bookmark_borderMatthias Jügler: Die Verlassenen

Während ich dem Hörbuch zu Matthias Jüglers Roman Die Verlassenen gelauscht habe, fühlte ich mich mehr und mehr an den Kinofilm Das Leben der Anderen in der Regie von Florian Henckel von Donnersmarck erinnert, ähnlich eindringlich, ähnlich schockierend ist die Aufarbeitung eines ähnlich düsteren Kapitels der Geschichte der DDR mit der dramaturgischen und ästhetischen Überzeugungskraft der Fiktion.

Gesprochen wird das Hörbuch von Florian Lukas, dessen ganz leichter Akzent zur ostdeutschen Herkunft des Erzählers passt und der vor allem den Ton der Geschichte, die gefasste, zurückhaltende Emotionalität, sehr gut trifft. Der Erzähler, aus dessen teils kindlicher, teils schon erwachsener Perspektive die Ereignisse durchgehend geschildert werden, nennt sich Johannes Wagner und ist, wie der Autor selbst, Anfang der 1980er Jahre in der DDR geboren. Er erzählt rückblickend, aber sehr präsentisch von der Vergangenheit seiner Familie, die von mehrfachen, dem Jungen von damals unverständlichen Verlusten geprägt ist. In der Rückschau ruft sich der Erzähler verschiedene Szenen aus seiner Kindheit und seiner Teenagerzeit ins Gedächtnis und schlüpft dafür wieder in die Haut des verunsicherten kleinen Jungen, der eher an sich selbst als an den anderen zweifelt. Später wird sich auch der Student inmitten seiner Kommilitonen nie so ganz wohl, so ganz am rechten Platz fühlen, noch später der junge Vater in seinem Eheleben scheitern.

Johannes verliert früh seine Mutter, angeblich ein tragischer Unfall, das Aufwachsen bei seinem nun alleinerziehenden Vater, dessen Traurigkeit er spürt, ohne sie zu verstehen, ist für den Heranwachsenden nicht einfach. Und dann verschwindet auch sein Vater eines Tages, in der Mitte der 1990er Jahre, ganz plötzlich; von einer Geschäftsreise kehrt er nie zurück. Der Junge bleibt von da an bei seiner Oma, bis auch diese stirbt und den jungen Erwachsenen mit einer unaufgearbeiteten Geschichte alleine zurücklässt.

Verlassen, wie es der Titel ankündigt, ist in dieser Geschichte, die, um es nebenbei zu erwähnen, auf der tatsächlichen Lebensgeschichte des Autors beruht, zunächst der kleine Johannes, der seine Verlorenheit und Hilflosigkeit in Tapferkeit zu verwandeln sucht, der immer wieder Hoffnung schöpft, aber sich nie richtig auf andere einzulassen, sich zu binden wagt. Verlassen ist auch sein Vater, wie Johannes viel später klar wird; in einem ihm hinterlassenen Umzugskarton der Eltern findet der bereits erwachsene Johannes einen seltsamen Brief aus Norwegen. Ahnend, dass er hier auf eine bedeutsame Spur gestoßen ist, bricht Johannes in dieses ferne Land im Norden auf. Tatsächlich deckt er dort einen Teil der Vergangenheit seiner Familie und ihres Bekanntenkreises auf, die auf traurige, ja erschütternde Weise kurz vor und nach der Wende noch von der DDR-Geschichte eingeholt wurden.

Ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten, sei hier erwähnt, dass es in Jüglers mitreißendem und mitnehmendem Buch um Freundschaft und Verrat geht, aber auch um Politik und Privatheit, um eine fiktionalisierte, aber von der Realität inspirierte Stasi-Operation, die einen vermeintlich staatsgefährdenden Menschen vernichten sollte und seine Familie über mehrere Generationen ins Unglück stürzte. Es geht um die Überforderung der Erwachsenen, um das Schweigen auch gegenüber den Kindern, um Hoffnung, Trauer, Erinnerung, Loyalität und Vertrauen, und nicht zuletzt darum, wie die politischen und menschlichen Verwerfungen in einem Unrechtsregime auch die Generation der danach Geborenen noch aus der Bahn zu werfen vermag. All dies bringt Matthias Jügler in einem eindringlichen und zugleich unaufgeregten Text auf weniger als 200 Seiten bzw. in weniger als vier gelesenen Hörbuchstunden zur Sprache. Berührend, aufrüttelnd und absolut hörenswert!

Bibliographische Angaben
Matthias Jügler: Die Verlassenen, Penguin 2021
ISBN: 9783328601616

Hörbuch: MDR Media GmbH und BUCHFUNK 2021
Gelesen von Florian Lukas
ISBN: 9783868475968

Bildquelle
Matthias Jügler, Die Verlassenen
© 2021 Penguin Hardcover Verlag, München

bookmark_borderZoë Beck: Memoria

Wieder greift Zoë Beck gesellschaftlich brisanten Stoff auf und formt daraus eine spannende Krimihandlung mit durchaus beklemmenden Zügen, so nah ist ihr Near-Future-Szenario wieder an unserer Realität. Während es im Vorgängerroman Paradise City (vgl. Rezension vom 25.9.2020) um ein totalitäre Gestalt annehmendes Gesundheitssystem ging, versetzt sie uns diesmal bereits mit der Eingangsszene — ein verheerender Waldbrand — in eine von den nicht mehr fernen Folgen des Klimawandels in Aufruhr versetzte Welt. Doch Gänsehaut macht vor allem, dass diese Katastrophe in der Welt der Protagonistin Harriet schon fast zu einer neuen Normalität geworden ist. Wie beiläufig erfährt man, dass Temperaturen über 40 Grad nicht zum ersten Mal über die Katastrophenapp angekündigt werden, und auch die sozialen Verhältnisse in Deutschland, wo der Roman spielt, haben sich nun in aller Sichtbarkeit prekarisiert: Harriet wohnt, auch das gehört zur neuen Normalität, obwohl längst erwachsen und berufstätig, in einem kleinen Wohnheimzimmer mit rationierten Strom- und Warmwassertarifen und arbeitet als gelernte Klavierbauerin im Sicherheitsdienst eines Kaufhauses, dessen Waren sie sich selbst, wie auch die Mehrheit der Bevölkerung, nicht im Traum leisten kann.

Durch die eingangs geschilderte Brandkatastrophe gerät Harriet nun in einen Strudel von Ereignissen, die sie in ihre Vergangenheit zurückversetzen und irritierende Bruchstücke von teils widersprüchlichen, teils auch sehr gewaltsamen Erinnerungen wachrufen, die ihr gesamtes gegenwärtiges Leben umstürzen. Harriet beginnt, allem zu misstrauen, nicht zuletzt sich selbst und ihrem eigenen Gedächtnis. Doch mutig, wie Zoë Becks Protagonistinnen es sind, folgt sie auf eigene Faust den Spuren in ihre Vergangenheit und in die tieferen Schichten ihres beschädigten Gedächtnisses. Sie geht von Frankfurt nach München, in die Stadt, in der sie aufgewachsen ist und in der sie als junges Mädchen eine vielversprechende Karriere als Konzertpianistin begonnen hatte; und sie stellt im Umfeld ihres an Demenz erkrankten Vaters Nachforschungen zum Abbruch ihrer Pianistenkarriere und zum Unfalltod ihrer Mutter an.

Was einen außer der spannend konstruierten Geschichte in Atem hält, die man zusammen mit der Protagonistin Seite um Seite und Bruchstück für Bruchstück zu rekonstruieren versucht und die übrigens in der hörenswerten Audiofassung von Milena Karas mit Gespür für den richtigen Tonfall gelesen wird, ist das Geschick der Autorin, gleich mehrere gesellschaftsrelevante Stoffe auf glaubhafte und nachvollziehbare Weise zusammenzubringen. Klimakrise, K.I. und Gedächtnisforschung, Mobbing, Gewalt an Frauen und überhaupt eine beklemmende Auffächerung der verschiedenen Gesichter der Gewalt — auf dem Wege der Fiktion wird deutlich, wie all dies viel mehr miteinander zusammenhängt, als man es auf den ersten Blick vermuten würde. Das ist erschreckend, spannend und nicht zuletzt höchst erkenntnisreich.

Bibliographische Angaben
Zoë Beck: Memoria, Suhrkamp 2023
ISBN: 9783518472927

Hörbuch: Argon Verlag 2023
Gelesen von Milena Karas
ISBN: 9783839820339

Bildquelle
Zoë Beck, Memoria
© 2023 Suhrkamp Verlag AG, Berlin

bookmark_borderAnne Rabe: Die Möglichkeit von Glück

Anne Rabe hat eine Familiengeschichte geschrieben, die, so aufwühlend wie ein Roman, doch eigentlich mehr dokumentarisch-essayistischen Charakter hat. Es geht um die moralischen und emotionalen Abgründe, die sich in der Generation der vor und während dem Krieg aufgewachsenen Generationen auftun und die, heimlich, still und leise, an die folgenden Generationen weiter gegeben werden; um Lebenslügen und Ausflüchte, um den sehnsüchtigen Wunsch und die eitle Einbildung, es besser zu machen, besser zu sein, nur um dann doch wieder ohnmächtig angesichts neuer Verwerfungen dazustehen.

Die Erzählerin, kurz vor der Wende geboren, geht diesen in der eigenen Familie erlebten Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten aus der Perspektive der Nachgeborenen auf den Grund, genauer gesagt aus der Perspektive der ostdeutschen Nachgeborenen. Das Buch gibt somit auch einen tiefen und sozusagen volksnahen Einblick in die Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR. Und dieser auch sehr persönliche Blick ist ein mutiger, da er sich, nach Erkenntnis verlangend, der Verletzlichkeit aussetzt.

In diesem Text, der ein eigenartiges Zwitterwesen zwischen Fiktion und Dokumentation, zwischen Geschichtsphilosophie und szenischer Handlung darstellt, zwischen Gesellschaftsanalyse und mit Bedacht biographisch gestaltetem Einblick in den intimen Raum des Privaten, waren für mich die Stellen am schrecklichsten und eindrücklichsten zu lesen, an denen die Erzählerin schildert, wie lieblos, wie brutal über mehrere Generationen hinweg die Kinder erzogen wurden. Schwärzeste Pädagogik in der naiven, selbstgerechten, verzweifelten und auf jeden Fall, so zeigt Anne Rabe, auch ideologischen Verblendung, dabei das Beste für die Familie und die Gesellschaft zu tun. Hier, im intimsten Kern der Gesellschaft, zeigt sich, dass politische Ideologien und Machtstrukturen ins Privateste hineinreichen. Anne Rabes nicht nur ostdeutsche Familiengeschichte lässt keine Ausflüchte mehr zu, wie die Erzählerin, die ihrer Empörung folgt, sind wir alle, ob versehrt oder verschont, in der per se politischen Verantwortung hinzuschauen und zu fragen.

Bibliographische Angaben
Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück, Klett-Cotta 2023
ISBN: 9783608984637

Bildquelle
Anne Rabe, Die Möglichkeit von Glück
© 2023 Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart

bookmark_borderPola Polanski: Ich bin Virginia Woolf

Eine verwöhnte junge Firmenerbin mit Angst vor festen Beziehungen, einer diversen Sexualität und unvollendetem Germanistikstudium, die seit den Deutschaufsätzen in ihrer Schulzeit keinen zusammenhängenden Text mehr geschrieben hat, sich aber unbedingt zur Schriftstellerei berufen fühlt und sich, um ihr Genie von seiner Schreibblockade zu befreien, einer Therapie unterzieht: Das klingt zunächst nach einer Figur, die aus Leif Rands Generationenporträt in Allegro Pastell gefallen sein könnte (vgl. Rezension vom 13.5.2020), so seelen- und haltlos, so verloren und überfordert vom konsumbestimmten Überangebot unserer modernen bindungslosen Zeit scheint auch Inka Ziemer, die Protagonistin von Pola Polanskis Roman. Auch sie scheint in einer Identitätskrise zu stecken, die mehr eine der Form als des Inhalts ist. Gleichwohl auch Inka Ziemer auf ihre Außenwirkung bedacht ist und es in dem Roman zu einem großen Teil um Selbstinszenierung geht, verlässt die Autorin mit dieser Figur den vertrauten Boden einer ironisch gebrochenen Alltagsnormalität von lifesylegeprägten Millennials. Denn ihre Protagonistin fühlt sich nicht nur als Schriftstellerin, sie fühlt sich identisch mit einer ganz bestimmten Schriftstellerin, und zwar mit keiner geringeren als der großen Virginia Woolf. Und bei der Therapie, mit der sie ihre Schreibhemmung lösen will, handelt es sich ausgerechnet um eine Reinkarnationstherapie!

Die vielen in den Text gestreuten Ähnlichkeiten mit der berühmten britischen Schriftstellerin sind also keinesfalls zufällig, das Spiel mit den (Geschlechts-)Identitäten, das wohlhabende Herkunftsmilieu, in dem auch die Protagonistin Pola Polanskis verortet wird, ihr Hang zum Wahnsinn. Das fällt natürlich auch Inka Ziemer auf, deren Nachsinnen über all die bedeutungsvollen Gemeinsamkeiten die Züge einer Farce annimmt und ins Komische gesteigert wird:

Inka, die mittlerweile die ganze Flasche geleert hatte, wurde immer euphorischer. Wie genau das alles zusammenpasste! Diese exakten Übereinstimmungen konnten doch nicht nur Zufall sein. […] Zudem — bei diesem Gedanken geriet Inka vollends aus dem Häuschen — war Virginias Mutter bereits früh gestorben. Genau wie Maman! Und wie Virginia hatte Inka sich immer verlassen gefühlt. Nicht zu vergessen: Beide waren Raucherinnen!

Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf

Inka Ziemer entwickelt mehr und mehr einen Wahn, der auf die Literaturgeschichte Bezug nimmt, eine Art der Bibliomanie, die sich in einer ins Extreme gesteigerten identifikatorischen Lektüre Ausdruck verschafft. Auch hier verwendet die Autorin Pola Polanski ein vertrautes literarisches Motiv. Auch Don Quijote oder Emma Bovary verfallen lesend einem Rausch, der mit einem abgründigen Realitätsverlust einhergeht, indem sie sich in ihren Lektüren verlieren und in eine fiktionale Parallel- oder Gegenwelt eintauchen. Natürlich ist dieser dem Lesen so ursprüngliche, so wesenhafte Prozess des Sich-Spiegelns, der ja auch mit Fantasie und Perspektivwechseln einhergeht und insofern ein großes Moment der Befreiung enthält, nichts, was aus sich selbst heraus psychologisch abseitig wäre, im Gegenteil. Doch Pola Polanskis Protagonistin lebt ihre Manie mit so ausgeprägt psychotischen, narzisstischen Zügen aus, die ihren Ursprung nicht in der Lektüre, sondern anderswo haben, dass klar wird, dass die Autorin mit ihrer schizophrenen Figur auch ein Psychogramm unserer Zeit zu zeichnen versucht; ein Beispiel: Während Inka, so wie vor ihr schon ihre früh verstorbene Mutter, eine fast exzentrische Liebe zu Tieren verspürt, schöpft die Firma ihrer Familie ihre Gewinne gerade aus dem Geschäft mit toten Tieren, das unter dem Deckmäntelchen des Recyclings einen progressiven Anstrich erhalten soll:

Die Firma exportierte tierische Abfälle nach China. Dort waren Schweinsohren und andere Teile, die hierzulande als Abfälle gehandelt wurden, eine Delikatesse.

Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf

Da der Text sich jedoch, wie allein schon die grotesk in Szene gesetzte Theorie einer Reinkarnation Virginia Woolfs spüren lässt, nicht auf eine Entlarvung schizophrenen Sozial- und Konsumentenverhaltens beschränkt, freut man sich über seine erfrischende Vielschichtigkeit, die dem amüsanten und manchmal auch provokanten, aber im Unterschied zu dem der Protagonistin nie inhaltslosen Spiel mit der Intertextualität zu verdanken ist.

Oh, ein eigener Satz! Das war es. Sie musste in Virginias Sätze hineinschreiben wie in einen Flickenteppich. Man konnte heutzutage sowieso nur noch sampeln, es gab ja bereits alles. Die Kopie der Kopie der Kopie.

Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf

Ja, die Ironie macht auch vor dem Verfahren der Intertextualität selbst nicht halt, das, auf die reine Form bezogen, ins Leere abzudriften droht. Was ist das für eine Literatur, die sich an Klassikern abarbeitet, ohne etwas Eigenes mit hineinzubringen? Hier ist ironischerweise doch die so exzentrische Mutter der Protagonistin das vom Wahn befallene, aber innerlich von Fantasie und Geschichten blühende Gegenbeispiel. Der Roman bleibt uneindeutig und ein bisschen verrückt, und das ist gut so.

Bibliographische Angaben
Pola Polanski: Ich bin Virginia Woolf, Größenwahn (2021)
ISBN: 9783957712851

Bildquelle
Pola Polanski, Ich bin Virginia Woolf
 © 2021 Größenwahn Verlag bei der Bedey & Thomas Media GmbH, Hamburg

bookmark_borderRebecca Makkai: Ich hätte da ein paar Fragen an Sie

Beeindruckend! Ich hatte Die Optimisten, Rebecca Makkais Vorgängerroman über Kunst und Krankheit und ihre Stigmatisierung, mit Begeisterung gelesen und war deshalb gespannt auf diesen neuen Roman. Wieder hat sich die Autorin in ein komplexes Thema hineingearbeitet und hineingefühlt, diesmal in das vielgestaltige Thema von „Me too“ mit all seinen Konsequenzen und Verwicklungen, privat, öffentlich, rechtlich und medial.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive von Elizabeth/Bodie Kane, die viele Jahre später, als sie selbst als Lehrbeauftragte an das Internat ihrer Jugend zurückkehrt, zusammen mit ihren Studenten einen Fall wieder aufrollt, der sich ereignete, als sie selbst dort zur Schule ging. Eine Schülerin wurde ermordet in der Schwimmhalle aufgefunden, der junge schwarze Sporttrainer beschuldigt und nach schludrig geführten Ermittlungen zu lebenslanger Haft verurteilt. Nicht nur Bodie drängt sich der schreckliche Verdacht auf, dass seit Jahren der falsche Mann im Gefängnis sitzt.

Rebecca Makkai hat einen kritischen, Ambivalenzen zulassenden Gesellschaftsroman geschrieben, der sich stellenweise wie ein Krimi, dann wieder wie ein Internatsroman und vor allem gegen Ende wie ein Justizroman liest; einen Roman, der die Lebensgeschichte einer Frau in den Vordergrund stellt, mit ihr verknüpft aber zahlreiche weitere weibliche Lebensgeschichten mit ihren Beschädigungen, Verletzungen, Rissen, Wunden, Traumata um die zentrale Gestalt herum auffächert. So gelingt es der Autorin, ein großes gesellschaftliches Thema mit der fiktionalen Kraft des Romans, der Individuen und ihre persönlichen Erlebnis- und Gefühlswelten in den Vordergrund stellt, facettenreich auszuleuchten. An keiner Stelle hat man das Gefühl, dass die Handlung nur zur Illustration einer These oder eine Figur nur zur Demonstrierung einer Haltung da wäre, und trotzdem bringt sie mit ihrer bunten Figurenwelt eine schillernde Palette an Positionen ein, die zeigen, dass die Geschichte lange durchdacht wurde und das Ergebnis intensiver Recherche ist.

Bibliographische Angaben
Rebecca Makkai: Ich hätte da ein paar Fragen an Sie, Eisele 2023
Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell
ISBN: 9783961611737

Bildquelle
Rebecca Makkai, Ich hätte da ein paar Fragen an Sie
© 2023 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderAngelika Overath: Unschärfen der Liebe

Eine Zugreise von West nach Ost, von der Schweiz über den Balkan nach Istanbul, die eine Reise in die Geschichte der durchquerten Länder und Landschaften ist und zugleich eine Reise in die Innen- und Erfahrungswelt des Reisenden, beides skizzenhaft erzählt, oft in kurzen und Kürzestsätzen, flüchtig und doch eindringlich, bildhaft, wie die am Zugfenster vorbeigleitenden Landschaften. Die Erzählperspektive ist die des Reisenden, wie sollte es auch anders sein, des griechisch-türkischen Baran, den die intensiv durchlebte Distanz der langen, etappenreichen Zugfahrt längst Vergangenes und kürzlich Erlebtes, Traumatisches, Schmerzliches, auch Schönes, in jedem Falle Intensives und Unerwartetes, verarbeiten lässt. Das Buch ist nämlich auch eine unkonventionelle emotionale Dreiecksgeschichte, in der Alva, Schweizer Alpinistin und Exfrau von Cla, dem Geliebten Barans, und eben dieser, untreu gewordene und mit einem ganz anderen Hintergrund als Baran sozialisierte Cla eine wichtige Rolle spielen. Die Beziehungsgeschichte ist dabei auch lesbar als eine Metapher für die geistige und historische Beziehung der östlichen und westlichen Welt zueinander, mit all ihren Sehnsüchten, Missverständnissen und Verletzungen. Der Erzählung ist die Vergänglichkeit eingeschrieben, im Rhythmus des eintönig über die Gleise ratternden Zuges, die Vergänglichkeit von Beziehungen, im persönlichen wie im historischen Kontext, eine Vergänglichkeit, die ihnen zugleich erst ihre Tiefe, ihre, wenn auch prekäre Bedeutung, ihre Schönheit gibt. Ein auf unaufgeregte Art nachdenklich machendes Buch, das jedoch mit einem in mehr als einem Sinne erschütternden Finale aufwartet.

Bibliographische Angaben
Angelika Overath: Unschärfen der Liebe, Luchterhand Literaturverlag 2023
ISBN: 9783630876344

Bildquelle
Angelika Overath, Unschärfen der Liebe
© Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

bookmark_borderDaniela Krien: Der Brand

Daniela Krien hat schon in ihrem Vorgängerroman Die Liebe im Ernstfall gezeigt, dass sie sich gut in ihre Figuren und deren Beziehungsgefüge hineinzuschreiben versteht. Ähnlich locker und unterhaltsam geht sie auch in Der Brand wieder Männer- und Frauenrollen in unserer Gesellschaft auf den Grund, die sie von Vorurteilen und Klischees, auch solchen scheinbar progressiven Charakters, befreit. Diesmal steht eine Frauenfigur, die etwa 50jährige Rahel, im Vordergrund, aus ihrer Perspektive wird die Geschichte, die sich auf zwei intensiv erlebte Wochen konzentriert, in erzählerisch einnehmender Weise empfunden und erzählt.

Eigentlich war ein Urlaub an einem romantischen Idyll in den bayerischen Alpen geplant, doch der titelgebende Brand macht dieses Vorhaben kurzerhand zunichte. Da dieser Brand nicht erzählt wird und nur der Ausgangspunkt der Geschichte ist, die Rahel mit ihrem Mann Peter stattdessen zu einem ungeplanten Urlaub in die Uckermark führt, wo sie Haus und Hof einer langjährigen mütterlichen Freundin hüten sollen, liegt es nahe, darin eine Metapher zu sehen: eine Metapher für die Befindlichkeiten und existenziellen Nöte der Figuren. Zwischen diesen Begrifflichkeiten ist die Grenze hier nicht immer klar umrissen, sie immer wieder umzuwerfen, von neuem auszuloten, ist ein wichtiges Anliegen der Autorin sowie ihrer Erzählerin in diesem Buch.

Nicht zufällig macht Daniela Krien die Erzählerin zur Psychotherapeutin, ihren Mann zum Literaturwissenschaftler. Und konfrontiert ihre beruflichen und intellektuellen Perspektiven dann immer wieder mit dem gelebten Leben. Es geht um das Selbstverständnis und Zusammenleben als Paar nach 30 Jahren Ehe, um das Verhältnis zu den inzwischen erwachsenen Kindern, zu gesellschaftlichen Diskursen, von denen man sich entfremdet fühlt, zur ostdeutschen Vergangenheit, um die schmerzhafte Hinterfragung der eigenen Rolle als Mutter, als Tochter, als Frau, und immer wieder um den Platz, den man als Individuum in einer Gesellschaft einnimmt, die sich für einen selbst spürbar verändert hat.

Das stimmt immer wieder nachdenklich, lässt aber dank des selbstkritischen Charakters der im Vergleich zu ihrem bedachtsamen Ehemann recht impulsiven Erzählerin sowie dank des Talents der Autorin, Situationen der Konfrontation mit Humor zu schildern, genug Raum für eine Form der Leichtigkeit, die auch den schweren Ereignissen und Erfahrungen im Leben, den Bränden des Körpers und der Seele, mehr als nur einen Funken Lebensmut abzugewinnen versteht.

Bibliographische Angaben
Daniela Krien: Der Brand, Diogenes 2021
ISBN: 9783257070484

Bildquelle
Daniela Krien, Der Brand
© 2021 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderRobert Seethaler: Das Café ohne Namen

Robert Seethaler widmet sich in seinem neuen Buch wieder ganz den kleinen Leuten, den einfachen Menschen aus dem Volk, den Marktleuten und Fabrikarbeiterinnen, den Obdachlosen, brotlosen Künstlern und Kriegswitwen. Sie alle sind in dieser zarten Erzählung, der die Vergänglichkeit fast auf jeder Seite eingeschrieben ist, Verirrte oder Gestrandete: in einer vergangenen Zeit, dem Wien der 60er, 70er Jahre, und an einem namenlosen Ort, dem titelgebenden Café ohne Namen.

Dieses Café, das Robert Simon, der sich zuvor auf dem Markt mit Gelegenheitsarbeiten verdingt hat, in Erfüllung seines Lebenstraumes neu eröffnet, ist eigentlich kein Café, zumindest nicht im Sinne eines mondänen Kaffeehauses, sondern eher eine kleine bescheidene Wirtsstube mit Sommerterrasse und nur einer Bedienung, der jungen, zupackenden Mila, die vom Land kommt und ihrerseits im Café gestrandet ist, nachdem sie ihre Stelle in der Fabrik verloren hat.

Bescheidenheit und Unaufgeregtheit charakterisieren aber nicht nur die durchaus aufgewühlten und vom Schicksal gebeutelten Hauptfiguren, die mit einer Art radikalen Akzeptanz wie ein moderner Sisyphus ihren Fels immer wieder nach oben rollen und ihr Leben leben, sondern auch den Ton der Erzählung. All die Schicksale, in die man als Leser eintaucht wie in ein unbeabsichtigt belauschtes intimes Gespräch am Nebentisch eines Cafés, berühren in ihrer innewohnenden Traurigkeit, ohne einen jedoch deprimiert zurückzulassen. Denn in fast all diesen so einfachen Leuten, ob derb, skurril, verwirrt, verrannt oder sonstwie versehrt, ahnt man eine „verborgene Zärtlichkeit“, um den treffenden Ausdruck einer der Figuren zu verwenden. Diese ist auch der in ihrer scheinbaren Schlichtheit doch so gefangen nehmenden Schreibweise Seethalers eigen, dessen Erzähler verborgen ist, hinter seinen Figuren ganz zurücktritt, um ihnen momenteweise auf eine doch fast zärtliche Weise nahe zu kommen, ehe er sie wieder in das unaufhaltsame Wirken der Geschichte, in das unerbittliche Räderwerk der Zeit, entlässt.

Bibliographische Angaben
Robert Seethaler: Das Café ohne Namen, Claassen 2023
ISBN: 9783546100328

Bildquelle
Robert Seethaler, Das Café ohne Namen
© 2023 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

bookmark_borderMartin Suter: Melody

Was für Robert Seethaler das Leben der einfachen, kleinen Leute ist, das sind für Martin Suter die gehobenen Milieus, in denen seine Romane mit Vorliebe spielen. Bei der Schilderung dieser Welten, in denen Champagner fließt, die Anzüge maßgeschneidert sind und die Dialoge elegant, hat Martin Suter sichtlich eine große Freude, genauso wie darin, in diese so geglätteten Oberflächen feine Risse einzuweben, die sich mit Hintersinn füllen lassen.

Auch in Melody werden im Hause, nein, in der Villa des ehemaligen Weltmannes Dr. Peter Stotz edle Tropfen kredenzt, köstliche Gerichte von einer ergebenen italienischen Köchin serviert und die Millionen ebenso wie die edlen Oldtimer an die Erben vermacht. Was außerdem vermacht werden soll, ist die Deutungshoheit über das Leben des in Politik- und Finanzkreisen berühmt und reich gewordenen Dr. Stotz, der kurz vor seinem absehbaren Tod einen jungen Juralangzeitstudenten gegen Kost und Logis und ein immenses Honorar engagiert, seinen Nachlass zu sichten und für die Nachwelt zu ordnen. In vertraulichen Kamingesprächen offenbart er dem jungen Mann nach und nach den Teil seiner Lebensgeschichte an, der in dem zu sichtenden Ordnerchaos eine Leerstelle bleibt — seine große, verlorene Liebe zu einer Frau, die sich Melody nannte, die er in einer Buchhandlung kennenlernte und die kurz vor der geplanten Heirat scheinbar spurlos verschwand. Diese wie ein Feuilletonroman von Kamingespräch zu Kamingespräch fortgesetzte Liebesgeschichte baut Suter als zweite Erzählebene in seinen Roman ein, der natürlich gegen Ende auch noch in eine dritte mündet, in der alle Gewissheiten der ersten und zweiten erschüttert werden. In dem Wein, der im Hause Stotz eingeschenkt wird, liegt weniger die Liebe zur Wahrheit als zur Fiktion, mit der Suter, wie seine immer zwielichtigere Hauptfigur, sein fiktionsironisches Spiel treibt.

Das alles liest sich unbestreitbar süffig wie die Spirituosen in der Villa Stotz, auch wenn mir, im Vergleich mit früheren Romanen wie Elefant oder Small World, ein wenig die thematische Komplexität gefehlt hat. Es ist dann doch eine sehr selbstreferentielle Erzählung geworden, eine Feier der Fiktion, in der Lebenslügen und Liebesfluchten zur intelligenten Unterhaltung der Leser gesponnen werden.

Bibliographische Angaben
Martin Suter: Melody, Diogenes 2023
ISBN: 9783257072341

Bildquelle
Martin Suter, Melody
© 2023 Diogenes Verlag AG, Zürich

bookmark_borderTomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos

Du hast mich auf eine Weise angesehen, die mir das Gefühl gab, nicht beurteilt zu werden. Im Leben begegnen wir nicht vielen Menschen, die uns dieses Gefühl geben.“ Dieses Du, diese so intime Anrede des Erzählers, die für einen Moment auch etwas Irritierendes hat, als öffne man einen nicht für einen selbst bestimmten Brief, nimmt einen doch von der ersten Seite an gefangen und trägt einen hinein in eine Geschichte, in der Persönliches und Historisches sich auf eben sehr intime Weise miteinander verbinden. Der Erzähler richtet sich, wie im Laufe der Geschichte klar wird, an seinen Geliebten Janusz, und stellt mit dieser zumindest ungewöhnlichen Erzählhaltung eine Reminiszenz an den Autor James Baldwin her — dazu weiter unten noch mehr.

Im Wasser sind wir schwerelos ist der Debütroman von Tomasz Jedrowski, der als Kind polnischer Eltern in Westdeutschland aufgewachsen ist, in Cambridge und Paris studiert hat und heute in Paris lebt. Sein Erzähler Ludwik ist freilich eine fiktive Figur, doch kehrt er mit ihr gewissermaßen zurück in das Osteuropa seiner Vorfahren, in ein Polen, das in den 1980er Jahren einen Kampf zwischen rigoroser kommunistischer Staatspolitik und revolutionärer Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie ausfocht. Im Roman wächst Ludwik in Breslau bei Mutter und Großmutter auf, seine Kindheit ist von Geheimnissen umwoben, wie das heimliche Radiohören zuhause, und von einem tiefen Verlustgefühl geprägt; er wächst ohne Vater auf, die Mutter stirbt früh, sein jüdischer Freund Beniek, in den er sich verliebt, ist eines Tages von heute auf morgen verschwunden; die Zusammenhänge werden Ludwik erst im Nachhinein klar, die Unruhen im Land und die Repressionsmaßnahmen der Partei, für die die jüdische Bevölkerung ein willkommener Sündenbock ist.

Deshalb war Benieks Familie fortgezogen. Nachdem sie weg waren, sprach niemand mehr über sie. An einem Tag ist es dein Land und am nächsten nicht mehr.
Benieks Abreise bedeutete das Ende meiner Kindheit und meines kindlichen Denkens: Es schien, als hätte sich alles, wovon ich vorher ausgegangen war, als falsch erwiesen […].

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Ludwik geht zum Studium nach Warschau, vertieft sich heimlich in die Lektüre von James Baldwins Roman Giovannis Zimmer und lernt bei einem verpflichtenden Landwirtschaftshilfsprogramm Janusz kennen, der ihn fasziniert und der zugleich ein Seelenverwandter und so anders ist als er. Janusz kommt vom Land und sein größter Wunsch ist es, sozial aufzusteigen und sei es um den Preis der Anpassung an das System, während Ludwik seine Ideale, vor allem seinen Wunsch nach Freiheit, nicht verraten will. Ihre Liebe ist eine Zeit lang leicht und wunderbar, doch der nur schlecht verdrängte weltanschauliche Konflikt kommt an unvermuteter Stelle immer wieder an die Oberfläche. Was Ludwik während seiner Promotion in Warschau erlebt, schürt seine Gewissenskonflikte weiter an; die von oben gesteuerte Ernährungspolitik, die Schlangen vor den Geschäften, der Hunger, der Aufstand der Landwirte, ebenso wie das Versteckspiel seiner Liebe zu Janusz, all das lässt ihn zweifeln, ob es für ihn mit seinem Gewissen vereinbar ist, in einem Land zu bleiben, in dem er sich in jeder Hinsicht verbiegen und verstellen muss. Womit er sich in seiner Doktorarbeit über den schwarzen Schriftsteller Baldwin philosophisch auseinandersetzt, nämlich mit dem Versuch, innerhalb eines repressiven Systems eine äußerste gedankliche Freiheit zu erreichen, erscheint ihm in der eigenen Realität unmöglich.

„Komm mit mir“, flüsterte ich. „Es ist nicht zu spät. Wir könnten gehen, ohne dass jemand davon weiß, über die Berge in die Tschechoslowakei, dann weiter nach Österreich. Dort kennt uns niemand.“
„Wir hätten nichts“, kam es unter deinen Händen hervor. „Wir sprechen nicht die Sprache. Wir wären verloren.“
„Wir wären frei.“
Das Zimmer war so erfüllt von uns, von den geballten Wolken unserer Worte, dem Nebel unserer Gedanken.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Eins mit sich sein, ein Mensch sein, das bleibt im sowjetischen Satellitenstaat eine Utopie für Ludwik. Jedrowski gibt dieser Sehnsucht seiner Hauptfigur mit einer stark verdichteten Schreibweise seines Romans Ausdruck, in einer Art neuem poetischem Realismus.

Ich akzeptierte die Verbindung zwischen der Erde und meinem Körper, ich ließ los, und zum ersten Mal in meinem Leben honorierte ich alles als das, was es war, betrachtete es als Wunder. Ich sah die Erde als Erde, meine Hände als Hände, die Pflanzen, aus denen Samen wuchsen, die anderen um mich herum, alle mit ihren eigenen Rechten, Träumen und Innenleben.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Neben der nur augenblicksweise erspürten Verbundenheit mit der Erde ist auch das Element des Wassers von besonderer Bedeutung für Ludwik. In ihm kristallisiert sich die für den Roman zentrale Metapher der Schwerelosigkeit, die sich wie zur Probe mit den verschiedenen Elementen verbindet.

Ich dachte dann an unseren gemeinsamen Sommer, an die Unbeschwertheit, mit der wir durch den See geschwebt waren. Wenn ich schwamm, löste ich mich im Wasser auf, und aus den Tiefen meiner Erinnerung tauchte etwas in mir auf.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Diese Leichtigkeit im Wasser, das Gefühl von Vertrauen und Freiheit, verbindet er mit seiner früh verstorbenen Mutter, und er erfährt sie erneut, als er Janusz weitab von den anderen in der Hitze des Sommers und der gegenseitigen Anziehungskraft beim Baden im Fluss begegnet. Aber auch die riskante Schwerelosigkeit der herabsegelnden Flugblätter, die er als Akt des äußersten Widerstands, den er im System zu leisten imstande ist, und die betäubende Schwerelosigkeit der Rauschmittel, die er mit Janusz‘ Freunden einnimmt, sind Varianten derselben Metapher.

Schließlich noch ein Wort zur Intertextualität des Romans, die nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine sprachliche ist. Jedrowski bezieht sich explizit auf James Baldwin, indem er parallel zum Erwachen von Ludwiks Liebe zu Janusz seine intensive Leseerfahrung des amerikanischen Schriftstellers schildert. Die Darstellung einer homosexuellen Liebe in einem feindseligen gesellschaftlichen Umfeld ist teilweise bis in die Details eine deutliche Reminiszenz an Baldwins Roman Giovannis Zimmer (vgl. Rezension vom 09.07.2020). Besonders auffällig ist die in beiden Texten gewählte Erzählsituation eines unmittelbaren Rückblicks, der auf die Du-Form zurückgreift, und mit einer nachdenklichen, selbstbefragenden Schreibweise einhergeht, einer Gewissenserforschung, die einen großen Schmerz bereithält, den Schmerz der Liebe und der Erkenntnis ihrer Ausweglosigkeit in einer als unaufrichtig empfundenen Daseinsform. Auch der poetisch-melancholische Stil, der einen Realismus der Sprache nicht ausschließt, hat mich sehr an Baldwins Roman erinnert, den er zitiert, ohne ihn bloß zu imitieren. Denn Jedrowski gelingt über alle Ähnlichkeit hinaus zum Glück ein eigenständiger Stil, der Im Wasser sind wir schwerelos zu einer neuen und sehr lesenswerten Antwort auf Giovannis Zimmer macht. Hier ein abschließendes Textbeispiel:

Du hast mich auf eine Weise angesehen, die mir das Gefühl gab, nicht beurteilt zu werden. Im Leben begegnen wir nicht vielen Menschen, die uns dieses Gefühl geben. Und dennoch hatte ich an jenem Abend Angst, als ich im Bett lag und las […]. Angst wegen des Lochs, das durch mein Vertrauen in dich entstanden war, Angst vor der Verletzlichkeit, die es geschaffen hatte. […] Vor mir lag schwarz auf weiß die Unermesslichkeit der Lügen, die ich mir all die Jahre eingeredet hatte, gespiegelt im Leben des Erzählers, […] als würde meine Scham von einem kalten, klaren Licht beleuchtet. […] Seine Angst schürte meine Angst. Ich war wie David [die Hauptfigur aus Giovannis Zimmer], weder hier noch dort, fühlte mich nirgendwo wohl und sah keinen Ausweg.

Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos

Bibliographische Angaben
Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos, Hoffmann und Campe (2021)
Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit
ISBN: 9783455011173

Bildquelle
Tomasz Jedrowski, Im Wasser sind wir schwerelos
© 2021 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

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