossen, am Text des Lebens wird unermüdlich weitergewoben. Neigt sich die Arbeit an einem Buch dem Ende entgegen, hat die Zeit des neuen Textentwurfs schon begonnen, die immer wieder auch eine Zeit der neuen Orientierung ist. In dieser Nervosität ebenso wie Euphorie hervorrufenden Phase ist L’Échiquier, das neue Buch des belgischen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint, entstanden: Während er die Druckfahnen seines letzten Buches Les Émotions korrigiert, schwelgt er, schreibend, denkend, entwerfend, bereits darin, mit gleich drei schriftstellerischen Vorhaben seine literarische Verteidigung gegen die unvermeidlichen Verletzungen des Daseins fortzuführen. Er will, erstens, Stefan Zweigs Schachnovelle ins Französische übersetzen, zweitens, einen Essay über das Übersetzen verfassen und, drittens, parallel dazu eine Art Bordtagebuch, eben den vorliegenden Text, L’Échiquier (dt. „das Schachbrett“), in Angriff nehmen, einer Reflexion zugleich über das Schreiben und das Übersetzen.

Zwei dieser Projekte, die Übersetzung von Stefan Zweig und das „journal de bord“, sind 2023 im Verlag Les Éditions de Minuit erschienen. Sie sind zu einem gewissen Teil auch von den besonderen Umständen der Coronapandemie getragen und beeinflusst, die Toussaint als beunruhigenden und zugleich merkwürdig beflügelnden, in jedem Fall nachhaltig erschütternden Einbruch der Wirklichkeit in das individuelle Dasein wahrnimmt. Während in dieser angespannten Situation öffentlich viel über die Zukunft und die notwendigen Veränderungen in ihr diskutiert wird, erfährt Toussaint die Krise vor allem als Rückkehr in die Vergangenheit, wirft diese ihn zurück in die Abgründe der Erinnerung. Doch auch wenn immer wieder Autobiographisches in seinen Text mit einfließt, ist dieses „Tagebuch“ in jeder Zeile Literatur und Reflexion. Das Persönliche motiviert das Erzählte, es drängt sich immer wieder auf und hinein in den Text, da Leben und Schreiben bei Toussaint eng miteinander verwoben sind. Doch das Ordnungsprinzip seines Buches besteht nicht darin, romanhaft ein Leben ab ovo zu erzählen, zu rekonstruieren. Die Ordnung oder Struktur des Textes ist vielmehr das titelgebende „Schachbrett“, auf dessen Feldern er wie die Figur des Pferdchens springt, in einer raumzeitlichen Logik, deren Zügel innerhalb des gegebenen Rahmens gelockert sind und mit denen in der schreibenden Hand er weniger den Spielregeln der Chronologie als gewissen Mustern und Assoziationen folgt, die ihn auf das Terrain der Erinnerung führen. Die Erinnerungen in L’Échiquier sind nicht ausufernd, aber sie werden mit den Instrumenten des Schriftstellers bearbeitet, durchdrungen, durchleuchtet, in ihrer Vielschichtigkeit und auch Inkonsistenz konstruiert und hinterfragt. Es sind vor allem blitzlichtartige Momente seiner Kindheit und Jugend, die der sich erinnernde Ich-Erzähler an die Oberfläche des Textes holt, Erinnerungsspuren, die ihn zurück ins Internat, zu vergangenen Freundschaften und nicht zuletzt zu seinem inzwischen verstorbenen Vater führen, der es zu Lebzeiten immer wieder bedauert hat, als einziger der Familie in keinem der Bücher seines Schriftstellersohnes aufzutauchen. Nun, nach seinem Tod, scheint der Moment gekommen, und L’Échiquier ist, so wird sich der Erzähler beim Schreiben immer deutlicher bewusst, im Grunde ein Buch darüber, wie er zum Schriftsteller geworden ist, und, eng damit verbunden, über seine Beziehung zum Vater, der selbst ein renommierter Journalist war und dessen uneingestandenen Wunsch, Schriftsteller zu werden, er als sein Sohn schließlich gewissermaßen substitutiv erfüllt hat.

Auffallend ist auch die Nähe zu Patrick Modiano in manchen Passagen, mit dem er das schriftstellerische Interesse für die so hartnäckige wie behutsame Erkundung der literarischen Dimension der Zeit teilt und für die Rolle, die die subjektive und in der Folge immer wieder mysteriöse Kategorie der Erinnerung darin spielt. Das Geheimnisvolle der Erinnerung, das von einem leisen Unbehagen, ja manchmal auch von Schmerz durchzogen ist, das Bruchstückhafte, Schemenhafte früherer Begegnungen, die im Nachhinein anders oder überhaupt gedeutet werden, all das findet man auch bei Jean-Philippe Toussaint, der etwa von einem älteren Internatsjungen erzählt, der sich mit einem Mysterium umgeben hat, sich in Andeutungen an einen Vater erging, der beim Geheimdienst sei, der nach den Weihnachtsferien ohne Erklärung nicht mehr in die Schule zurückgekehrt ist, und dessen Verschwinden noch immer ein von der Aura der Gefahr und des Todes umwehtes Rätsel darstellt.

So wie Stefan Zweig den Schriftsteller schon sein Leben lang beschäftigt, begleitet ihn auch das Schachspiel seit seiner Kindheit; er erinnert sich an Schachpartien mit seinem Vater, die dieser grundsätzlich gewann, daran, wie er beim Duell Karpov/Kasparov im Publikum saß, wie er in der Schachabteilung der Bibliothek im Centre Pompidou auf andere Gestalten traf, die von diesem Sport auf ähnliche Weise in den Bann gezogen wurden wie er. Auch sein erster, unveröffentlichter Roman hat den Titel Échecs (dt. „Schach“). Und doch ist das Schachspiel für den Schriftsteller Toussaint vor allem eine Gedankenfigur, die ihn durch seinen gedankenreichen Text trägt, der immer wieder in Reflexionen über die Literatur und das Schreiben mündet. Sie fließen aus der Feder eines Schriftstellers, der Kafka und Nabokov bewundert, der in einem Verlag publiziert wird, in dem auch Beckett, Robbe-Grillet und Sarraute verlegt wurden, der das Schreiben als Umgang mit dem Dasein in seiner Existentialität betrachtet, der in der Literatur Schutz vor der Wirklichkeit sucht und diese dabei doch nicht ausblendet, sondern sich intellektuell mit ihr auseinanderzusetzen versucht, wie Odysseus, der den Sirenen zu lauschen vermag, ohne sich von ihrem Gesang töten zu lassen. So hat L’Échiquier eine philosophische Grundierung, die neben einer unbestreitbaren Melancholie auch den Humor nicht ausschließt. Was den Text so sympathisch und lesenswert macht, ist nämlich die immer wieder aufblitzende Selbstironie des sich erinnernden, schreibenden, alternden, aufrichtigen Schachbretthüpfers der Literatur, der mit so treffenden wie komischen Zeilen Einblick in die Detailarbeit aus dem Alltag eines Übersetzers gibt und das augenzwinkernde Porträt eines um Aufrichtigkeit bemühten und doch immer wieder auf Stolpersteine stoßenden existentiellen Sprachsuchers entwirft.

Bibliographische Angaben
Jean-Philippe Toussaint: L’Échiquier, Editions de Minuit 2023
ISBN: 9782707348852

Deutsche Ausgabe:
Jean-Philippe Toussaint: Das Schachbrett, Frankfurter Verlagsanstalt 2024
Übersetzt von Joachim Unseld
ISBN: 9783627003180

Bildquelle
Jean-Philippe Toussaint, L’Échiquier
© 2024 Les Editions de Minuit, Paris

bookmark_borderMatthias Jügler: Die Verlassenen

Während ich dem Hörbuch zu Matthias Jüglers Roman Die Verlassenen gelauscht habe, fühlte ich mich mehr und mehr an den Kinofilm Das Leben der Anderen in der Regie von Florian Henckel von Donnersmarck erinnert, ähnlich eindringlich, ähnlich schockierend ist die Aufarbeitung eines ähnlich düsteren Kapitels der Geschichte der DDR mit der dramaturgischen und ästhetischen Überzeugungskraft der Fiktion.

Gesprochen wird das Hörbuch von Florian Lukas, dessen ganz leichter Akzent zur ostdeutschen Herkunft des Erzählers passt und der vor allem den Ton der Geschichte, die gefasste, zurückhaltende Emotionalität, sehr gut trifft. Der Erzähler, aus dessen teils kindlicher, teils schon erwachsener Perspektive die Ereignisse durchgehend geschildert werden, nennt sich Johannes Wagner und ist, wie der Autor selbst, Anfang der 1980er Jahre in der DDR geboren. Er erzählt rückblickend, aber sehr präsentisch von der Vergangenheit seiner Familie, die von mehrfachen, dem Jungen von damals unverständlichen Verlusten geprägt ist. In der Rückschau ruft sich der Erzähler verschiedene Szenen aus seiner Kindheit und seiner Teenagerzeit ins Gedächtnis und schlüpft dafür wieder in die Haut des verunsicherten kleinen Jungen, der eher an sich selbst als an den anderen zweifelt. Später wird sich auch der Student inmitten seiner Kommilitonen nie so ganz wohl, so ganz am rechten Platz fühlen, noch später der junge Vater in seinem Eheleben scheitern.

Johannes verliert früh seine Mutter, angeblich ein tragischer Unfall, das Aufwachsen bei seinem nun alleinerziehenden Vater, dessen Traurigkeit er spürt, ohne sie zu verstehen, ist für den Heranwachsenden nicht einfach. Und dann verschwindet auch sein Vater eines Tages, in der Mitte der 1990er Jahre, ganz plötzlich; von einer Geschäftsreise kehrt er nie zurück. Der Junge bleibt von da an bei seiner Oma, bis auch diese stirbt und den jungen Erwachsenen mit einer unaufgearbeiteten Geschichte alleine zurücklässt.

Verlassen, wie es der Titel ankündigt, ist in dieser Geschichte, die, um es nebenbei zu erwähnen, auf der tatsächlichen Lebensgeschichte des Autors beruht, zunächst der kleine Johannes, der seine Verlorenheit und Hilflosigkeit in Tapferkeit zu verwandeln sucht, der immer wieder Hoffnung schöpft, aber sich nie richtig auf andere einzulassen, sich zu binden wagt. Verlassen ist auch sein Vater, wie Johannes viel später klar wird; in einem ihm hinterlassenen Umzugskarton der Eltern findet der bereits erwachsene Johannes einen seltsamen Brief aus Norwegen. Ahnend, dass er hier auf eine bedeutsame Spur gestoßen ist, bricht Johannes in dieses ferne Land im Norden auf. Tatsächlich deckt er dort einen Teil der Vergangenheit seiner Familie und ihres Bekanntenkreises auf, die auf traurige, ja erschütternde Weise kurz vor und nach der Wende noch von der DDR-Geschichte eingeholt wurden.

Ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten, sei hier erwähnt, dass es in Jüglers mitreißendem und mitnehmendem Buch um Freundschaft und Verrat geht, aber auch um Politik und Privatheit, um eine fiktionalisierte, aber von der Realität inspirierte Stasi-Operation, die einen vermeintlich staatsgefährdenden Menschen vernichten sollte und seine Familie über mehrere Generationen ins Unglück stürzte. Es geht um die Überforderung der Erwachsenen, um das Schweigen auch gegenüber den Kindern, um Hoffnung, Trauer, Erinnerung, Loyalität und Vertrauen, und nicht zuletzt darum, wie die politischen und menschlichen Verwerfungen in einem Unrechtsregime auch die Generation der danach Geborenen noch aus der Bahn zu werfen vermag. All dies bringt Matthias Jügler in einem eindringlichen und zugleich unaufgeregten Text auf weniger als 200 Seiten bzw. in weniger als vier gelesenen Hörbuchstunden zur Sprache. Berührend, aufrüttelnd und absolut hörenswert!

Bibliographische Angaben
Matthias Jügler: Die Verlassenen, Penguin 2021
ISBN: 9783328601616

Hörbuch: MDR Media GmbH und BUCHFUNK 2021
Gelesen von Florian Lukas
ISBN: 9783868475968

Bildquelle
Matthias Jügler, Die Verlassenen
© 2021 Penguin Hardcover Verlag, München

bookmark_borderAnja Jonuleit: Das letzte Bild

1970 wird eine Frau im norwegischen Isdal unter merkwürdigen Umständen tot aufgefunden, vieles deutet darauf hin, dass sie ermordet wurde, doch der Fall wird nie geklärt, geschweige denn die Identität der Frau gelüftet. Spekuliert wurde viel: War sie eine sowjetische Agentin oder bewegte sie sich als bindungslose Prostituierte am Rande der Gesellschaft? Erst vor ein paar Jahren haben neuere technische Untersuchungen ergeben, dass die noch recht junge Frau wohl aus dem Raum Nürnberg stammte und einige Zeit in Frankreich gelebt haben musste. Doch was sie nach Norwegen und in den Tod geführt hat, bleibt weiterhin ein großes Rätsel.

In diese mysteriöse und spekulative Leerstelle hinein stößt die Autorin mit ihrem neuen Roman, in dem sie auf der Grundlage einer intensiven Recherche zu dem realen Fall eine emotional bewegende und intelligent gestaltete Geschichte entspinnt, wie sie sich damals ereignet haben könnte. Dabei schlägt sie einen erzählerisch überzeugenden Bogen von Deutschland, Belgien und Frankreich über Italien bis nach Norwegen sowie von der (Nach-)Kriegszeit bis heute. Und so wie die Autorin mit detektivischem Spürsinn den Fall der Isdalfrau rekonstruiert und neu konstruiert, arbeitet sich auch ihre Hauptfigur aus der Gegenwart, die Biographin Eva, die sich in Jonuleits Fiktion als Nichte der Isdalfrau herausstellt, mit Staunen, Schmerz und Hartnäckigkeit in die Vergangenheit ihrer eigenen Familie hinein, von der sie so einiges nichts ahnte. Und als Leser wird man auch mit so mancher Wunde der deutschen und europäischen Geschichte konfrontiert, es geht um Kollaboration, um Vereine wie den Lebensborn, der sich während des Krieges die Not der Mütter zunutze machte und „arischen“ Kriterien entsprechende Kinder in nationalsozialistische Obhut nahm, und es geht auch um Verdrängung, um die Bedeutung, den Schmerz und auch um die Verfälschung von Erinnerung.

Auch wenn die Fiktion natürlich nicht wenig aus dem Melodram schöpft, mit getrennten Zwillingen, Waisenkindern und einem von Männern ausgenutzten jungen Mädchen, so ist sie doch von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd und stimmig erzählt und hält mit den beiden weiblichen Protagonistinnen von damals und heute auch zwei engagierte und findige Frauenfiguren bereit, deren Spuren durch Europa man fasziniert und mit Neugier folgen mag.

Bibliographische Angaben
Anja Jonuleit: Das letzte Bild, dtv (2021)
ISBN: 9783423282819

Bildquelle
Anja Jonuleit, Das letzte Bild
© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

bookmark_borderSteve Sem-Sandberg: Der Sturm

Der skandinavische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg setzt sich in seinen Romanen (z.B. Die Erwählten oder Die Elenden von Łódź, und ganz neu erschienen: W über das historische Vorbild von Büchners Woyzeck) gerne auf eine ganz besondere Art mit der Geschichte auseinander. Vergangenheits- und Erinnerungsarbeit strukturieren auch den 2019 auf Deutsch erschienenen Roman Der Sturm. Er setzt ein mit einer Rückkehr wider besseres Wissen, und dieses anfangs noch unklare Gefühl der Bedrohung bleibt bis zum Ende des stimmungsvollen Romans erhalten.

Es ist der Ich-Erzähler, Andreas Lehman, selbst, der dieses Gefühl immer weiter nährt. Trotzdem kann er nicht anders, als nach dem Tod seines Ziehvaters Johannes auf die Insel zurückzukehren, auf der er aufgewachsen ist. Während er im sogenannten Gelben Haus, in dem er mit seiner Schwester Minna von Johannes aufgenommen worden war, als ihre Eltern verschwanden, den Nachlass sichtet, hat er den Eindruck, dabei von so manch zwielichtigen Inselgeschöpfen feindselig beäugt zu werden. Zugleich kommen, je länger er sich auf der Insel aufhält, immer drängendere, wenngleich zunächst recht unzusammenhängende Erinnerungen hoch. Sem-Sandberg gestaltet sie sinnlich und verstörend, szenisch dicht und doch bruchstückhaft, wie kleine klärende Risse in einem Nebelfeld, die wieder neue Rätsel aufwerfen.

Da tritt uns seine rebellische große Schwester ganz lebendig und als schwer fassbares, widersprüchliches Wesen entgegen, das den kleinen, die Schwester fast devot-voyeuristisch bewundernden Bruder in grenzwertige, demütigende Streiche hineinzog. Eher schemenhaft nehmen die amerikanischen Eltern der beiden Kontur an, die angeblich bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, und deren in die Zeit des Krieges zurückreichende Verbindung zur Insel der Ich-Erzähler erst nach und nach auf die Spur kommt. Die dominierende Figur wird in Andreas Erinnerung aber der alte Kaufmann, der einst fast die ganze Insel besaß und idealistische Pläne für sie ersann, nach dem Krieg jedoch den Hass der Bewohner auf sich zog. Er erinnert nicht zufällig an Shakespeares Inselkönig Prospero aus dem Stück, das denselben Titel trägt wie Sem-Sandbergs Roman. Natur und Metapher, Natur und Mythos sind in diesem Text nämlich eng verwoben. So ereignet sich auch kein Sturm im meteorologischen Sinne während der Romanhandlung, Schneeschauer und dichte winterliche Nebelfelder, von den Bewohnern der Insel „Bleiche“ genannt, jedoch umso häufiger. Ja letztere sind gewissermaßen Grundstimmung und Kompositionsprinzip dieses so eindringlichen und suggestiven Romans, der einen auf schmerzhafte Weise in Bann schlägt und vor allem mit seiner Sprachpoesie verzaubert wie Prospero seine gestrandeten Übeltäter.

Tatsächlich verrät gerade die Ambivalenz, die dieser Shakespeareschen Figur innewohnt, einiges über sein Alter ego Kaufmann im Roman, der sich vom Idealisten und philanthropischen Träumer zum Kollaborateur und schließlich zum Sündenbock für die Inselbewohner wandelt. Während Kaufmann vor dem Krieg auf der Insel eine erste Kolonie in Form eines sozialutopischen Falanstère wohl nach dem Vorbild Charles Fouriers begründete, in der er neue Anbaumethoden anwandte, verstieg er sich mit seinen landwirtschaftlichen und biologischen Feldforschungen während des Krieges womöglich bis hin zu Menschenexperimenten — so der Verdacht, der sich Andreas bei seinen Nachforschungen in der Vergangenheit immer mehr aufdrängt.

Doch der Autor lässt uns absichtlich im Ungewissen darüber, was tatsächlich passiert ist. Wie in Shakespeares Stück überlagern sich Traum und Wirklichkeit und verweisen sehr oft auf die metaphorische Struktur des Unterbewusstseins. Das weiße Pferd, das Andreas wiederholt beim Träumen beobachtet, scheint mir hier ein zentrales Motiv zu sein, wie ein Hinweis auf die poetische Anlage des Romans. Harmlos wird das Geschehen dadurch nicht, im Gegenteil kippen Sehnsucht, Schönheit und Traumhaftes immer wieder um in eine fast mythische Gewalt, als würde ein Fluch auf der Insel liegen. Gut und böse gehen ineinander über, sind fluide Kategorien, und das Monströse lauert eben nicht nur im optisch Furchteinflößenden, auch wenn dieses wunderbar zum Sündenbock taugt. Auch dem Erzähler selbst ist nicht recht zu trauen: Was entspringt seiner Fantasie, seinem Schmerz, seiner Kränkung, einer Verletzung, was ist echte Erinnerung oder rationale Erkenntnis, was Unterstellung, Hoffnung, Fiktion oder gar Wahn?

Gar nicht traumhaft, sondern schmerzhaft real ist jedoch der Griff der Vergangenheit nach der Gegenwart, der nicht durch einen mythischen Fluch, sondern durch die Ängste und Aggressionen der Menschen ausgelöst wird. Warum setzt sich die Gewalt, die während der Besatzungszeit verübt wurde, über die Generationen hinweg fort, warum hören die Anfeindungen nicht auf? In Sem-Sandbergs Text deutet sich eine Erklärung an:

[Ich begreife] mit einem Mal, dass der Niedergang nicht so sehr eine Folge der auf der Insel herrschenden Inzucht war, […] sondern dass einfach alle in sich selbst feststeckten und es der Stummheit und dem Schweigen am Ende gelungen war, jeden nur möglichen Ausgang zu versperren. Oder war es etwa so, dass man schwieg, weil man einfach nicht zu reden vermochte, denn wenn man das, was man wusste, in Worte fasste, würde man auch den eigenen passiven Anteil am Geschehen eingestehen müssen und somit auch die eigene Schuld daran, dass alles immer so weitergehen konnte, ohne dass jemand etwas sagte oder auch nur die geringste Anstrengung unternahm, um die Sache ans Licht zu bringen, das aber wäre einfach zu viel gewesen. Dann schon besser, dass Kaufmann für alles die Verantwortung bekam, schließlich war er ja doch nicht ganz richtig im Kopf.

Sem-Sandberg, Der Sturm, S. 192

Sem-Sandberg entlässt seine Figuren anders als Shakespeare in seinem Stück nicht durch einen Zaubertrick aus der Verantwortung ihres Schweigens, ihrer Schuld, ihrer Gewalt. Und doch bricht beim Lesen immer wieder etwas Leuchtendes herein, kann man sich, wie beim Zusammensetzen eines alten Puzzles, von dem einige Teile für immer verloren gegangen und andere durch strahlendere neue ersetzt worden sind, dem Sog der sich immer wieder entziehenden, aber intensiven, magischen Geschichte kaum entziehen. So gewährt die Lektüre dem mutigen Leser einen schockierenden und betörenden Einblick in die schillernde Komplexität des menschlichen Seins und Handelns.

Bibliographische Angaben
Steve Sem-Sandberg: Der Sturm, Klett-Cotta (2019)
Aus dem Schwedischen übersetzt von Gisela Kosubek
ISBN: 9783608981209

Bildquelle
Steve Sem-Sandberg, Der Sturm
© 2019 Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderJudith Hermann: Daheim

„Daheim“, dieses mit Sehnsucht aufgeladene, wohlvertraute kleine Wort, ist ein guter Titel für dieses Buch, das eher die stille Schönheit einer Erzählung hat als die epische Wucht der Geschichte eines Lebens, wie man sie mit dem Roman verbindet.

Man erfährt so vieles nicht aus dem Leben der Protagonistin und der Gestalten, denen sie im Lauf der Geschichte begegnet, und dennoch gelingt es der Autorin, sie uns auf einer anderen Ebene ganz nahe zu bringen, ihre unausgesprochenen Gefühle, Enttäuschungen, Sehnsüchte ahnen zu lassen und die Intensität der Momente zu spüren, aus denen sich die Handlung im Grunde zusammensetzt.

Es ist nur ein kleiner Ausschnitt, der uns aus dem Leben der Ich-Erzählerin gezeigt wird, einer Frau Ende 40, die nach dem Auszug ihrer Tochter die Stadt verlässt und allein in ein abgelegenes Haus an der Nordsee zieht, mit ihrem etwas skurrilen, sammelwütigen (Ex-)Mann aber immer noch in einem engen und zärtlichen Briefwechsel steht, die sich selbst als wurzellos betrachtet, aber insgeheim mit Ängsten und Gefühlen zu kämpfen hat, die wohl bis in ihre Kindheit zurückreichen, die ungebunden und offen in ein neues Leben aufbrechen möchte, aber einen geheimen Wunsch nach menschlicher Nähe und Bindung nicht unterdrücken kann. Heimat, so vielleicht der zentrale Gedanke dieser Erzählung, ist ein widersprüchliches Gefühl, ein merkwürdiges und doch essenzielles Konstrukt, um das sich alle Figuren, die in der Geschichte vorkommen, auf irgendeine Weise bemühen.

Insofern ist der auf den ersten Blick überraschende, ja fast befremdliche Anfang der Geschichte, der wie eine kleine, fast eigenständige Novelle anmutet, letztlich doch enger mit der Erzählgegenwart verbunden, als es den Anschein hat. Die Ich-Erzählerin erinnert sich nämlich zu Beginn an eine seltsame, ein wenig unheimliche Begebenheit, die ihr als junger Frau widerfahren ist, als sie sich von einem greisenhaften Zauberer zur Probe in einer Kiste zersägen ließ und um ein Haar ihr wenig aufregendes, monotones Arbeiterinnenleben hinter sich gelassen hätte. Jahrzehnte später wagt sie tatsächlich einen Aufbruch, und braucht doch viel Zeit und die Begegnung mit anderen, um vielleicht nicht den fast naiven Mut ihrer Jugend wiederzuerlangen, aber sich doch allmählich, vorsichtig, behutsam einer neue Form von Vertrauen und Widerstandskraft anzunähern. Mit der Zauberkiste wird außerdem ein Symbol eingeführt, das als Motiv des Eingesperrtseins in der Handlung mehrfach wiederkehrt und der Erzählung eine weitere Bedeutungsebene verleiht, in der sich ganz unterschiedliche Menschenschicksale überindividuell miteinander verknüpfen.

So ist die Geschichte psychologisch fein, aber eben gerade nicht psychologisierend erzählt, man muss schon auf die literarischen Zwischentöne lauschen, wenn man in das Leben der Figuren eintauchen will. Die Dialoge und auch die Beschreibungen der Landschaft wirken stets unaufgeregt, fast beiläufig, nie wird hier etwas aufgehübscht oder verklärt, und doch dringt hinter der lakonischen Erzähloberfläche ein poetisches Funkeln durch. Ganz unscheinbar kommen manche Sätze daher, während sie sich ganz nah am Wesentlichen bewegen:

Weißt du, sagt Arild, manchmal laufen die Dinge schon so lange geradeaus, dass es keiner mitkriegt, wenn du deinen Lauf änderst.

Judith Hermann, Daheim

Wer aufmerksam liest und sich auf den besonderen, manchmal etwas schroffen Stil der Erzählung einlässt, wird dann vielleicht doch so manches mitkriegen, nicht zuletzt, welches Spannungspotential auch in den unscheinbarsten, inneren Veränderungen liegt…

Bibliographische Angaben
Judith Hermann: Daheim, S. Fischer Verlag (2021)
ISBN: 9783103970357

Bildquelle
Judith Hermann, Daheim
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 

bookmark_borderAstrid Seeberger: Goodbye, Bukarest

Astrid Seebergers (auto)biographisch motivierter Roman ist, wie schon der Vorgänger, Nächstes Jahr in Berlin, eine historische Spurensuche in literarisierter Form, mit der sich die Autorin den blinden Flecken in der Vergangenheit ihrer Familie anzunähern versucht. Diesmal geht es um Bruno, den Bruder ihrer Mutter, der angeblich in Stalingrad gefallen ist, was, wie sie später erfährt, jedoch nicht der Wahrheit entspricht. Doch außer Brunos Namen besitzt sie kaum Anhaltspunkte, lediglich eine Fotografie von Chopin, dem er sehr ähnlich gesehen haben soll, und wenige unbekannte Namen im Adressbuch ihrer verstorbenen Mutter. So trifft sich die Erzählerin, in deren literarische Haut die Autorin schlüpft, nacheinander mit Menschen, die eine Zeitlang Brunos Weggefährten waren, und nach und nach nimmt seine Geschichte, vermittelt über die Erinnerungen ihrer Gesprächspartner, Gestalt an. Auch wenn sie erst einmal eher schemenhaft bleibt, im Vergleich zu den viel plastischer und eindrücklicher wirkenden Lebensgeschichten der Weggefährten, denen die Autorin großen Raum gewährt. Doch gerade dadurch bekommt der Roman eine über die rein biographische Aufarbeitung einer Familiengeschichte hinausgehende historisch-gesellschaftliche Dimension und eine fiktionale Verdichtung. Er wird zum Epochenbild, in dem sich verschiedene, von Krieg, Repression und Diktatur geprägte Schicksale spiegeln.

Den tiefsten Eindruck hat in mir die Schilderung der Gefangenschaft im Strafgefangenenlager in Sibirien hinterlassen, vielleicht das Herzstück des Romans, da hier die fast unmögliche Liebesgeschichte von Bruno und Dinu ihren Anfang nimmt. Erzählt wird diese Episode aus der Perspektive des ersten Gesprächspartners der Erzählerin, Dmitri Fjodorow alias Hannes Grünhoff, der, Sohn eines russischen Vaters und einer deutschen Mutter, nach dem Kriegstod des Vaters und der Deportation seiner Mutter in ein sowjetisches Lager, obwohl er fast noch ein Kind ist, seinerseits in ein Lager gebracht wird: in dasselbe, in dem auf verschiedenen Wegen auch der rumänische Komponist Dinu und der deutsche Pilot Bruno landen, mit denen er Freundschaft schließt. In zugleich rauen und poetischen Bildern wird in der Erinnerung von Dmitri/Hannes sowohl das harte, gefährliche Leben im Lager lebendig als auch die Verlorenheit des Jungen, der er damals war, und der trotz der von tiefem Vertrauen geprägten und für ihn in dieser Situation vielleicht lebensnotwendigen Verbundenheit mit den beiden Männern letztlich nur die Rolle des Dritten im Bunde einnimmt, was er damals eher ahnt als wirklich versteht. Mit der Zeit im Lager endet dann auch Hannes‘ Zeugenschaft, Bruno und Dinu gelangen auf Umwegen nach Bukarest zu Dinus Schwester, und eine neue Dreieckskonstellation beginnt, in einem Land, in dem sie sich, erst recht als homosexuelles Paar, bald kaum weniger unfrei fühlen als im sibirischen Arbeitslager.

Astrid Seeberger schreibt in einem nachdenklichen, poetisch angereicherten Stil, in kurzen Sätzen, die sich flüssig und leicht lesen, aber stellenweise etwas gefällig konstruiert sind, ein Eindruck, der sich auch bei so manchem Sprachbild aufdrängt, dessen poetische Kraft literarisch nicht jedesmal voll und ganz überzeugt. Eine Ursache mag wohl darin liegen, dass die Autorin ihren nachdenklich-melancholischen Stil, der anfangs ja besonders dazu dient, die Ich-Erzählerin zu charakterisieren — als Suchende, als sich für die Erinnerung vorsichtig Öffnende –, in ihrem multiperspektivischen Text durchgehend beibehält, anstatt für die eingeschobenen Geschichten der Weggefährten eine eigene, ihrem Charakter und ihrer Erzählsituation entsprechende Ausdrucksweise zu finden.

Dennoch berührt einen diese Geschichte auf eine sehr zarte, feinfühlige Art und Weise. Man spürt, dass der Roman aus einem großen Einfühlungsvermögen und einer aufrichtigen Anteilnahme am Leben der Figuren heraus geschaffen wurde, deren fein beobachtete Schicksale die Autorin behutsam und lebendig erzählt. Und so gelingt ihr auch die Transformation der eigenen Familiengeschichte in einen mit kleinen Einschränkungen auf jeden Fall lesenswerten Roman über den Einfluss der Geschichte auf die verschlungenen Lebenswege und -kämpfe der Menschen.

Bibliographische Angaben
Astrid Seeberger: Goodbye, Bukarest, Urachhaus (2020)
Aus dem Schwedischen übersetzt von Gisela Kosubek
ISBN: 9783825152307

Bildquelle
Astrid Seeberger, Goodbye, Bukarest
© 2020 Verlag Freies Geistesleben und Urachhaus GmbH, Stuttgart

bookmark_borderPatrick Modiano: Encre sympathique

Es ist der unvergleichliche Modiano-Stil, der einen sofort gefangennimmt, wenn man den neuen Roman des französischen Schriftstellers aufschlägt, des nicht nur in seinem Schreiben, sondern auch im Austausch mit der Öffentlichkeit so diskreten Nobelpreisträgers von 2014: ein Stil, der sich zumindest andeutungsweise mit den Adjektiven poetisch, detektivisch, mysteriös, onirisch, und ja, auch urban umreißen lässt, schließlich ist der Schauplatz auch dieses Mal wieder ein knapp skizziertes und dennoch atmosphärisch dichtes Paris mit seinen Cafés, seinen Straßen, seinen Büros. Ein Paris wie aus einer Bleistiftzeichnung, dessen Romantik gerade nicht aus einem sentimentalen In-Farbe-Tauchen, sondern aus dem Mysterium des bloß Angedeuteten, Erahnten entsteht.

Wie so oft bei Modiano, gerät man auch hier als Leser in den Sog einer intellektuellen detektivischen Spurensuche. Es geht um die Rekonstruktion einer Geschichte, die sich in der Erzählweise des Romans selbst widerspiegelt, in der verschiedene Zeit-Ebenen und Erinnerungsschichten ineinandergreifen. So scheint zunächst alles auf eine lange zurückliegende und eigentlich ganz unscheinbare Episode aus dem Leben des Ich-Erzählers zurückzugehen, als dieser ein eher unspektakuläres Praktikum in einer Privatdetektei absolvierte. Seine einzige und damals ergebnislos verlaufende Aufgabe bestand darin, nach der Spur einer verschwundenen jungen Frau zu suchen. Doch Jahre später, in der Erzählgegenwart, nimmt er sich die fast leere Akte und das Adressbüchlein der Verschwundenen erneut vor, und obwohl er die Bedeutung des Ganzen erst herunterzuspielen versucht, erfährt man nach und nach, dass er auch in der Zwischenzeit sporadisch weiterermittelte und ihn die ungeklärte Geschichte nie wirklich losgelassen hat.

Immer wieder deutet sich in Form einer ganz leisen Ahnung an, dass das Verschwinden der jungen Frau irgendwie auch mit seiner eigenen Vergangenheit in Verbindung steht. Es ist nur eine ganz lose Verknüpfung von Ereignissen und Vermutungen, in die sich der Ich-Erzähler hier vorwagt und die der leisen, suggestiven écriture Modianos entspricht, mit der er auf seine ganz eigene Art eine subtile, fast mystische Spannung erzeugt, die einen als Leser zugleich fasziniert und in Bann schlägt. Zusammen mit dem Ich-Erzähler gibt man sich der Suche nach einem Zusammenhang hin, will man die identitären Leerstellen mit Bedeutung füllen, das Rätsel aufdecken und eine kohärente Geschichte (re)konstruieren. Denn für den Ich-Erzähler, so merkt man bald, bedeutet die wiederaufgenommene Spurensuche weit mehr als bloße Detektivarbeit: Sie ist, zunächst unbewusst, vor allem auch die Suche nach sich selbst, nach seiner eigenen Geschichte, deren Brüche und Leerstellen er in eine gerade, erzählbare Form bringen möchte:

Dans le tracé assez rectiligne de ma vie, elle était une question demeurée sans réponse. Et si je continue d’écrire ce livre, c’est uniquement dans l’espoir, peut-être chimérique, de trouver une réponse.

In der ziemlich geradlinigen Spur meines Lebens war diese Frage ohne Antwort geblieben. Und wenn ich das Buch hier weiterschreibe, so einzig in der vielleicht utopischen Hoffnung, eine Antwort zu finden.

Modiano, Encre sympathique, S. 101 (Übersetzung aus dem Französischen von mir)

Doch indem Modiano bzw. sein schreibender Ich-Erzähler die Biographien von Suchendem und Gesuchter ineinanderfließen lässt, indem er ihre Vergangenheiten miteinander verschmilzt, entfernt er sich natürlich erst recht von einer wie auch immer gearteten objektiven Wahrheit. Als Leser merkt man schnell, dass die Erzählung äußerst subjektiv gefärbt ist und beginnt, sie mit einer gewissen Vorsicht zu bedenken. Auch wenn wir es nicht mit einem absichtlich unzuverlässigen Erzähler zu tun haben, der seine Leser willkürlich in die Irre führen will, so ist dieser Erzähler doch auf jeden Fall in dem Grade unzuverlässig, als es auch die subjektive Erinnerung selbst ist, die im Nachhinein Geschichten konstruiert, sie ausschmückt oder verändert. Im suchenden Schreiben des Ich-Erzählers offenbart sich so eine tiefe Sehnsucht nach der Konstruktion einer in sich stimmigen Identität, die in präzisen, aber eben erst aufzudeckenden Linien schon vorgezeichnet ist:

Il me semble que tout était déjà écrit à l’encre sympathique. Quelle est dans le dictionnaire sa signification? ‚Encre qui, incolore quand on l’emploie, noircit à l’action d’une substance déterminée.‘ Peut-être, au détour d’une page, apparaîtra peu à peu ce qui a été rédigé à l’encre invisible, et la raison pour laquelle je me pose ces questions, tout cela sera résolu avec la précision et la clarté des rapports de police. D’une écriture très nette et qui ressemble à la mienne, les explications seront données dans les moindres détails et les mystères éclaircis. Et, en définitive, cela me permettra peut-être de mieux me comprendre moi-même.

Es scheint mir, als stünde alles bereits mit unsichtbarer Tinte geschrieben. Wie umschreibt das Wörterbuch ihre Bedeutung? „Tinte, die beim Schreiben farblos ist und erst beim Auftragen einer bestimmten Substanz sichtbar wird.“ Vielleicht wird, wenn die eine oder andere Seite umgeblättert ist, nach und nach darauf erscheinen, was mit unsichtbarer Tinte verfasst worden ist, und der Grund, warum ich mir diese Fragen stelle, all das wird mit der Präzision und Klarheit eines Polizeiberichts offenliegen. Mit einer sehr deutlichen Schreibweise, die meiner eigenen ähnelt, werden die kleinsten Details erklärt und die Geheimnisse gelüftet werden. Und letzten Endes wird mir das vielleicht die Möglichkeit geben, mich selbst besser zu verstehen.

Modiano, Encre sympathique, S. 91 (Übersetzung aus dem Französischen von mir)

Ist der Ich-Erzähler mit dieser romantischen Spekulation der unsichtbaren oder geheimen Tinte, die man aus so manchem Detektivroman kennt, auf einer heißen Spur oder auf dem Irrweg? Auf jeden Fall wartet der Roman mit vielen Unsicherheitsstellen auf, die diese Wunschvorstellung erst einmal in Frage stellen. Hinzu kommt, dass es auch einen Perspektivwechsel im Laufe der Geschichte gibt, nach ca. 100 Seiten, also im letzten Viertel des Romans, taucht man über die Form der internen Fokalisierung tatsächlich in die Erinnerung der gesuchten Noëlle ein, wodurch sich zumindest für den Leser ganz neue Möglichkeiten der Rekonstruktion der Geschichte ergeben…

Wie immer bei Modiano gibt es auch in seinem neuen Roman kein krachendes Finale, keine pompöse Auflösung. Die Geschichte klingt vielmehr ganz leise und unaufgeregt aus, und doch staunt man, dass der Ich-Erzähler am Ende doch den so zarten und fragilen Erinnerungsfaden, der die beiden Leben verknüpft, aufzudecken vermag. Hier leuchtet die Poesie, ja Romantik des Alltags für einen flüchtigen Moment auf! Eine Poesie, die ebenso darin besteht, daran zu glauben, dass wir unserem Leben eine Bedeutung geben können, wie auch darin, dass diese Bedeutung eine subjektive Erzählung ist, deren Schönheit gerade nicht in ihrer Geradlinigkeit, sondern in ihrer Offenheit besteht:

J’ai peur qu’une fois que vous avez toutes les réponses votre vie se referme sur vous comme un piège, dans le bruit que font les clés des cellules des prisons. Ne serait-il pas préférable de laisser autour de soi des terrains vagues où l’on puisse s’échapper?

Ich habe Angst, dass euer Leben gerade dann, wenn ihr alle Antworten habt, wie eine Falle über euch zuschnappt, mit dem Geräusch, das die Schlüssel der Gefängniszellen machen. Wäre es dem nicht vorzuziehen, dass man um sich gewisse Freiflächen lässt, wohin man sich flüchten kann?

Modiano, Encre sympathique, S. 102 (Übersetzung aus dem Französischen von mir)

Patrick Modiano: Encre sympathique, Gallimard (2019)
ISBN: 9782072753800

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