bookmark_borderGertrud Leutenegger: Matutin

Die Matutin, die ihren Ursprung in den rituellen Nachtwachen der frühen Christen hat, wird in der katholischen Liturgie in den ganz frühen Morgenstunden, im Hinübergehen von der Nacht zum Tag, gebetet. Dieses Transitorische zwischen zwei Wirklichkeits- oder vielleicht eher Wahrnehmungszuständen charakterisiert auch ganz stark den 2008 erschienenen gleichnamigen Roman der Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger (1948-2025), die trotz einiger literarischer Auszeichnungen in der Öffentlichkeit wenig bekannt war.

Matutin ist ein stiller Roman, der ganz wunderbar von der Sprache und den sprachlich erzeugten Bildern getragen wird. Gertrud Leutenegger war auch Lyrikerin, das merkt man dem Text an, der einen auf eine Weise in Bann zieht, die man gar nicht recht begreift, und der einen Spannungsbogen schafft, der nicht von den wenigen und im Schwebezustand des Unvollendeten verbleibenden Handlungselementen abhängig ist, sondern durch eine Wiederholung, Variation und Verdichtung der Motive und Bilder entsteht. Dabei folgt der Text in einer lyrischen Prosabewegung zwei scheinbar entgegengesetzten literarischen Pfaden, denn die Bilder verleihen sowohl dem Schrecklichen der Existenz einen Ausdruck von unaufgeregter Eindringlichkeit als auch dem Alltäglichen einen nachschwingenden Zauber, der aber nichts Mystifizierendes hat.

Der ganze Roman ereignet sich in einem Raum des Dazwischen, evoziert einen Schwellen- und Schwebezustand, in dem Joseph Vogl in einem kürzlich erschienenen Essay (Meteor — Versuch über das Schwebende, C.H. Beck 2025) eine besondere Qualität des Literarischen, wie sie etwa bei Robert Musil oder Franz Kafka hervortritt, ausgemacht hat. In Leuteneggers Text ist der Turm, der auf einem Floß in der Bucht eines Sees gelegen ist, an dessen Ufern sich die Stadtkulisse mit ihren Hotels erhebt, das dinghafte Symbol für diesen Raum des Dazwischen; ein Bauwerk, das so vertraut wie unheimlich wirkt, so bedrohlich wie bedroht, scheinbar fest erbaut, und doch wandelbar. Zu Beginn des Romans wird die Erzählerin für eine vorübergehende, vergängliche, ihr vorher nicht bekannte Zeitspanne die Kustodin dieses Turmes; 30 Tage und Nächte werden es sein, die den 30 Kapiteln des Romans entsprechen. Für sie und für uns Leser ist der Eintritt in den Turm eine Rückkehr in die Innenwelt ihrer Kindheit, die sich mit der Vergangenheit des Turms zu überlagern beginnt. In Wirklichkeit nur ein Nachbau, eine Konstruktion aus Holz, dient er als eine Art Museum oder Dokumentationsstelle für das ehemalige Handwerk der Vogelfänger in der italienischen Schweiz.

Die Vogelmetaphorik überzieht in vielen Schattierungen den ganzen Roman, das Textgewebe erscheint als Vogelschwarm, der Vergangenheit und Gegenwart und auch die Figuren und Motive miteinander verbindet. Erinnerungen an eine verletzte Amsel, die sich ins Elternhaus geflüchtet hatte, und an den vogelliebenden Vater sind mit dem Motiv des Hütens und Versorgens verknüpft, während die im Turmmuseum dokumentarisch belegten Vorgehensweisen der Vogelfänger, die die Erzählerin und Turmwächterin den Besuchern nahebringen soll, von erschreckender Brutalität und Gewaltsamkeit sind: Vögel, die gejagt, gequält, getötet wurden, geblendete und malträtierte Lockvögel, Zugvögel, die sich in einem jenseits des Turms gepflanzten Baumkorridor verirren und verfangen sollten. Der Turm erscheint hier geradezu als Hort der Gewalt, als böse Täuschung eines sicheren Hafens.

In diesen hat sich auch die Erzählerin geflüchtet, wohl ahnend, dass es sich hier weniger um einen Schutzraum denn um einen Konfrontationsraum handelt, auch um einen Raum der Konzentration, im wörtlichen Sinne eines Sich-Zentrierens. So ist die Turmwächterstelle auch mit strengen Regeln verbunden, die einen religiösen, asketischen Charakter haben. Nach Einbruch der Dunkelheit ist im Turm Stillschweigen geboten, die Mahlzeiten sind frugal, jeden Tag wird die gleiche Polenta vor die Tür gestellt. Als tatsächlich ein Besucher im Turm Unterschlupf sucht, Victoria, eine junge Frau mit vermutlich südamerikanischem Akzent, die ihr gesamtes Hab und Gut in ein paar Plastiktüten mit sich trägt, werden diese Regeln immer wieder leicht gebrochen. Victoria möchte eigentlich nichts von den Vogelfängern hören, über die die Erzählerin ihre Gäste informieren soll, doch erzählt sie irgendwann ihrerseits von der blutigen Opferung eines Kondors in ihrer Heimat. Auch sie hat Dinge zu verarbeiten, auch ihre Geschichte ist die eines Exils, sie erscheint wie ein trotz seiner Stärke verletzlicher Zugvogel, der die Turmhüterin irritiert und fasziniert, und der ihr ans Herz zu wachsen beginnt.

Die Erinnerung, die bei der Erzählerin wie auch bei Victoria von der besonderen Atmosphäre des Turmes ausgelöst zu werden scheint, stellt sich als ein flüchtiger, schwebender Zustand dar, der von Andeutungen und kurz aufscheinenden Momenten des Wiedererkennens gespeist wird. Die Ich-Erzählerin meint, im Sekretär, der ihr jeden Tag die Polenta vorbeibringt, eine Person aus ihrem früheren Leben wiederzuerkennen, Victoria lässt einmal fallen, die Turmwächterin in den Hotels, in denen sie gearbeitet hat, schon gesehen zu haben. Weitere Figuren, die die Erzählerin mit ihrem früheren Leben verbindet, tauchen schemenhaft auf, der Architekt des Turmnachbaus im schwarzen Mantel, ein Mädchen, das mal mit Pagenkopf, mal mit langen Haaren draueßen vor dem Turm erscheint und ihr von unten zuwinkt. Ist es ihre Tochter, die sie in der Andeutung einer schmerzhaften Geschichte einmal erwähnt, oder ist sie es selbst als junges Mädchen? Die Figuren verschmelzen, wie alle Eindrücke der Erzählgegenwart, mit den Bildern der Erinnerung, auch Vögel und Menschen werden ununterscheidbar, Zugvögel und Migranten, unerschütterlich bleibt vielleicht nur die Erfahrung des Exils.

Dass dieser Roman einen wie ein luftiges Seidentuch so fest umhüllt, dass er Abdrücke hinterlässt, liegt an der kunstvollen Verdichtung des Stoffes, der im gleichen Atemzug luftig, durchlässig erzählt wird; nicht leicht, denn es ist auch viel Schwermut darin, doch alles Schmerzliche, Lastvolle, Grausame der Existenz erscheint zugleich als vorübergehend, als verwandelbar. Das Schwere wird nicht negiert, es zeichnet das Leben, doch wird es in Matutin literarisch in einen Zyklus von Werden und Vergehen eingeordnet, der der religiösen Zeiterfahrung des Stundengebets entspricht. Der Turm erscheint letztlich als ein Durchgangsort, der Refugium und Aufbruch miteinander verbindet und in dem in einigen flüchtigen Augenblicken das Geheimnis der Verwandlung aufleuchtet: die möglich wird in der alltäglich-mystischen Begegnung.

Bibliographische Angaben
Gertrud Leutenegger: Matutin, Suhrkamp 2015
ISBN: 9783518466247

Bildquelle
Gertrud Leutenegger, Matutin
© 2025 Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin

bookmark_borderUrsula Krechel: Sehr geehrte Frau Ministerin

Vielleicht muss man zu Beginn erwähnen, dass eine der Hauptfiguren in Ursula Krechels Roman Lateinlehrerin ist. Silke Aschauer wird sie genannt, im zweiten der drei Teile des Romans tritt sie selbst als Erzählerin hervor und offenbart sich allmählich als diejenige, die in diesem Text zumindest erzählerisch die Fäden in der Hand hält. Und die mit ihren Schülern auch Passagen aus den antiken Werken liest, in denen literarisch und historisch Zeugnis abgelegt wird von einer Gewalt, von denen einige meinen, dass sie nicht in den Schulunterricht gehört, und die doch seit Jahrhunderten Teil der Realität ist. Einer Gewalt, die sich immer wieder auffällig gegen Frauen richtet, sie betrifft und oft auch bezichtigt. So beginnt der Roman mit Agrippina, der Mutter Neros, der unterstellt wird, ihren Mann Claudius ermordet zu haben, und die dann angeblich von ihrem eigenen Sohn umgebracht wurde; später ist von Boudica die Rede, einer weniger bekannten britannischen Heerführerin, die einen letztlich vergeblichen Aufstand gegen die römischen Besatzer angeführt hatte. Das konfliktreiche Mutter-Sohn-Motiv der antiken Literatur wird im ersten Teil mit der Geschichte einer weiteren fiktionalen Figur der Gegenwart aufgegriffen, mit einer Frau namens Eva Patarak, die einen erwachsenen Sohn zuhause mitversorgt und in einem kleinen Kräuterladen arbeitet, mit dessen unerwarteter Schließung sie in eine prekäre Lage gerät.

Damit sind die Themen des Romans, um die dieser sich eher konzentrisch als thesenhaft bewegt, gesteckt: Es geht um Frauenrollen und -bilder, um Gewalt an Frauen, um Machtfragen, die sich auch darin abbilden, wer und wer nicht gehört und gesehen wird, wer und was überliefert wird. Durch die Öffnung in die Geschichte, die Ursula Krechel von den ersten Seiten an vornimmt, fächert sich dieser Themenbogen immer weiter aus, Geschichte und Gegenwart überlagern sich sprachlich und inhaltlich. Der Roman ist auf eine extravagante Weise intersektional, setzt ganz unterschiedliche Perspektiven zueinander in Beziehung, den Blick auf Kolonialismus, Natur und Ökologie, Gynäkologie, Kapitalismus, Politik und Rechtsstaat. Auch formal fächert sich der sehr an Sprache und Übersetzung interessierte Text auf und gewinnt eine Komplexität, die sich schon mit den in die Gegenwartshandlung eingeschobenen Passagen aus der römischen Geschichte angekündigt hat und an der mit dem fiktionsironischen Wechsel der Erzählperspektive in den folgenden Teilen weiter gestrickt wird. Die Erzählung in der dritten Person über die Mutter Eva Patarak im ersten Teil wird im zweiten Teil von der Ich-Perspektive der Lateinlehrerin Silke Aschauer abgelöst, die sich als Frau mit roter Mütze zuvor in der dritten Person in die Geschichte eingeschlichen hatte und von der man nun sowohl erfährt, dass sie als Schriftstellerin für die Erzählung des ersten Teils verantwortlich ist, als auch dass sie an ungewöhnlich starken Blutungen leidet. Die Textebenen überlagern sich, die verschiedenen Ebenen der Zeit und der Figuren greifen mehr und mehr ineinander, so dass der Schreib- und Erzählprozess zu einem hinterfragenden Spiegel von Machtfragen und Rollenbildern wird. Im dritten Teil kommt dann noch die titelgebende Ministerin hinzu und ein Anschlag wird zum physischen Kulminationspunkt dieser Erzählung von Macht und Gewalt.

Das eigentliche Konstruktionsprinzip des Romans scheint jedoch nicht die äußere Handlung zu sein, sondern die Sprache. Immer wieder entfernt sich der Text von einer rein handlungsbasierten Erzählung, um ins Essayistische hinüberzugleiten. Vom Thema entfernt er sich jedoch nie, die Exkursionen, die er in die Kunst, in die Geschichte oder auch in die Naturbeobachtung unternimmt, lassen die zentralen Motive der Handlung in differenzierterem Licht erscheinen. Der Text bewegt sich fort, indem er der Sprache auf den Grund geht und sich scheinbar treiben lässt von Wortverwandtschaften, um so immer wieder Unausgesprochenes sichtbar zu machen. Analog zur Übersetzung als Kern des Lateinunterrichts hat es sich der Roman zum Projekt gemacht, aus der Geschichte ins Heute zu übersetzen und aus der historischen Geschichte in die fiktionale Geschichte. Und das sowohl mit einem Feingefühl, das der Nuance nachspürt, als auch ohne Scheu vor Tabus und Anstößigkeit; der Text will geradezu anstoßen, aussprechen, der Scham keinen Raum geben, sondern sie entwaffnen, so wie die verschiedenen Frauenfiguren im Text auf ihre jeweils persönliche Weise Widerstand zu leisten versuchen.

Bibliographische Angaben
Ursula Krechel: Sehr geehrte Frau Ministerin, Klett-Cotta 2025
ISBN: 9783608966534

Bildquelle
Ursula Krechel, Sehr geehrte Frau Ministerin
© 2025 Klett-Cotta Verlag J.G. Cotta sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderTijan Sila: Radio Sarajevo

Tijan Sila, 1981 in Sarajevo geboren, erlebte als Kind kurz vor dem Teenagersein die Belagerung seiner Stadt während des Bosnienkrieges und flüchtete 1994 mit seiner Familie nach Deutschland. Am Ende seines vierten Romans, Radio Sarajevo, schreibt der ebenfalls Tijan genannte Ich-Erzähler, dass er, auch nachdem der Krieg vorbei war, lange Zeit nicht in seine Geburtsstadt zurückgekehrt ist. Erst viele Jahre später, als längst erwachsener Mann, stattete er anlässlich einer Übersetzung eines seiner Texte Sarajevo einen Besuch ab.

Tijan Silas autobiographischer Roman Radio Sarajevo ist fragmentarisch angelegt, und wenn man es zuende gelesen hat, versteht man, dass ein solches Erzählen nur fragmentarisch sein kann. Und dass der Krieg, auch wenn er offiziell Geschichte ist, in den Köpfen derer, die ihn erlebt haben, nie ganz zuende ist. So wie sich die Kapitel in springender, lückenhafter Kapitelzählung aneinander reihen, hat auch der Krieg eine Stadt in Trümmern hinterlassen, und eine Bevölkerung, die mit ihren seelischen Trümmern zurecht kommen muss. Zu Beginn der Belagerung Sarajevos ist der Ich-Erzähler zehn Jahre alt, er erzählt von seinen meist heimlichen Streifzügen durch die Stadt, von der ständigen Bedrohung durch Beschuss von außen und von den auch im Inneren verrohten Zuständen, vom Eingesperrtsein in einem Familienalltag, den zu fliehen er die tödlichen Gefahren auf der Straße und die Unzuverlässigkeit seiner Freunde in Kauf zu nehmen bereit ist.

Das titelgebende Radio integriert Tijan Sila als Dingsymbol für den Kriegsalltag in seinen Text. Tijan bekommt von einem Freund der Familie eines geschenkt, ist kurze Zeit überglücklich damit, ehe es ihm wieder abhanden kommt, ein anderes Gerät taucht auf, wird vergessen, und die meiste Zeit fehlen ohnehin die Batterien. So steht das Radio für die im ganzen Roman unausgesprochene, aber im Subtext eindrücklich vermittelte Sehnsucht des Kindes danach, unbeschwert aufzuwachsen. Stattdessen besteht die Normalität während der Belagerung für den Erzähler aus Hunger, Kälte, Waffen, Schwarzmarkt, Pornographie, die Kinder sind in diesem fortgesetzten Ausnahmezustand mehr oder weniger auf sich gestellt, die Erziehungsmethoden Ausdruck vererbter Gewalt und Unterdrückung. Was sich der Erzähler in Erinnerung ruft, ist desillusionierend bis hin zu den Freundschaften, in denen sich die Prinzipien und Auswüchse des Krieges fortsetzen, die Verachtung, der Ausschluss, die Sippenhaft, die von den vorangehenden Generationen vorgelebt und von den Kindern nachgeahmt werden.

Die Perspektivlosigkeit, die sich erzählerisch im Fragmentarismus des Textes widerspiegelt, reicht über die letztlich begrenzte Dauer der Belagerung und des Krieges hinaus, und sprengt auch räumlich die Grenzen. Denn auch wenn Tijans Familie irgendwann das kriegsversehrte Land verlässt, um in Deutschland ein normales Leben zu führen, erfährt man, dass sich für die Familie der Traum eines Neuanfangs nicht bewahrheiten wird, sondern dass der Vater Krebs bekommen und die Mutter schwer psychisch krank werden wird.

Im Text heißt es einmal, dass es ein labyrinthisches Zeitalter sei, in dem der Erzähler und auch seine Eltern und deren Eltern aufgewachsen sind, ein Zeitalter der Gewalt, der Absurdität, des Chaos, in dem der Zerfall Jugoslawiens vorbereitet und ausgetragen wurde.

Umso mehr trifft einen die unaufgeregte erzählerische Haltung des jungen und autofiktionalen Ich-Erzählers, der in einer manchmal naiven, im nächsten Moment erschreckend frühreifen Direktheit von seinen Erlebnissen und Beobachtungen erzählt. Dieser Wechsel hat etwas Berührendes, und die unausgereifte Perspektive des Heranwachsenden ist es auch, die es literarisch möglich macht, das Drama aus dem Text herauszunehmen, ohne das sich all das Schreckliche doch umso eindringlicher vermittelt, etwas von der Wirklichkeit des Krieges zu transportieren und sie die Leser, auch wenn sie selbst nie in einer vergleichbaren Situation waren, ein Stück weit nachempfinden zu lassen.

Bibliographische Angaben
Tijan Sila: Radio Sarajevo, Hanser Berlin 2023
ISBN: 9783446277267

Bildquelle
Tijan Sila, Radio Sarajevo
© 2025 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

bookmark_borderAudrey Magee: Die Kolonie

In der sehr atmosphärischen Anfangsszene des Romans lässt die irische Autorin Audrey Magee ein kurioses Bild des Aufbruchs entstehen. Ein exzentrischer englischer Maler besteht aus Authentizitätsgründen darauf, mit einem einfachen Fischerboot auf die kleine Insel überzusetzen, auf der er den Sommer verbringen will, um zu malen. Er zeigt sich vor allem besorgt um sein Gepäck, das vornehmlich aus Staffelei und Farben besteht, und trotzt, den Zeichenblock auf dem Schoß, mehr schlecht als recht den Wellen und der Seekrankheit. Dank der Erfahrung der beiden Fischer, von denen der eine nur Irisch spricht, kommen sie nach einer turbulenten Fahrt über das Meer auf der kleinen Insel an.

So wie die beschriebene Eingangsszene erinnert der ganze Roman an eine fortlaufende Gemäldebeschreibung. Wie ein Selbstkommentar werden aus der Perspektive des englischen Malers immer wieder, fast zwanghaft, Bildunterschriften eingefügt, als würde er ununterbrochen malen oder sich zumindest in seiner Umgebung so bewegen, als verwandelte er alles, was in seine Wahrnehmung tritt, in eine gemalte Szene. Genauso wie die lyrischen Kurzzeilen, die das Textbild an einigen Stellen verdichten, lösen sich diese malerischen Einsprengsel nicht aus dem Gesamttext heraus, sondern verschmelzen mit ihm. Zu dieser fließenden sprachlichen Form passt es, dass die Autorin auch viel mit inneren Monologen arbeitet, ohne scharfe Trennung zwischen Gedachtem und Geäußertem. Auch der Übergang der Figurenperspektive ist gleitend, wenngleich die Handvoll Protagonisten durchaus klar voneinander unterschieden wird, jeder Charakter konturiert gezeichnet und vielschichtig ausschraffiert.

Es gibt die irischen Inselbewohner, von denen hauptsächlich eine kleine Fischerfamilie zu den dramatis personae gehört, und die nicht-irischen Gäste oder Eindringlinge. Ein französischer Sprachwissenschaftler, der seine Doktorarbeit über den Wandel und die Bedrohung der irischen Sprache verfasst, betreibt seit mehreren Jahren Feldforschung auf der kleinen irischen Insel. Als er in diesem Sommer, es ist das Jahr 1979, für seinen fünften Forschungsaufenthalt auf der Insel ankommt, ist er zu seinem Entsetzen aber nicht der einzige. Dass sich der bereits erwähnte englische Maler in diesem Sommer auch dort einquartiert hat, empfindet der französische Linguist nicht nur als eine persönliche Zumutung, sondern vor allem als eine Gefahr für den Fortbestand der irischen Sprache der Inselbewohner, die in Versuchung geführt werden, zu Kommunikationszwecken Englisch zu reden. Auch der Maler, der die Einsamkeit der Insel gesucht hat, um die Küstenlandschaft zu studieren und die Klippen zu malen — oder vielleicht auch nur, um endlich ein Bild zu schaffen, mit dem er seine Frau beeindrucken kann, eine Galeristin, die die avantgardistischere Kunst eines anderen seiner Landschaftsmalerei vorzieht –, ist alles andere als erbaut, als der Linguist in unmittelbarer Nähe zu ihm untergebracht wird. Um ungestört malen zu können, zieht er in eine baufällige Hütte direkt an der Küste. Doch auch dort, wo es weniger romantisch als ungemütlich ist, bleibt er nicht lange ungestört.

Die Streitereien zwischen den beiden Gästen auf der Insel schüren neue Konflikte, auch zwischen den Inselbewohnern, und lassen verborgene zutage treten. Porträtiert, auf mehreren Ebenen, wird in diesem Roman eine durch ein Unglück stark verkleinerte Familie von Fischern über mehrere Generationen: das Studienobjekt des französischen Linguisten, bei denen die Gäste einquartiert sind. James, der jüngste, den der Franzose, ungeachtet der Proteste des Jungen, mit der irischen Namensvariante Seamus ruft, ist zweisprachig. In der Familie spricht er Irisch, Englisch in der Schule, in der er sich als Außenseiter fühlt. Genauso wenig wohl fühlt sich James allerdings mit der Perspektive, in der Tradition seiner Vorfahren ein Fischer zu werden; er weigert sich aufs Meer hinauszufahren und fängt lieber Kaninchen. Seine Mutter ist eine schöne, noch junge Witwe, die in der Aussich lebt, irgendwann eine alte Witwe zu werden, wie ihre Mutter, James‘ Großmutter, die dem Engländer anfangs ähnlich feindselig gegenübersteht wie der Franzose, dessen linguistisches Anliegen sie als legitimeres Unterfangen auf der Insel betrachtet als die Malerei des Engländers, der sich augenscheinlich bald nicht mehr mit Landschaftsmalereien begnügt, sondern mit seinen Pinseln und Farbtuben in die Intimität der Inselbewohner einzudringen beginnt. Die Urgroßmutter von James schließlich ist diejenige, die sich ihr Irisch in Reinform bewahrt zu haben scheint. Aber auch sie versteht deutlich mehr, als es von außen den Anschein hat.

Das alles ereignet sich im Jahr 1979, als der Nordirlandkonflikt längst eine unaufhaltsame Gewaltspirale entfesselt hat. Trotz der scheinbaren Isolation der Insel ist er mehr als ein Hintergrundrauschen der Romanhandlung. In kurzen Zwischenkapiteln werden in immer rasanter erscheinender Dynamik die Morde des Jahres 1979 berichtet, die Opfer, katholisch, protestantisch, Familienväter, Kinder, alte Frauen, für einen kurzen, sachlichen und umso erschreckenderen Moment ins Licht geholt. Bezug darauf nehmen auf Handlungsebene dann gerade die Inselbewohner, die bei weitem nicht so abgeschottet sind, wie ihre Gäste es meinen oder erhoffen, die ihrerseits mit dem Egoismus der in eine größere Sache (die Kunst, die Wissenschaft) Verbohrten nur am Rande davon Kenntnis nehmen. Die Gewaltsamkeit der Kolonisierung ist denn auch das zentrale Thema des Romans, das mit den realen Anschlägen der IRA und den Vergeltungsschlägen von britisch-protestantischer Seite sein schreckliches eindimensionales Antlitz zeigt und auf der fiktionalen Handlungsebene auf subtile und vielschichtige Weise gespiegelt wird. Man erfährt, nicht zuletzt mittels der Figur des französischen Linguisten, viel über die Geschichte Irlands und Nordirlands, die die Autorin, auf eine übergeordnete Ebene der Gewalt- und Kolonisationsgeschichte abhebend, mit der Figur des Franzosen überdies mit der französischen Kolonisierung in Nordafrika in Verbindung bringt. Es geht auch viel um Sprache, die vom Zeugnis einer kulturellen Identität über ein sozial bedeutsames Kommunikationsmittel bis zum Machtinstrument der Kolonisatoren mit einer facettenreichen Spannbreite an Funktionen beladen ist.

Am spannendsten ist auf der fiktionalen Ebene in diesem Kontext auch die Beziehung zwischen dem englischen Maler und dem Inseljungen James, der ein erstaunliches natürliches Maltalent offenbart, da sie die Komplexität und Ambivalenz der (nicht nur) irischen Kolonisationsgeschichte erzählerisch überzeugend entfaltet. Über die Kunst nähern sich die beiden so ungleichen Menschen einander an, kommen ins Gespräch und entwickeln den Vorurteilen der Umgebung zum Trotz eine Beziehung, die einer Freundschaft auf Augenhöhe nahe zu kommen scheint. Doch ihre Beziehung bleibt fragil, vor allem von Seiten des Engländers getrübt und bedroht von Neid und Konkurrenzgedanken. Die winzige Künstlerkolonie, in der beide voneinander lernen, der erfahrene Maler vom frischen Blick des Jungen, der talentierte Junge vom Wissen und der Technik des Älteren, wird so doch wieder auf eine Machtkonstellation reduziert, die den einen enttäuscht, den anderen verunsichert zurücklässt.

Die Autorin lässt ihrerseits ein sehr zwielichtiges und widersprüchliches Bild von einigen ihrer Figuren beim Leser zurück. Während der Franzose, dem die irische Sprache so am Herzen liegt, als Sohn einer algerischen Mutter und eines ehemaligen französischen Soldaten mit seiner eigenen verdrängten Familiengeschichte zu kämpfen hat, die den Konflikt zwischen Kolonisator und Kolonisiertem auf kleinstem, scheinbar privatestem Raum, enthält, legt der Engländer, der mit dem Inseljungen und seiner Mutter auf verschiedene Weise in intime, auch wertschätzende Beziehungen tritt, dann doch wieder ein Verhalten an den Tag, das an das der englischen Kolonisatoren erinnert: Er eignet sich die Ideen des naiven Künstlers an und lässt ihn am Ende im Stich. So die eine Lesart, neben der weitere möglich sind, etwa in Form der Frage, was es mit authentischer Kunst auf sich hat, ob es eine solche überhaupt gibt, angesichts des Ineinanders von Traditionen und Kulturen. Was ist eine kulturelle Aneignung, was ein schnödes Plagiat? Offenbaren sich rückständige oder fortschrittliche Ansichten in der künstlerischen Form, die man wählt? Das Thema Kunst scheint mir, auch durch die äußere Form des Textes, das am tiefsten in den Roman eingewobene zu sein, mehr noch als das scheinbar im Vordergrund stehende Thema Sprache, bei dem die Autorin weniger in die Tiefe geht. Es sei denn, man betrachtet auch die Malerei als eine Sprache, als eine Art sich auszudrücken. Mit ihrem sehr in diese Sprache eintauchenden Text verwickelt die Autorin ihre lesenden Betrachter auf alle Fälle in ein inneres Streitgespräch mit ihren teils impressionistisch hingetupften, teils in ein fast barockes Licht- und Schattenspiel integrierten Figuren.

Bibliographische Angaben
Audrey Magee: Die Kolonie, Harper Collins 2025
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
ISBN: 9783312012893

Bildquelle
Audrey Magee, Die Kolonie
© 2025 Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

bookmark_borderTerézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens

Madame Bovary, Anna Karenina, Effi Briest, Jane Eyre sind absolute Klassiker, deren Titelheldinnen mit ihren unvergesslichen Namen wie Leuchtsterne am Himmel der Literaturgeschichte prangen. Terézia Moras Titelfigur Muna hätte vielleicht das Zeug dazu, diese Tradition über den Text hinaus funkelnder Romannamen fortzusetzen, von denen es genügt, sie auszusprechen, um sofort das Bild einer ganzen Welt entstehen zu lassen, in der sich diese Figuren bewegen, in der sie leiden und lieben, scheitern und jubilieren. Die eigenwillige und tragische Strahlkraft dazu hätte Muna allemal. Muna, diese Figur, die ganz unserer Gegenwart entspringt, ein blühender Charakter dieser Zeit, die gerade im Vergehen ist, dem Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert; noch in der DDR geboren und aufgewachsen, nähert sie sich erwachsen werdend unserer Gegenwart. Die Autorin hat angekündigt, Muna eine Triologie zu widmen, diesmal mit einer weiblichen Hauptfigur, nachdem sie mit Darius Kopp zuvor eine männliche Figur ins Zentrum dreier zusammenhängender Romane gestellt hatte; die Schwelle zum 21. Jahrhundert wird also gewiss in den versprochenen folgenden Romanen überschritten werden.

Muna oder Die Hälfte des Lebens ist, gleichwohl der Text sich auf die Biogaphie nur einer Figur, eben derjenigen Munas, konzentriert, ein Gesellschaftsroman, der sich zu einem großen Teil im Prekariat des Medien- und Wissenschaftsbereichs ereignet, in dem die keineswegs unbegabte junge Frau bald nach ihrem Abitur gestrandet ist. Terézia Mora erzählt auch die Vorgeschichte, Munas Kindheit und Jugend, die sie bereits in prekär zu nennenden Verhältnissen verbracht hat und denen sie mit dem Elan und der Chuzpe einer willensstarken Jugendlichen zu entkommen versucht. Als Heranwachsende muss sie mit dem frühen Krebstod des Vaters und mit einer emotional unzuverlässigen Mutter klarkommen, einer Theaterschauspielerin, deren Stern längst erloschen ist und die das Entrinnen von beruflichem Glanz und Schönheit in einer gefährlichen Mischung aus Alkohol und Tabletten ertränkt. Als Muna für eine Zeitung und dann für einen Verlag arbeiten darf, wenn auch nur als schlecht bezahlte, aber umso engagiertere Praktikantin, sieht sie hier, im Schreiben, eine Tür nach draußen offenstehen. Gleichzeitig nimmt sie ein Studium auf, lernt neben dem Kulturbereich auch das Wissenschaftsmilieu kennen und bekommt bald am eigenen Leib zu spüren, dass trotz ihrer unterschiedlichen Klientele beide Milieus auf ähnliche Weise so hoffnungmachend wie desillusionierend sind. Während Muna zwischen der Verlagsarbeit und der Universität pendelt, wird sie in einem weiterhin hierarchisch dominierten Umfeld immer wieder ausgenutzt; ob freiwillig oder unfreiwillig, da verschwimmen die Grenzen. Und es sind zwar oft, aber bei weitem nicht nur Männer, die sich ihre unterlegene Position im beruflichen Kontext zunutze machen. Das Gerangel um Erfolg, um Gesehenwerden, Anerkennung und der Belohnung mit einer soliden, gut bezahlten Stelle macht die darin Mitspielenden zu Tieren, die mit dem ständigen Druck mehr oder weniger gut zurechtkommen.

Am Beispiel der Hauptfigur Muna, die einem in all ihrer Widersprüchlichkeit ganz nahe gebracht wird — sie ist schön und sie ist unsicher, sie ist intelligent und sie ist unerfahren –, wird spürbar, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein, in der Öffentlichkeit und im Privaten. Munas Verletzlichkeit springt einem immer wieder ins Auge, ja, geht aus der Sprache des Textes selbst hervor, der ganz aus ihrer Perspektive erzählt wird. Gleichzeitig verwandelt sie ihre Verletzlichkeit, die nicht nur, aber eben doch sehr viel mit ihrer Weiblichkeit zu tun hat, immer wieder in Stärke. Ihre Wirkung auf andere ist schillernd: mal aufreizend, mal provokativ, mal naiv, mal manipulativ. All dies sind Zuschreibungen, die Munas inneres Fühlen und Denken verfehlen, aber doch in gewissem Grade beeinflussen und formen. Unscheinbar ist sie jedenfalls nicht, doch der Grund, weshalb sie auffällt, unterscheidet sich oft himmelweit von dem, was sie sich eigentlich vorgestellt oder erhofft hat, und ruft zudem Gefühle auf den Plan, die einem Miteinander auf Augenhöhe im Weg stehen.

Vor diesem Hintergrund kann die „romantische“ Beziehung von Muna und Magnus, die im Mittelpunkt der Handlung steht und ihr Dreh- und Angelpunkt wird, ihre fatale Dynamik entwickeln. Muna lernt den deutlich älteren Magnus, einen Fotografen und Französischlehrer, bei einem Praktikum kennen. Von Anfang an ist sie fasziniert von ihm, und von Anfang an tritt er als ein kurzangebundener, misanthropischer Mensch auf. Er ist ein unverbindlicher, sich entziehender Charakter, ein Mann, der nach einer gemeinsamen Nacht verschwindet und jahrelang kein Lebenszeichen von sich gibt, der sich, wie Muna bei ihren hartnäckigen und doch erfolglosen Nachforschungen erfährt, in den Westen abgesetzt hat, um dort seine akademische Laufbahn in Gang zu bringen. Nach sieben langen Jahren, in denen Muna ihn nicht vergessen kann, taucht er plötzlich wieder auf, und die ungleiche Beziehung zwischen ihnen nimmt ihren zerstörerischen Lauf.

Das Besondere und besonders Fesselnde ist die Art, wie dieser amour fou sich stilistisch und kompositorisch im Text entfaltet. Alles wird aus Munas Perspektive wiedergegeben, deren Blick ein so radikal subjektiver wie um Aufrichtigkeit bemühter ist. Ihre manischen Phasen, ihr selbstzerstörerisches Verhalten werden ausschließlich aus der Sicht der davon Betroffenen selbst erzählt. Das Neben- und Ineinander ihrer im Schreiben gesuchten Wahrhaftigkeit und ihrer emotionalen Verblendung ist hochspannend zu lesen, und es ist beeindruckend, wie diese erzählerische Unmittelbarkeit doch wieder erzählerisch vermittelt wird. Terézia Mora, deren experimentellen Umgang mit Sprache, mit Text man zum Beispiel auch aus dem Roman Das Ungeheuer kennt, in dem ein Paralleltext im Fußnotenbereich der Seiten die eigentliche Erzählung begleitet und in neuem Licht erscheinen lässt, arbeitet hierfür diesmal auch mit Klammern und Einschüben. So entsteht ein Text, der sich immer wieder selbst korrigiert, mit der Diskrepanz und Bedingtheit von Innen und Außen spielt und das Zweifeln und Sehnen, Denken und unaufhörliche Hinterfragen einer zugleich starken und schwachen, rebellischen und unterwürfigen, berechnenden und naiven, zielstrebigen und schwankenden, eben nicht auf eine einfache Formel zu bringenden Hauptfigur abzubilden vermag.

Nicht nur Muna selbst übrigens, sondern auch die zahlreichen anderen Figuren, denen sie begegnet, sind zum Großteil gebrochene, geschädigte Charaktere, zumindest aber Menschen, deren Hoffnungen und Pläne Kompromisse mit der Wirklichkeit eingehen mussten. Manchmal verbergen sie sich hinter einer strahlenden Fassade, manchmal sind die Risse schon deutlich nach außen hin sichtbar. Doch die Gewalttätigkeit, die nicht selten dahinter lauert, überrascht die junge Muna mehr als einmal. Für den Leser ist sie schockierend, gerade weil sie sich so scheinbar logisch aus den Handlungen heraus entfaltet.

Bibliographische Angaben
Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens, Luchterhand 2023
ISBN: 9783630874968

Bildquelle
Terézia Mora, Muna oder Die Hälfte des Lebens
© 2024 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

bookmark_borderEdna O’Brien: Das Mädchen

Die irische Schriftstellerin Edna O’Brien, die in ihren mit Preisen ausgezeichneten Romanen immer wieder Mädchen und jungen Frauen eine Stimme gibt, fühlt sich in ihrem neuesten Roman in das tragisch-mythische und zugleich auf schrecklichen realen Begebenheiten beruhende Schicksal eines fiktiven nigerianischen Schulmädchens ein, das von der islamistischen Sekte Boko Haram entführt wird.

Verschleppt ins Lager der Milizionäre, das tief im Urwald verborgen liegt, wird das junge Mädchen, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, zum Opfer brutalster männlicher Gewalt und macht schier Unerträgliches durch. Sie wird versklavt, erniedrigt, vergewaltigt, und bringt dennoch fast übermenschliche Kräfte auf, als sich die Gelegenheit ergibt, mit ihrer kleinen Tochter aus der Gefangenschaft zu fliehen.

In der Flucht durch den Wald setzt sich der Überlebenskampf des Mädchens fort, das den symbolisch aufgeladenen Namen der Muttergottes, Maryam, trägt. Die gemeinsam mit ihr und dem Baby geflüchtete Freundin stirbt an einem Schlangenbiss. Trauma, Schock, Hunger, Fieber führen die mit der Mutterrolle überforderte Maryam ins Delirium. Sie wird von muslimischen Nomadenfrauen gefunden und liebevoll umsorgt, doch als der Gemeinschaft deswegen Gewalt angedroht wird, müssen Maryam und ihr Baby weiterziehen. Doch auch als sie endlich die Großstadt erreicht, medizinisch versorgt wird und ihre Mutter wiedersieht, ist der Kampf noch lang nicht zuende. Als „Dschihadi-Ehefrau“ und „Buschfrau“ ebenso geschmäht wie bemitleidet trägt sie das Stigma des Gewaltopfers. Während sich die Regierung mit ihrer „Rettung“ schmückt, wird ihr das Baby weggenommen, und bei ihrer Mutter findet sie ebensowenig Trost wie in ihrem von Angst und Tod erschütterten Dorf. Erst als Maryam wirklich jede Hoffnung verloren hat, deutet sich ein Rettungsschimmer an…

Die Autorin, die für ihre Geschichte intensiv vor Ort recherchiert hat und auf sehr lebendige Weise viele weitere Lebens- und Leidensgeschichten, aber auch nigerianische Mythen, Feste und Rituale, in ihren Text integriert, führt ihre Ich-Erzählerin und damit auch ihre Leser immer wieder an die Grenze des Erträglichen. Doch steht im Zentrum der Geschichte trotz allem nicht die Gewalt, sondern der Widerstand gegen sie und die Menschlichkeit. So wird die blutjunge Marienfigur Maryam, in der sich die tatsächlichen Gewalterfahrungen vieler nigerianischer Mädchen symbolisch verdichten, im Raum der Fiktion zu einer Legende, mit der sich ihre Opferrolle überwinden lässt.

Ein aufwühlendes und sehr authentisches Buch, das uns im weit entfernten Europa ein von Gewalt und Konflikten erschüttertes, aber auch an Traditionen und Geschichten reiches Land ein Stück näherbringt.

Bibliographische Angaben
Edna O’Brien: Das Mädchen, Hoffmann und Campe (2020)
Aus dem Englischen von Kathrin Razum
ISBN: 9783455008265

Bildquelle
Edna O’Brien, Das Mädchen
© 2020 Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg

bookmark_borderAntonio Scurati: M. Der Sohn des Jahrhunderts

Sich auf Antonio Scuratis monumentales Projekt einer dreiteiligen fiktionalisierten Geschichte des italienischen Faschismus und seines Protagonisten Benito Mussolini einzulassen, bedeutet ein Leseerlebnis, das zugleich Faszination und Schock hervorruft, darüber hinaus aber auch einige wertvolle historische, politische und menschliche Erkenntnisse im Geist des Lesers zurücklässt, der nach der an gewaltsamen Szenen nicht sparenden Lektüre noch einige Zeit weiterarbeitet, um das Gelesene, das keineswegs reißerisch, aber eben in seinem historisch bezeugten Realismus umso erschreckender ist, zu verdauen und einzuordnen.

Schon dieser erste Teil, der die Zeit von 1919-1925 behandelt, also die ersten Jahre des durchaus wechselvollen Aufstiegs des Faschismus, umfasst in der deutschen Übersetzung stolze 830 Seiten, für die der Schriftsteller und Historiker Antonio Scurati, der an der Universität in Mailand das Forschungszentrum für Kriegs- und Gewaltsprachen koordiniert, umfangreiches historisches Material zusammengetragen, gesichtet und ausgewertet hat. Davon zeugt das seitenlange Personenverzeichnis, das all die im Text vorkommenden Zeitgenossen Mussolinis auflistet, all die politischen Akteure, neben den Faschisten auch die Sozialisten und Kommunisten, die Liberalen, die Konservativen, sowie die wichtigen Privatpersonen, Unternehmer und Künstler; davon zeugen auch die auf die Ereignisse in den jeweils vorangehenden Kapiteln Bezug nehmenden Quellenauszüge — geheime Telegramme, Auszüge aus Zeitungsartikeln, parteipolitische Reden oder Direktiven, private Briefe usw. –, die in Kombination mit dem Erzähltext, der die wechselnden Perspektiven der fiktionalisierten historischen Figuren — am häufigsten Mussolini selbst — einnimmt, ein differenziertes und spannungsreiches Bild der Zeit und der Gesellschaft hervorbringen.

Spannung und Konfliktpotential erhält der in unaufhaltsamer Chronologie voranschreitende Roman, indem er die Dynamik des gar nicht so reibungslosen, aber letztlich nicht zu bremsenden Aufstiegs des faschistischen Duce nachzeichnet, der ein ebenso großer Taktierer wie Frauenheld war, die Geliebten wie die politischen Verbündeten nach Bedarf auswechselte, die schmutzige Seite der Gewalt zwar verachtete, aber sich zunutze machte, den ein unbändiger Wille, voranzukommen, leitete, der zugleich aber immer wieder auch seine schwachen, verzweifelten, wütenden Momente hatte, die nur seine engsten Vertrauten mitbekamen.

Auch wenn der Roman erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs einsetzt, erfahren wir von Mussolinis Herkunft aus einfachsten Verhältnissen; er war der Sohn eines Schmieds, arbeitete in jungen Jahren als Grundschullehrer, wurde dann Journalist und leitete die sozialistische Zeitung Avanti!, ehe er, da er sich auf die Seite der Interventionisten schlug, aus der sozialistischen Partei ausgeschlossen wurde und seine eigene, faschistische Zeitung, Il popolo d’Italia, gründete. Enttäuschte Kriegsheimkehrer um sich scharend rief er in Mailand den ersten faschistischen Kampfbund ins Leben, dem in ganz Italien nach und nach weitere regional organisierte Kampfbünde folgen sollten. Obwohl die Ausbreitung des Faschismus anfangs eher schleppend verlief und die sich formende Bewegung immer wieder Rückschläge gegen die Sozialisten einstecken musste, war aufgrund der stetigen Befeuerung der Gewalt irgendwann der Punkt erreicht, an dem Mussolini die faschistischen Geister, die er rief, schließlich kaum mehr zügeln konnte. Da er sich aber unbedingt politisch etablieren, das Parlament gewissermaßen faschistisch infiltrieren wollte, um es von innen heraus zu zersetzen, verfuhr er immer zweigleisig: Er verhandelt mit den Regierungsparteien, schmiedet Bündnisse und geht scheinbar Kompromisse ein, um die politischen Gegner zu beschwichtigen, und stachelt im Hintergrund heimlich eben die Squadristen an, deren Gewalt er zu besänftigen verspricht, was ihn auch selbst immer wieder in Bedrängnis bringt. Denn so einschüchternd die Drohkulisse ist, die er mit den Kampfbünden aufbaut, so schwer ist es auch, sie im richtigen Moment wieder zu kontrollieren und die einmal entfesselten, taktisch irgendwann nicht mehr erwünschten gewaltsamen Ausschreitungen einzudämmen. Er spielt ein gefährliches Spiel, das er nach der eindrucksvollen Farce des Marsches auf Rom und der anschließenden kritischen Regierungsübernahme zwar knapp gewinnt, das aber ein ohnehin schon in Unruhe befindliches Land in einen fortgesetzten bürgerkriegsähnlichen Zustand versetzt und viele Hunderte Menschenleben kostet. Es ist entsetzlich, als ohnmächtiger Leser den unumkehrbaren Lauf der Geschichte mitzuerleben und zu beobachten, wie die schrecklichen Lynchmorde und Gewaltausbrüche der Faschisten die Gesellschaft zwar in Grauen versetzen, die Mehrheit der politischen Akteure aber dennoch bereit sind, mit ihnen zu koalieren und Mussolini den Weg an die Macht zu ebnen.

Giolitti hat einen eigenen Plan: Die faschistische Ungesetzlichkeit, die er für vorübergehend hält, zügeln, indem man sie auf den Boden der Verfassung zwingt. Mussolini hat einen Gegenplan: Unordnung schüren, um zu zeigen, dass er der einzige ist, der die Ordnung wiederherstellen kann. Die Squadristen mit der einen Hand antreiben, um sie mit der anderen Hand zu zügeln. (…) Selbstverständlich halten sich die Squadristen nicht an die Spielregeln. Sie sind vehement antiparlamentarisch.

Antonio Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts

Unter den unzähligen, fast immer sehr lebensecht gezeichneten historischen Figuren stechen einige besonders heraus: Der fanatisch-überschwängliche, immer wieder dem Wahnsinn nahe Dichter Gabriele d’Annunzio etwa, der im Zeichen des Irredentismo, des italienischen Nationalismus, monatelang die letztlich vergebliche Besetzung der heute kroatischen Stadt Fiume (Rijeka) mit den ihm ergebenen präfaschistischen Arditi des Ersten Weltkriegs aufrechterhielt, bis er — stets zwischen blutigem Heroismus und Lächerlichkeit pendelnd — in Folge internationalen Drucks von der italienischen Armee wie ein räudiger Hund aus seinem chaotischen Traum eines ihm untergebenen italienischen Fiume verjagt wurde und dennoch weiterhin für einen Teil der Faschisten eine wichtige Identifikationsfigur blieb. Oder der überzeugte Sozialist Giacomo Matteotti, einer der wenigen Sympathieträger der Geschichte, der sein privates Glück dem gewaltlosen Kampf für den Sozialismus und gegen die Faschisten opfert — wovon auch der berührende Briefwechsel mit seiner intelligenten Frau Velia Zeugnis ablegt –, der schließlich in der gespaltenen linken Parteienlandschaft, die dem Faschismus nicht mehr viel entgegenhalten kann, wie ein letzter Fels in der Brandung seiner ethischen Verantwortung als Parlamentarier gerecht zu werden versucht und beflissen, fast schon obsessiv Beweismaterial sammelt, um die ungebrochene Gewaltsamkeit und Korruption der faschistischen Partei ans Tageslicht zu bringen. Eine einprägsame Figur ist auch Margherita Sarfatti, die um einige Jahre ältere Dauergeliebte Mussolinis, die ihn von Beginn an unterstützt und umsorgt, ihm nicht nur die Leidenschaft für die Luftfahrt einimpft, sondern ihm auch Nachhilfe in Kunst und intellektueller Bildung gibt und dank ihrer Kontakte die Idee des Faschismus auch in den höheren gesellschaftlichen Kreisen salonfähig macht.

Wenngleich die Politik im Zentrum des Romans steht, geht Scurati auch der Psychologie des Faschismus und seiner Gegner auf den Grund, lässt persönliche Charakterzüge seiner Protagonisten zu Tage treten und schildert die sozialen Milieus, in denen sie sich bewegen. Die Stimme des sich mit persönlichen Wertungen zurückhaltenden Autors scheint dabei immer wieder indirekt über das von ihm häufig eingesetzte Stilmittel der Metapher auf.

An der Wertpapierbörse der Habenichtse wird jetzt das Schwermetall Angst gegen die hoch im Kurs stehende Währung tödlicher Hass getauscht. Hasserfüllte Kleinbürger: Aus ihnen wird ihre Armee bestehen. (…) Alles Leute, die bin in ihr Innerstes von dem unbändigen Wunsch erfüllt sind, sich einem starken Mann zu unterwerfen und zugleich über die Wehrlosen zu herrschen. (…) Wer nur sind diese Leute? Wo hatten sie sich bis gestern verkrochen? (…) Der Krieg hat ihnen keine Wiedergeburt beschert, sondern sie nur sich selbst zurückgegeben und zu dem werden lassen, was sie bereits waren. Vielleicht ist der Faschismus nicht der Wirt dieses sich ausbreitenden Virus, sondern der Gast.

Antoni Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts

Auch wenn man keine direkten Parallelen zu heute ziehen mag, da sich unsere Gesellschaft in einer ganz anderen Ausgangslage befindet als das traumatisierte Nachkriegsitalien 1919 und unsere parlamentarischen Institutionen bis jetzt noch tief in der Verfassung verankert sind, stellt sich mitunter ein mulmiges Gefühl beim Lesen ein. So ruft einem die Lektüre immer wieder in Erinnerung, dass die Pfeiler der Demokratie nicht gegen jeden Angriff gefeit sind, dass eine Gesellschaft, die den Zusammenhalt verliert, anfälliger ist für antidemokratisches Denken, und wie wichtig es ist, wachsam zu sein. Denn der Schritt von hasserfüllten Parolen zu handgreiflicher Gewalt ist kein überraschender, das Eingehen von Kompromissen mit antiparlamentarischem, rechtem Gedankengut kann zum Verhängnis werden ebenso wie das Spiel mit der Angst der Bevölkerung; Angst ist ein schlechter Ratgeber und doch lassen wir uns, durch emotionale Berichterstattung und Kommentierung in Echtzeit befeuert, oft von ihr steuern und rufen auch um den Preis der Freiheit nach mehr Sicherheit. Auch der Ruf nach dem starken Mann ist keineswegs aus der Welt. Weil große Teile der Bevölkerung von der Farb- und Ideenlosigkeit der alten Parteien und Politiker frustriert waren, drang der Populismus und Aktionismus des Jahrhundertsohnes Mussolini zu ihnen durch, die Massen waren

hingerissen von diesem neuen Politiker, der von der Straße und von unten kommt und mit dem Volk auf Tuchfühlung bleibt, herausfordernd, verfemt, unverfroren (…). Egal, wohin er geht, die Menge draußen auf dem Platz umringt ihn und schließt ihn in die Arme. Da ist er. Der neue Mann (…). Gegen ihn erscheinen die Politiker des alten Italien, die, mehr tot als lebendig, noch immer mit abgedroschenen Parlamentsfloskeln um sich werfen, wie Schattengestalten aus der grauen Vorzeit. Da ist der starke Mann, der Mann der physischen Stärke — eine andere gibt es nicht –, der Mann der Gewalt, die er besänftigen wird, der Mann der Grausamkeit, die er zähmen wird, der Mann des Kampfes, den er beenden wird.

Antonio Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts

Und schließlich kann auch politisches Desinteresse gefährlich sein, das auch heute durchaus im Bereich des Möglichen liegt, in Form der Abwehr einer als unerträglich empfundenen Überforderung durch die rasante Geschwindigkeit und immer schwerer zu durchschauende Komplexität unserer vernetzten Welt:

Das Land ist müde, verbraucht, am Boden. Es träumt davon, sich auszuruhen, es träumt einen traumlosen Traum, einen Traum von Einfachheit. Das Land ist müde, und genau deshalb ist er (Mussolini) unermüdlich. (…) Die öffentliche Rede taugt nicht mehr, um ins Fleisch zu dringen oder wenigstens am Lack zu kratzen. Je länger der Schatten der Diktatur wird, desto mehr zieht sich das Leben ins Private zurück.

Antonio Scurati, M. Der Mann des Jahrhunderts

Wenn man sich von der schieren Textmenge und dem nicht allzu leichten historischen Stoff nicht einschüchtern lässt, lohnt es sich unbedingt, sich dieses Jahrhundertbuch zu Gemüte zu führen. Ich werde auf jeden Fall die Fortsetzung lesen, die in Italien im Herbst und auf Deutsch dann wohl im nächsten Jahr erscheinen wird, und erwarte sie mit mulmiger Spannung…

Bibliograhische Angaben
Antonio Scurati: M. Der Sohn des Jahrhunderts, Klett-Cotta (2020)
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
ISBN: 9783608985672

Bildquelle
Antonio Scurati, M. Der Sohn des Jahrhunderts
© 2020 Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

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