bookmark_borderMichael Martens: Im Brand der Welten

Ivo  Andrić — Ein Europäisches Leben

Selten habe ich eine solch spannende, auf ausnahmslos jeder Seite fesselnde Biographie gelesen, die noch dazu in ihrer historischen Fundierung und quellenkritischen Differenziertheit absolut beeindruckend ist!

Dieses Buch soll weder ein Denkmal errichten noch ein Denkmal stürzen. Es ist der Versuch, sich einem Menschen und seiner Zeit zu nähern.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 465

So definiert der Autor Michael Martens, der als politischer Korrespondent selbst viele Jahre im (süd)osteuropäischen Ausland verbracht hat, sein rundum erreichtes biographisches Anliegen im Nachwort seines Buches, dessen erzählerische und wissensvermittelnde Leistung auf knapp 500 Seiten nie nachlässt. Dass dem Niederschreiben intensive Recherchen vorausgegangen sind — u.a. diplomatische Akten, Zeitzeugenberichte, Andrićs Notizbücher und natürlich sein umfangreiches literarisches Werk –, macht sich in der Qualität des Textes bemerkbar, der zugleich nie überfrachtet wirkt.

Natürlich sind das Leben und das zur Weltliteratur gehörende Werk des 1892 im heutigen Bosnien als katholischer Kroate — und formal sogar noch als osmanischer Staatsbürger — im Habsburgerreich geborenen Ivo Andrić, der 1961 den Literaturnobelpreis bekam und als jugoslawischer Spitzendiplomat Karriere machte, für sich schon ein schillernder Stoff. Doch Im Brand der Welten ist nicht nur die Biographie einer ohne jeden Zweifel spannenden intellektuellen Persönlichkeit, sondern ebenso die historische Biographie eines ganzen Jahrhunderts, des 20., und eines ganzen Kontinents, Europas.

In der Zeitspanne von 1892 bis 1975, in der Andrić gelebt hat, wurde Europa mehrfach grundlegend erschüttert, und Andrić, der im Laufe seines Lebens so unterschiedlichen historischen Figuren wie den Attentätern von Sarajevo, Hitler oder Picasso persönlich begegnete, stand als Zeit- und Augenzeuge oft mitten im turbulenten Weltgeschehen. Seine Biographie belegt anschaulich, dass die scheinbar randständige Region, aus der er stammte, in Wahrheit zum Kerngebiet der historischen Wendepunkte Europas im 20. Jahrhundert gehörte.

Kurz vor Andrićs Geburt war seine Heimat dem Habsburgerreich einverleibt worden, ohne jedoch die Spuren der jahrhundertelangen osmanischen Herrschaft auszulöschen, die die Region weiterhin prägten. Der Vater verschwindet früh, seine alleinerziehende Mutter vertraut das Kleinkind Onkel und Tante in Višegrad an, der Stadt, in der die berühmte Brücke über die Drina führt, um in einer der unter österreichisch-ungarischer Verwaltung neu entstandenen Fabriken das wenige Geld zum Leben zu erwirtschaften. Der Strukturwandel geht indes nur schleppend voran, das Kompetenzgerangel zwischen den konkurrierenden Monarchen blockiert viele Projekte wie den Eisenbahnbau, natürlich stets auf Kosten der Randregionen. Der junge Andrić, der fürs Gymnasium nach Sarajevo geht und später in Zagreb, Wien und Krakau studiert, empfindet eine tiefe Abneigung gegen die Herrschaft der Doppelmonarchie und engagiert sich — freilich mehr intellektuell — für ein von den Habsburgern unabhängiges vereintes Jugoslawien. Dafür tritt er auch der Bewegung „Mlada Bosna“ („Junges Bosnien“) bei, aus deren revolutionärsten Mitgliedern die späteren Attentäter des österreichischen Kronprinzen hervorgehen. Mit dem Attentat, das den Ersten Weltkrieg auslöst, hat Andrić selbst zwar nichts zu tun, trotzdem muss er — vielleicht verdächtig wegen eines frühen politischen Gedichts oder wegen seiner Jugendfreundschaft mit einem der Attentäter — für ein knappes Jahr ins Gefängnis.

Nach dem Krieg tritt Andrić in den Dienst des neuen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen ein. In Belgrad bekommt er einen Posten im Außenministerium und wird bald darauf als Diplomat nach Rom gesandt. Dort verfolgt er Mussolinis Aufstieg aus nächster Nähe und verfasst, natürlich zunächst unter Pseudonym, einige faschismuskritische Essays, die zu den wenigen deutlich geäußerten politischen Stellungnahmen Andrićs gehören. Es folgen Stationen in Bukarest, Triest, Graz, wo er die für den diplomatischen Dienst verlangte Dissertation nachholt, Marseille und Madrid, wo er begeistert die Kunst und das Leben Goyas studiert und im kunstpoetischen Gespräch mit Goya niederschreibt. Nach Aufenthalten in Brüssel und Genf kehrt er nach Belgrad zurück, wo sich die großserbische Monarchie inzwischen in eine Diktatur verwandelt hat und sich von oppositionellen Unabhängigkeitskämpfern bedroht sieht. Tatsächlich wird König Aleksandar 1934 in Marseille ermordet. Andrićs Karriere ist davon nicht betroffen, vielmehr steigt er im Außenministerium weiter auf, bis er 1939 als außerordentlicher Gesandter in Hitlers Berlin kommt.

In Berlin muss Andrić aber mit vielen Menschen Umgang pflegen, die er verachtet — und dabei auch eine moralische Gratwanderung vollziehen. (…) Es überrascht nicht, dass der Schriftsteller Andrić in Berlin fast gänzlich hinter dem Diplomaten verschwindet.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 222

Doch alle diplomatischen Winkelzüge, von denen Andrić selbst im Übrigen mehr und mehr aufgrund der sich auch in Jugoslawien zuspitzenden Lage — es wird um Saloniki geschachert, serbische Offiziere putschen gegen Prinzregent Paul — ausgeschlossen wird, was ihm nach dem Krieg zugute kommen wird, können nicht verhindern, dass Hitler 1941 dem jugoslawischen Königreich den Krieg erklärt. Von 1941 bis 1944 hält sich Andrić zum Großteil im besetzten Belgrad auf. Hier entstehen nun in einem unermüdlichen Schaffensprozess seine großen Romane, die ihn später weltberühmt machen: Wesire und Konsuln, Die Brücke über die Drina und Das Fräulein. An Weltruhm denkt er beim Schreiben jedoch sicherlich nicht:

Die Arbeitswut ist eine Überlebensstrategie. (…) Andrić klammert sich an das Schreiben, um nicht zu verzweifeln. Sein Schreiben ist existenziell. Er schreibt ins Nichts hinein. Er weiß nicht, ob seine Manuskripte am nächsten Tag bei einem Bombenangriff verbrennen oder bei einer Razzia beschlagnahmt werden. Er ahnt nicht, ob nicht schon in der Nacht die Gestapo an seine Tür klopfen und ihn mitnehmen wird. Er weiß nicht einmal, ob es je wieder einen Staat geben wird, in dem er veröffentlichen kann. (…) Der Krieg ist zugleich die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Andrić seine großen Werke überhaupt schreiben kann.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 268

Trotz eingehender Schilderungen all der weltbewegenden historischen Ereignisse kommt der Schriftsteller Andrić in der Biogaphie nicht zu kurz; vielmehr geht Martens auch intensiv auf die charakteristischen Merkmale seiner Literatur ein, die u.a. von Essays über große epische Romane bis hin zur kürzeren Form der Erzählung reichen. Martens nennt Andrić einen „genaue(n) psychologische(n) Beobachter, der trotz der konservativen Form seiner Texte ein moderner Erzähler ist“ (S. 155), seine psychologischen Skizzen „meisterliche Portraits von Menschentypen, die jeder kennt“ (S. 277). Die unermüdliche Fleißarbeit des Schriftstellers, der Stunden, Tage, Wochen in Archiven verbringt, um Material zu sammeln, das er teilweise erst Jahrzehnte später literarisch verwendet, wird ebenso hervorgehoben wie sein Talent, das Gesammelte poetisch zu verdichten. Außerdem tauche bei Andrić, lange bevor daraus ein europäisches Konfliktthema wurde, die Frage auf, „ob Orient und Okzident, ob Europa und der Islam miteinander existieren können oder nicht“ (S. 279). Zugleich sei jedoch „Andrićs Bosnien eine literarische Privatlandschaft, ein mythisch überhöhter Kontinent“ (S. 280), weswegen weder die spätere Instrumentalisierung noch die Verdammung seines Werks der vielschichtigen und sich einseitigen Zuschreibungen entziehenden Literatur des Schriftstellers gerecht werde. Andrić habe unabhängig von religiösen Zugehörigkeiten „schlicht kein sonderlich positives Bild, wie Menschen, die Macht haben, mit jenen Menschen umgehen, die keine haben“. (S. 281) Im Übrigen hat Andrić selbst immer wieder betont, dass seine Texte, auch wenn sie in der Vergangenheit spielten, keine historischen Romane seien:

Die Vergangenheit zu beschreiben heißt nicht, vor der Gegenwart zu fliehen, sondern nur, einen bestimmten Blickwinkel der großen menschlichen Wirklichkeit zu beschreiben, welche die Vergangenheit und die Gegenwart und die Zukunft umfasst und alles, was in ihnen ist — menschliche Leben und Taten und ihre Träume und Gedanken.

Ivo Andrić, zit. nach Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 411

Der Zweite Weltkrieg ist verheerend, ganz besonders auch für Jugoslawien, wo die deutschen Besatzer sogenannte Sühnelager einrichten, in denen sie für jeden Getöteten aus ihren Reihen blutige Rache an ihren jugoslawischen Geiseln nehmen, wo die Shoa 60000 von 75000 Juden das Leben kostet und wo schließlich auch noch ein schrecklicher Bürgerkrieg ausbricht, in dem sich kroatische Ustaše („Aufständische“), serbische Tschetniks und kommunistische Partisanen gewaltsam bekämpfen:

(In Bosnien) ist die Hölle auf Erden entstanden, in der jeder jeden bekämpft. Das ist Teil der Strategie der Besatzer. (…) Im Schatten der von den Besatzern verübten Verbrechen bricht in Jugoslawien ein Bürgerkrieg aus, dem mehr als eine halbe Million Menschen zum Opfer fallen.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 239

Nach der deutschen Niederlage übernehmen die Partisanen unter Tito die Macht in Jugoslawien, Massenmorde finden statt und auch Andrić bangt um Leben und Freiheit, wird aber verschont und von nun an als literarisches Aushängeschild des kommunistischen Jugoslawiens in das neue Regime integriert. Andrić akzeptiert den Kommunismus, so wie er zuvor die serbische monarchische Diktatur akzeptiert hat, als „notwendiges Übel, das dem Jugoslawismus das Überleben sichert“ (S. 310). Er passt sich an, arrangiert sich und es vollzieht sich die verblüffende „Metamorphose des einstigen königlichen Gesandten Andrić zu Genosse Ivo“ (S. 311). 1961 erhält er den Nobelpreis, zu einem Zeitpunkt, als das gemäßigt auftretende kommunistische Jugoslawien international Anerkennung findet, zieht sich jedoch mit dem Alter mehr und mehr von seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen zurück. Mit seiner Frau Milica Babić, die er erst spät geheiratet hat, verbringt er bis zu ihrem Tod viel Zeit an der Küste in Herceg Novi, schreibt Erzählungen und stürzt sich, als sie stirbt, ein letztes Mal in die schriftstellerische Arbeit an zwei monumentalen Projekten, den „von lauter Migranten, Flüchtlingen, Entwurzelten“ (S. 402) bevölkerten Roman Omer Pascha Latas, über dessen historisches Vorbild der Biograph Martens übrigens einen vortrefflichen geschichtlichen Abriss gibt, sowie sein stilistisch modernstes Werk mit dem Titel Wegzeichen, „Anti-Tagebuch“ und „poetische Summe eines Lebens“ (S. 426).

Im Brand der Welten ist eine ungemein bereichernde und lebendig erzählte Geschichtsstunde, die einen das Europa des 20. Jahrhunderts aus einer weniger vertrauten Perspektive, nämlich der Südosteuropas, betrachten lässt. Historische Ereignisse, Zusammenhänge, Konflikte, die einem durchaus bekannt sind, werden hier noch einmal aus einem unbekannten und überaus erkenntnisreichen Blickwinkel heraus erzählt.

Ebenso faszinierend ist, wie behutsam sich Martens der immer wieder sich entziehenden Persönlichkeit Andrićs annähert, die man als Leser von Seite zu Seite besser kennenlernt, obwohl der Biograph sich jeder vorschnellen Einschätzung enthält und alle Gerüchte, Meinungen und Urteile über den Autor prüft, gegeneinander abwägt, revidiert, verfeinert. Es entsteht das Bild eines schwer greifbaren, da eher zurückgezogenen Charakters, der nach außen hin ein durchaus gefälliges, weltgewandtes Auftreten hatte und entsprechend große Anerkennung in seiner Funktion als Diplomat fand, die ihm allerdings auch als willkommene Fassade zu dienen schien, hinter der er seine persönlichen, intimen Gedanken und Gefühle verborgen halten konnte. Das schlug sich auch in seinem literarischen Werk nieder, aus dem er seine eigene Person genauso wie konkrete Anspielungen auf seine Gegenwart heraushalten wollte, was nicht zuletzt dazu beitrug, dass es bis heute zeitlose Gültigkeit besitzt und gut lesbar ist. So schreibt Martens über sein vielleicht persönlichstes, da auf lebenslangen Tagebucheinträgen beruhendes Werk Wegzeichen:

Die Genese der literarischen Miniaturen soll nicht erkennbar sein, Rückschlüsse auf ihre Entstehung, auf die Beziehungen zwischen seinen Gedanken und einzelnen Lebensetappen will Andrić nicht zulassen. Er will sich im Text auflösen.

Michael Martens: Im Brand der Welten, S. 426

Dieses extreme Streben nach Privatheit, nach einer Trennung von persönlicher Meinung und öffentlicher Anpassung, was freilich auch Andrićs Doppelrolle als Diplomat bzw. politischer Vertreter und Schriftsteller geschuldet war, deren Kombination ihm einen großen Spagat abverlangt haben musste, hatte zur Folge, dass Außen und Innen gerade in Bezug auf die politischen Regime, mit denen er sich immer wieder arrangierte, oftmals ziemlich weit auseinanderklafften. Martens schreibt von einem Zerfallen in einen „Nacht-Andrić und einen Tag-Andrić“ (S. 232). So ist es nicht erstaunlich, dass hier auch der Vorwurf des Opportunismus im Raum stehen bleibt, wenngleich Martens betont, dass Andrić konsequent das Schreiben über die Politik gestellt habe und seinem einzigen politischen Ideal, dem vereinten Jugoslawien, ein Leben lang treu blieb, auch wenn das bedeutete, so unterschiedliche Regime wie Monarchie und Kommunismus zu unterstützen.

Ein weiterer Vorwurf, den Martens diskutiert und entkräftet, ist der von Andrićs angeblicher Islamfeindlichkeit, der einer einseitigen Auslegung von seiner sich der Tagespolitik stets entziehenden Literatur entspringt, jedoch zu großen Missverständnissen und zu einer fatalen Instrumentalisierung im Jugoslawienkrieg der 1990er Jahre führte.

Martens Biographie ist eine Bereicherung für jeden (literatur)geschichtlich interessierten Leser und eine inspirierende Motivation, in ein vielfältiges und geradezu klassisches literarisches Werk einzutauchen, das gemeinhin weit weniger bekannt ist als etwa die qualitativ vergleichbaren Texte französisch- oder englischsprachiger Autoren. Ich jedenfalls habe mir sofort die Erzählung Der verdammte Hof besorgt, in der Andrić mit mehrfach verschachtelten Erzählebenen spielt und einmal mehr den in die Vergangenheit zurückreichenden bosnischen und osmanischen Schauplatz nicht als folkloristische Kulisse, sondern als Ort zeitloser menschlicher Fragen und Konflikte verwendet, die sich in diesem Fall — die Erzählung wurde 1954 veröffentlicht — wohl auch, aber eben nicht ausschließlich, als versteckte Kritik am kommunistischen Regime lesen lassen. Und wessen Interesse für den „Nacht-Andrić“ nach der Lektüre geweckt wurde, der kann sich auf eine deutsche Textausgabe mit Auszügen aus den in schlaflosen Nächten gefüllten Notizbüchern freuen, die im Herbst unter dem Titel Insomnia — Nachtgedanken in der Übersetzung des Biographen erscheinen. Ich bin schon überaus gespannt!

Michael Martens: Im Brand der Welten — Ivo Andrić — Ein Europäisches Leben, Zsolnay (2019)
ISBN: 9783552059603

bookmark_borderElizabeth Anderson: Private Regierung

Ich finde, auch in Deutschland reden wir zu wenig und zu undurchsichtig über unsere Arbeit, weshalb willkürliche Ungleichheiten der Entlohnung ebenso wie eine unverhältnismäßige Ungleichheit der sozialen Hierarchien am Arbeitsplatz, in Form belastender oder gar entwürdigender Einschränkungen von Respekt, Status und Autonomie der Arbeitnehmer zur Steigerung des unternehmerischen Profits, oft unhinterfragt hingenommen werden. Die amerikanische Philosophin Elizabeth Anderson bricht in ihren 2014-15 in Princeton gehaltenen Tanner Lectures, die inzwischen in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen sind, ein unausgesprochenes Tabu: Sie entlarvt die in Persönlichkeitsrechte hineinreichende private, d.h. nicht öffentlich diskutierte, sondern rechenschaftsfreie Herrschaft der Arbeitgeber über ihre Arbeitnehmer in privaten Unternehmen als anstößig und vielfach ungerechtfertigt und unterzieht die allseits akzeptierte Legitimierung solcher quasi diktatorisch agierenden „privaten Regierungen“ inmitten demokratischer Staaten durch die mit der modernen Lebens- und Arbeitswelt nicht mehr in Einklang zu bringende liberalistische Idee des freien Marktes einer grundlegenden Ideologiekritik.

Zentrales Anliegen der Philosophin ist es denn auch, die heute aus dem Blick geratene Frage nach Formen privater Herrschaft und Unterdrückung am Arbeitsplatz wieder zum Thema der politischen Theorie zu machen und einen öffentlichen Diskurs darüber anzustoßen, wie auf Kosten zahlloser Lohnarbeiter — und ganz besonders der Arbeitnehmer aus dem Niedriglohnsektor — eine kleine Schar privater Geschäftsmänner von einem „symbiotische[n] Verhältnis zwischen Libertarismus und Autoritarismus“ profitieren, „das unsere politischen Diskurse […] wie Mehltau überzieht“ (Anderson, S. 11) und mit der ursprünglichen Idee des Liberalismus nichts mehr zu tun hat.

Denn das Ideal einer freien Marktwirtschaft, so stellt Anderson es in einem historischen Rückblick heraus, war zu Beginn ein Anliegen der Linken und untrennbar mit egalitären sozialen Zielen verbunden. So ging es den frühen Fürsprechern des Liberalismus im 17. Jahrhundert, den Levellers, um die Befreiung der Menschen aus patriarchalen Formen der Unterwerfung und um den Abbau von Monopolen in allen Lebensbereichen der Gesellschaft zugunsten der sozialen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Individuen. Adam Smith knüpfte mit seiner ökonomischen Vision an diese Ideen an und hatte ebenfalls vor allem Kleinbauern und Kleinunternehmer im Blick, in deren durch den Liberalismus garantierten wirtschaftlichen Unabhängigkeit er die beste Voraussetzung für eine human und freiheitlich gestaltete zukünftige Gesellschaft sah. Doch die Vordenker des Liberalismus konnten nicht ahnen, dass sich die Markt- und Arbeitsverhältnisse mit der Industriellen Revolution grundlegend verändern würden. Anderson hebt hervor, welch radikaler Einschnitt mit der Ausbreitung der großen Fabrik- und Industriebetriebe für die sozialen Hierarchien zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verbunden war. Die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung bestand von nun an aus abhängigen Lohnarbeitern und war weit entfernt vom Ideal der wirtschaftlichen Selbständigkeit eines Handwerkers oder Kleinbauern. In einer solchen Situation bedeutet ein von staatlichen Eingriffen freier Markt jedoch nicht mehr Gleichheit und Freiheit, sondern im Gegenteil Konzentration einer mit Macht verbundenen unternehmerischen Autonomie in den Händen einzelner einflussreicher Großbetriebe und damit die Etablierung eines nicht öffentlichen Raums privat regierter Arbeitsplätze:

Wenn der Großteil der Bevölkerung selbständig ist, ist ein Plädoyer gegen staatliche Einmischung eine völlig andere Aussage, als sie es heute wäre.

Anderson: Private Regierung, S. 66

Während Anderson ihren Blick hauptsächlich auf die große Zahl der Angestellten und Lohnarbeiter richtet, erstrecken sich die Formen privater Herrschaft meines Erachtens in vielen Fällen auch auf scheinbar unabhängige Soloselbständige oder Kleinunternehmen, die — gerade zur Aufrechterhaltung ihrer wirtschaftlichen Selbständigkeit — bisweilen gezwungen sind, hierarchische Ungleichheiten und Autonomieverluste in Kauf zu nehmen, etwa wenn sie Aufträge auch um den Preis einer diktatorischen Behandlung durch die auftraggebenden Konzerne annehmen müssen. Dies liegt nicht zuletzt an der Entstehung neuer Monopole — große Finanzhäuser oder Konzerne wie Google, Amazon oder Netflix –, die nicht etwa unter staatlicher Herrschaft stehen, sondern in einem zu wenig regulierten ökonomischen Freiraum gedeihen können und den freien und gleichen Wettbewerb verzerren. In einem Artikel in der ZEIT vom 26.3.2020 spricht genau in diesem Sinn der Finanzexperte und ehemalige Abgeordnete der Grünen, Gerhard Schick, von einer Transformation der sozialen Marktwirtschaft in eine „Machtwirtschaft“, in der nicht das beste Produkt gewinnt, sondern eine kleine wirtschaftliche Machtelite, die dem Staat die Regeln diktiert und über die einflussreichsten Lobbys und größten Geldakkumulationen verfügt. Wirklich frei und selbständig wirtschaften können heute nur die wenigsten, allen gleich ist nur die Marktwertabhängigkeit, die neue Privilegien schafft. Denn wie Anderson schreibt, liegt ein Denkfehler des mit der Industriellen Revolution einhergehenden neuen Liberalismus darin, dass auch die Arbeitskraft selbst, also der Mensch, als Ware betrachtet wird anstatt als autonomes Subjekt. So kommt letztlich nur eine kleine Schar Privilegierter in den Genuss der Vorteile des freien Marktes, die einst für die große Mehrheit angedacht waren:

Während Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an der Spitze der Unternehmenshierarchie eine solche Freiheit ebenso besitzen wie eine Handvoll Topathleten, Mediengrößen und Starakademiker, [wird in der vielfach geäußerten Verteidigung privater Regierung die Tatsache ignoriert], dass die große Mehrheit der Arbeitnehmer, die nicht durch Gewerkschaften vertreten wird, die Bedingungen für die Autorität des Arbeitgebers überhaupt nicht aushandelt.

Anderson: Private Regierung, S. 106

Anderson zufolge ist der reine Arbeitsvertrag, der den freien Ein- und Austritt aus dem Arbeitsverhältnis garantiert, alles andere als ausreichend, um die Möglichkeit des Machtmissbrauchs in der privaten Regierung des Arbeitgebers zu minimieren. Auch der Zeitraum dazwischen muss mit einer rechtlichen Infrastruktur versehen werden. Anderson ist grundsätzlich dafür, hier die Rolle des Staates zum Schutz der Arbeitnehmer zu stärken, hält darüber hinaus aufgrund der vielfältigen, ganz unterschiedlich strukturierten Arbeitsplätze aber auch interne Regelungen, etwa in Form von Mitspracherechten der Arbeitnehmer, für unverzichtbar.

In einiger Hinsicht sind die europäischen Länder hier weiter als Amerika, dessen Arbeitsverhältnisse den Ausgangspunkt von Andersons Kritik darstellen. Doch auch wenn die Autorin sogar gewisse in Deutschland praktizierte Formen der Mitsprache in Betrieben als Vorbild anführt, lassen sich auch hier Strukturen der Ungleichheit am Arbeitsplatz ausmachen, die unnötig Stress und Unzufriedenheit hervorrufen. Viele Arbeitnehmer leiden unter willkürlichen Arbeitszeiten, kurzfristigen und familieninkompatiblen Einsatzplänen, unter der unterschwelligen Stigmatisierung von kurzen Wortwechseln mit Kollegen oder Toilettengängen als „Zeitdiebstahl“, unter mangelnder Anerkennung, Leistungsdruck auf Kosten der (psychischen) Gesundheit oder unter einer Überstrapazierung der vertraglich oft bewusst unbestimmt gehaltenen Arbeitsbereiche, die es dem Arbeitgeber ermöglicht, sein Personal in nicht weiter zu rechtfertigenden „ökonomischen Notlagen“ willkürlich zu Aufgaben zu zwingen, die nichts mit der Qualifikation des Arbeitnehmers zu tun haben. Gerade in nicht hochqualifizierten Berufen wie Einzelhandel oder Pflege ist ein Verschleiß von menschlichen Arbeitskräften alles andere als unüblich. Öffentlicher Redebedarf ist also auf jeden Fall angebracht, in Deutschland ebenso wie in Amerika.

Ich lege keine Blaupause für eine bessere Verfassung der Regierung am Arbeitsplatz vor. Vielmehr schlage ich einen Rahmen für das Reden über den Arbeitsplatz vor, in dem wir artikulieren können, wie die Arbeitnehmerinteressen von der Macht beeinträchtigt werden, die Arbeitgeber über die Beschäftigten ausüben, und wie alternative Verfassungen für die Regierung am Arbeitsplatz angelegt sein könnten, um den Interessen der Beschäftigten aufgeschlossener und ihrer Würde und Autonomie respektvoller zu begegnen.

Anderson: Private Regierung, S. 30

Private Regierung ist ein wichtiges Buch. Denn das Bedürfnis nach mehr Mitsprache und Autonomie am Arbeitsplatz ist unumstritten vorhanden; dass es bisher zu wenig firmeninternen Diskurs darüber gibt, liegt sicher auch an der das Schlaglicht auf die ungleichen sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz werfenden Angst vor Entlassung. Und gerade deshalb ist ein öffentlicher Diskurs, den die einflussreiche Philosophin Elizabeth Anderson mit ihren Vorlesungen in Amerika angestoßen hat, so wichtig und sollte unbedingt auch hier Gehör finden.

Elizabeth Anderson: Private Regierung — Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden), Suhrkamp (2019)
ISBN: 9783518587270

–> Zur Neuauflage 2020 in der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft

bookmark_borderDein ist mein ganzes Herz — Ein Franz-Lehár-Lesebuch

Bald ist es wieder soweit, und die Apfelblüten leuchten in der silbernen Frühlingssonne, ein orphisch-chinesischer Jüngling, dessen Liebe die Saiten in der erwartungsvollen Dämmerung zum Klingen bringt, hat ein paar dieser rosaweißen Frühlingsjuwelen gepflückt und legt in zartem Tenor einen Kranz daraus seiner Liebsten vors Fenster, und eine melancholische Weise erklingt… Am 30. April werde ich mein ganz persönliches Lieblingslied von Franz Lehár auflegen und mit seiner unvergleichlich schönen Musik lächelnd seines Geburtstags gedenken!

Auch der Böhlau Verlag feiert Franz Lehár. Zum 150. Geburtstag des Komponisten ist dort ein Sammelband mit dem Titel „Dein ist mein ganzes Herz“ erschienen, herausgegeben von Heide Stockinger und Kai-Uwe Garrels. Der Untertitel – „Ein Franz-Lehár-Lesebuch“ – legt nahe, welche Zielgruppe die Herausgeber mit dem etwa 200seitigen, mit historischen Fotografien und Karikaturen illustrierten und mit einer umfangreichen biographischen Übersicht ausgestatteten Buch im Blick haben: Es richtet sich nicht an Musikwissenschaftler und Spezialisten, sondern an eine musik- und vielleicht noch besser musiktheaterinteressierte Leserschaft, die in den „bezaubernden Kosmos“ (Geleitwort), den Lehár mit seiner Musik geschaffen hat, eintauchen will, die sich für den Mythos begeistern, der den Schöpfer des Welthits der „Lustigen Witwe“ immer noch umgibt, und die neugierig ist auf historische Hintergründe und biographische Anekdoten. Entsprechend dem Anliegen des Verlags, der sich als Wissenschaftsverlag bezeichnet, aber darüber hinaus auch einem breiteren Publikum Sachthemen näherbringen möchte, ergibt sich aus dieser neuesten populärwissenschaftlichen Publikation zu Franz Lehár insgesamt ein facettenreiches Bild des Komponisten, seines Schaffens und seiner Zeit. Jedoch werden sich völlig „lehárferne“ Leser ohne Kenntnis seiner Musik und seines geradezu mythischen Stellenwerts in der „Silbernen Ära“ der Operette wohl eher schwerer tun, dem weniger der Chronologie denn persönlichen Vorlieben folgenden Enthusiasmus der Artikelschreiber zu folgen. Also doch eher ein Buch für Fans, die sich in dieses Lesebuch in ebensolcher Muße vertiefen können, wie sie auch einer Lehár-Aufnahme an der heimischen Stereoanlage lauschen würden… und die es bei der Lektüre dann über kurz oder lang in den Füßen juckt, zu Lehárs berühmter Villa in Ischl zu pilgern oder zu einem Konzert im Garten seines barocken Schlössls in Wien, das übrigens einstmals im Besitz von Emanuel Schikaneder war.

Geschrieben wurden die Aufsätze dieses Lesebuchs von einer Hand voll Kulturschaffender aus Österreich, die alle einen beruflichen oder persönlichen Bezug zu Franz Lehár oder zur Operette haben; fast scheinen die Fäden des Sammelbandes alle im Lehár Festival Bad Ischl zusammenzulaufen, und so macht Michael Lakner, der die Festspiele dort viele Jahre lang prägte, durchaus auch mal nicht ganz uneitel Werbung in eigener Sache. Was dem ehemaligen Intendanten von Ischl besonders am Herzen liegt, nämlich die Aufführung auch unbekannterer Werke des Komponisten, ist auch eines der Anliegen des vorliegenden Sammelbandes, der zum Beispiel eine Begegnung mit Lehárs „italienischer Operette“, „La danza delle libellule“, enthält; hier erinnert sich Eduard Barth mit sehr persönlichen Eindrücken an eine Aufführung in Triest 1982, um anschließend dem Leser informatives Hintergrundwissen darüber an die Hand zu geben, wie aus Lehárs eher unpopulärem „Sterngucker“ im neuen Arrangement des umtriebigen Impresarios Carlo Lombardo ein Überraschungserfolg als italienischer „Libellentanz“ beschieden wurde.

Dabei war Lehár, so erfährt man in diesem Lesebuch an mehreren Stellen, Änderungen an seinen Stücken, sofern er sie nicht selbst vornahm, eher abgeneigt. Vor diesem Hintergrund gibt auch die sich endlos hinziehende (und letztlich Stückwerk gebliebene) „Arisierung“ seiner frühen, „jüdischen“ Operette „Der Rastelbinder“ — aus der Feder des jüdischen Librettisten Vicor Léon, mit der jüdischen Hauptfigur Pfefferkorn, der in der Uraufführung auch vom jüdischen Tenor Louis Treumann gesungen wurde –Aufschluss über das berufliche und persönliche Dilemma, in dem sich der Komponist, dessen Ehefrau Sophie selbst Jüdin war, seit Beginn der Naziherrschaft befand. Wolfgang Dosch verteidigt Lehár in seinem Aufsatz gegen den mitunter erhobenen und angesichts der Begeisterung Hitlers für die „Lustige Witwe“ und der Ohnmacht des Komponisten gegenüber dem Schicksal seines Librettisten Fritz Löhner-Beda, der im KZ zu Tode geprügelt wurde, nicht völlig abwegigen Vorwurf, ein Mitläufer oder Sympathisant der Nazis gewesen zu sein. Doch zahlreiche jüdische Stimmen sprechen für den Komponisten, ebenso wie die langjährige Zusammenarbeit Lehárs mit dem Kabarettisten Rudolf Weys, der mit der Neufassung des „Rastelbinder“ betraut wurde, ebenfalls eine jüdische Frau hatte und gerade dank dieser Zusammenarbeit mit dem berühmten Komponisten einigen Schikanen der Nazis entkam.

Schön ist es, dass den zum Großteil jüdischen Librettisten in diesem Lehár-Lesebuch auch eine gebührende Würdigung zuteil wird. So erfährt man etwa von dem damals viel gebuchten Duo Leo Stein und Béla Jenbach, die „eine regelrechte ‚Operettenlibrettofirma‘ betrieben“ (Michael Lakner) und schon einmal in einen an heutige Arbeitsverhältnisse erinnernden Abgabestress gerieten, etwa als sie 1920 gleichzeitig an der „Blauen Mazur“ für Lehár und dem „Hollandweibchen“ für seinen Konkurrenten Emmerich Kálmán arbeiteten. Und dabei war Meister Lehár es doch gewohnt, das fertige Libretto vor sich liegen zu haben, bevor er sich an die Vertonung machte! Auch der große Einsatz der Librettisten Fritz Löhner-Beda und Ludwig Herzer für das ihnen besonders am Herzen liegende Stück „Friederike“ kommt in Heide Stockingers spannendem und in die Tiefe gehendem Aufsatz zur Sprache, in dem sie schildert, wie die beiden Librettisten auf die für eine Operette durchaus ungewöhnliche Idee des Goethe-Stoffes kamen, wie intensiv sie sich mit Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und seinen „Sesenheimer Liedern“ auseinandersetzten und wie sie den anfangs skeptischen Lehár mit ihrer Begeisterung für den Stoff anstecken konnten. Für die Transformation des biographischen Materials, das der große Goethe seinerseits ja in seinen Erinnerungen bereits literarisiert hatte, in eine bühnenwirksame musiktheatralische Fassung nahmen sich die Librettisten natürlich auch die Freiheit heraus, die „Wahrheit“ ein wenig anzupassen:

Weder hat Friederike auf ihren Goethe verzichtet, um ihm nicht seine Karriere zu verbauen (…) – die Berufung nach Weimar, im Singspiel Anlass für Friederikes „Opfer“, kam ja erst Jahre später. Noch hat Goethe, wie im Singspiel ausgeführt, bei der Tanzveranstaltung in Straßburg Ringe für sich und Friederike bereit. Unterwerfung der Protagonistinnen unter männliche Lebensentwürfe wie in der „Friederike“ und zum Beispiel auch in Lehárs Operetten „Paganini“ und „Zarewitsch“ müssen als Dokument der Zeit begriffen werden, was weiblichen Operettenfreunden heutzutage mitunter schwerfällt…“

Heide Stockinger im Franz-Lehár-Lesebuch

Ungeachtet manch beißender Kritik, die sich an der Verwandlung Goethes in eine Operettenfigur entzündete, war das Publikum damals tief beeindruckt von den wunderschönen Melodien, die Lehár zu den von Löhner-Beda behutsam-poetisch in Liedtexte umgearbeiteten Goethe-Gedichten schrieb. Das innige Duett „All mein Fühlen, all mein Sehnen“ lehnt sich an Goethes „Willkommen und Abschied“ an, so mancher, der die 6. Strophe von Goethes „Mailied“ liest, hört sie innerlich in der berühmt gewordenen Interpretation des Lehár-Goethes Richard Tauber („Oh Mädchen, Mädchen, / Wie lieb‘ ich dich“) und Lehárs „Röslein auf der Heiden“ kann, so das Urteil einer hingerissenen Heide Stockinger, sogar mit der bekannten Schubert-Melodie mithalten.

Überhaupt wird die enge Zusammenarbeit und Freundschaft des Komponisten mit dem Tenor Richard Tauber, dem Lehár ab seinem „Paganini“ die Musik sozusagen auf den Leib schrieb, in dem Sammelband ausführlich hervorgehoben. Als „Tauber-Lieder“ haben viele der wunderschönen Operettenarien Lehárs einen geradezu mythischen Zauber entwickelt, der die Beliebtheit des Komponisten und des Interpreten gleichermaßen steigerte.

Inwieweit der mit Lehár im Bad Ischler Sommer 1928 die „Tauber-Lieder“ komponierende Richard Tauber auch seinen Anteil an der musikalischen Gestaltung der Sesenheimer Liebesgeschichte und der Innigkeit der „Goethe-Lieder“ hat, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Nicht nur das Mitkomponieren von Liedern für Lehár, auch seine Bühnenpräsenz, schauspielerische Begabung, seine wie für die Operette geschaffene Stimme (die aber auch für lyrische Gesangspartien in Opern „wie geschaffen war“) und nicht zuletzt seine umgänglich humorvolle Wesensart beförderten Lehárs Kreativität während der Spätblüte der Silbernen Operettenära in einem kaum groß genug einzuschätzenden Maß. Was wäre aus dem „Meister“, der die Lebensmitte bereits überschritten hatte, geworden, hätte es „den Tauber“ nicht gegeben?

Heide Stockinger im Franz-Lehár-Lesebuch

Lassen wir zum Abschluss noch Richard Tauber selbst zu Worte kommen, von dessen Erinnerungen aus dem Londoner Exil an die künstlerische Hoch-Zeit mit Lehár in diesem Lesebuch einige ausführliche und überaus lesenswerte Auszüge abgedruckt sind:

Viele hunderte Male habe ich von der Bühne herab, wenn „Franzl“ am Dirigierpult saß, ihm seine mir gewidmeten „Lieder“ zugesungen, und er wird wissen, dass ich immer mit meinem ganzen Herzen dabei war. Wie oft sah ich um seine Lippen einen ironisch lachenden Zug, wenn ich oben auf der Bühne meinem musikalischen Übermut freien Lauf ließ, wenn das Publikum die Wiederholung seiner Schlager mit den Füßen zu erkämpfen anfing und ich vom Falsett zum Fortissimo und wieder Piano überging und einige musikalische Husarenstückchen einschob, bis ich wieder Anschluss an Lehár fand. In solchen Augenblicken bestand jedoch zwischen uns beiden immer innerer Kontakt. Ich wusste, dass der feine Musiker da unten am Pult wissen wird, wie ich es meine.

Richard Tauber in seinen Londoner Erinnerungen, abgedruckt im Franz-Lehár-Lesebuch

Dein ist mein ganzes Herz — Ein Franz-Lehár-Lesebuch, herausgegeben von Heide Stockinger und Kai-Uwe-Garrels, Böhlau 2020
ISBN: 9783205209638

bookmark_borderStefan Weidner: 1001 Buch — Die Literaturen des Orients

Den Nahen Osten assoziiert man ebenso wie den Islam gegenwärtig fast nur noch mit Konflikt, Gewalt und Fundamentalismus. Die Medien sind voller Bilder, die uns den „Orient“, einst ein mythisch aufgeladener Begriff, in dem Märchenhaftes, Poetisches schwang, mehr denn je als anders und bedrohlich zeigen. Dabei hat der sogenannte Orient eine unendlich reiche und vielfältige Literaturtradition, die der Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner in seinem neuen Buch mit ansteckender Begeisterung in einem zwangsläufig selektiven, aber fundierten Überblick für uns westliche Leser zur Anschauung bringt.

Trotz Edward Saids Entlarvung des „Orients“ als westliche Projektion verwendet Weidner den Begriff für seine Literaturgeschichte; er geht aber von einem weiten, kulturell-ideellen Orientbegriff aus, der sich seiner kolonialistischen Geschichte bewusst ist. Für Weidner ist der Orient ein „polykultureller Imaginationsraum von beträchtlichem utopischen Potential“. Zu den Literaturen des Orients zählt er die islamisch geprägte Literatur — wohl wissend, dass ein über die Jahrhunderte hinweg immer wieder aufscheinendes Merkmal eben dieser Literatur ihre religionskritische Haltung war –, die sich gerade durch ihre Hybridität auszeichnet. Denn diese orientalische Literatur kennt nicht nur den Koran und Tausendundeine Nacht — bezeichnenderweise ist selbst dieser Text, der Inbgriff des Orientklischees, eine hybride, interkulturelle Erscheinung par excellence, mit indischen Wurzeln und in seiner gängigsten Version auf eine in den Orient rückübersetzte, stark erweiterte Form seines ersten westlichen Übersetzers Antoine Galland zurückgehend –, sondern trägt ebenso mystische Traditionen, zoroastrische, spätantike und hebräisch-jüdische Einflüsse in sich, umfasst das Persische, Arabische, Osmanische und viele weitere Sprachen bis hin zur teilweise in europäischen Sprachen geschriebenen Exilliteratur der Gegenwart. Der Austausch zwischen Orient und Okzident, ihre gegenseitige Prägung und die Kulturtransfers in beide Richtungen sind aus der Literaturgeschichte des Orients nicht wegzudenken.

Da es dem Autor vor allem darum geht, Leselust und Neugier auf ein hierzulande wenig bekanntes literarisches Terrain zu wecken, ist seine Literaturauswahl trotz des gleichzeitigen Anspruchs, einen repräsentativen Überblick zu schaffen, deutlich von seiner subjektiven Leseerfahrung geprägt — er legt uns besonders die Texte ans Herz, die uns als potentielle neue Leser orientalischer Literatur begeistern könnten –, sowie nicht zuletzt von dem, was überhaupt in deutscher Übersetzung verfügbar ist, und das ist nur ein Bruchteil des riesigen literarischen Schatzes, den der Orient bereithält. Doch horizonterweiternd ist die Lektüre von Weidners Buch allemal; wenn man es zuende gelesen hat, muss man sich zum einen fast zurückhalten, nicht gleich einen überdimensionalen Stapel spannender Orientlektüre in der Bibliothek zu bestellen, den man in der vorgesehenen Leihfrist niemals bewältigen könnte, und zum anderen wird einem auf sehr anschauliche, mit konkreten Beispielen unterfütterte Weise bewusst, dass sich Weltliteratur zu keiner Zeit auf den westlichen Kanon beschränken lässt.

Indem wir den verschiedenen Stimmen und Gegenstimmen lauschen, die aus den literarischen Texten des Orients zu ihren Lesern sprechen, sensibilisieren wir unser Verständnis auch für die Konflikte, die diese Region geprägt haben und prägen, für die Risse, die durch die Gesellschaften des Nahen Ostens gehen. Natürlich ist ein Eintauchen in diese Texte nicht immer ohne Hürden möglich und manche, gerade sprachliche, Dimensionen bleiben einem in der Übersetzung oft verschlossen; so ist das Hocharabisch des 7. Jahrhunderts noch heute der geltende Standard für literarische Texte, wenn sich die Autoren nicht bewusst für regionale Dialekte entscheiden, deren Klang in den Ohren arabischer Leser dann freilich eine ganz andere Sprengkraft hat. Doch Weidner liefert dankbarerweise jedesmal ausreichend Hintergrundwissen zu den beschriebenen Büchern mit und schildert literarische, aber auch historisch-gesellschaftliche und kulturelle Traditionslinien und Brüche, die sich in der Literatur widerspiegeln.

Vorgestellt werden die religiösen Texte, insbesondere der Koran und die Hadithe, die Aussprüche und Taten des Propheten Mohammed, und ihre inhaltlichen und stilistischen Besonderheiten, etwa die Abfassung in Reimprosa, die schriftlicher Fixierung widerstrebende Mündlichkeit und die kaum übersetzbare Vieldeutigkeit der heiligen Texte.

Den weitaus größeren Raum nimmt die vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit verfasste fiktionale Literatur ein, die erst im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert Fahrt aufnehmende Moderne sowie die jüngsten, die arabischen Revolutionen der 2010er Jahre vorausahnenden oder sie verarbeitenden literarischen Texte. Die vorherrschende Erzählliteratur ist lange Zeit die sogenannte Adab-Literatur, gehobene Unterhaltungsprosa. Demgegenüber galten die bei uns so berühmten orientalischen Märchen aufgrund ihrer mündlichen, vorislamischen Ursprünge als weniger anspruchsvoll. Einen großen Einfluss hatten — und haben ihn bis heute — mystische Dichter wie Ibn Arabi, der in seinem Werk Übersetzer der Sehnsüchte mit der Mehrdeutigkeit des Wortes „Islam“ (dt. „Hingabe“) spielt und eine pantheistisch geprägte Verschmelzung von Erotik und Gottesliebe zum Ausdruck bringt; in Abgrenzung zu seinem dem Sufismus nahe stehenden und überaus beliebten und viel rezipierten Werk hat sich früh die fundamentalistische Strömung des Salafismus herausgebildet. In der Literatur des Mittelalters findet sich aber zum Beispiel auch ein Dichter wie al-Ma’arri, ein Skeptiker des mittelalterlichen Islams und womöglich Vorbild von Dante Alighieri, der 300 Jahre vor dem italienischen Dichter eine sehr humorvolle Jenseitsreise, Paradies und Hölle, verfasste. Das islamische Mittelalter brachte jedenfalls eine große Vielfalt an literarischen Texten hervor, von denen uns viele heute überraschend frech, freizügig und religionskritisch erscheinen. Hervorzuheben ist auch die im Vergleich zur europäischen Literaturgeschichte des Mittelalters bedeutende Zahl an Autorinnen. Eine spezielle Situation herrschte damals außerdem im islamischen Teil Andalusiens, wo hebräisch-jüdische, romanisch-christliche und arabisch-islamische Texte einander begegneten.

In der Neuzeit deutlich mehr rezipiert und übersetzt als die arabische wurde die persische Dichtung, von der Hafis‘ Diwan aus dem 14. Jahrhundert nur ein, wenngleich wohl das dank Goethe bei uns prominenteste Beispiel ist. Die Gedichte wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts von dem österreichischen Orientalisten Hammer-Purgstall recht frei, aber in poetischer Begeisterung übersetzt, von der sich viele Europäer, und nicht zuletzt Goethe, der in der Folge seinen eigenen West-östlichen Divan schrieb, anstecken ließen. Tatsächlich zeigt sich in der persischen Diwan-Dichtung, wie Stefan Weidner schreibt, ein universalisierbarer Islam, der auf einem inneren Gottesverständnis beruht und sein vielgestaltiges Erbe nicht leugnet, sondern stolz ist auf die hybriden Quellen, aus denen er schöpft — und der somit gerade heute ein wertvolles Gegenbild zur Intoleranz fundamentalistischer Religionsausübung ins Gedächtnis rufen kann:

Anders als Gotteskrieger, koranschwingende Demagogen und Selbstmordattentäter ist dieser geistige Islam in den Massenmedien natürlich nicht sichtbar. Wir brauchen dafür die Literatur und das Buch.

Stefan Weidner, 1001 Buch, S. 121

Die orientalische Moderne integrierte schließlich auch die Form des Prosaromans nach westlichem Vorbild in ihre Literaturen, es fanden Umbrüche in der Lyrik statt, die bezeichnenderweise v.a. im heute so zersplitterten Irak wichtige Vorreiter hatten, neue weibliche Stimmen kristallisierten sich heraus, die schreibend ihren Platz zwischen individueller Freiheit und kollektiven Traditionen auszuloten suchen. Überhaupt charakterisiert sich die Literatur des Orients bis heute durch eine literarische Verarbeitung von Gesellschaftskonflikten und bringt das Konkurrieren von Religion, Tradition und Moderne sehr vielschichtig und allzu oft mit — der düsteren Realität geschuldetem — gewaltsamem Ausgang zur Darstellung.

So gelingt Stefan Weidner in Form eines Sachbuches das, was der französische Schriftsteller und Orientalist Mathias Enard mit seinem grandiosen Roman Kompass in der Fiktion unternommen hat: uns den Orient als vielgestaltigen, komplexen, faszinierenden geistigen Raum näherzubringen, Klischees, wie etwa die „Blumigkeit“ oder „Unaufgeklärtheit“ der orientalischen Literatur, als solche zu entlarven und im Gegenteil ihre Vielfalt und unauflösbare Verwebung mit den kulturellen Räumen des Okzidents aufzuzeigen.

Bibliographische Angaben
Stefan Weidner: 1001 Buch — Die Literaturen des Orients, Edition CONVERSO (2019)
ISBN: 9783981976335

Bildquelle
Stefan Weidner, 1001 Buch — Die Literaturen des Orients
© 2019 Edition CONVERSO

bookmark_borderGilles Kepel: Chaos — Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen

Seit Jahrzehnten ist der Nahe Osten als Konfliktherd in den Nachrichten, kein Land in dieser Region ist unversehrt von Gewalt, Bürgerkrieg, Militärschlägen, Attentaten, im Gegenteil, mit der Schreckensherrschaft des so genannten „Islamischen Staates“ zwischen 2014 und 2017 und dem immer noch auf unabsehbare Zeit andauernden und so viele verschiedene Akteure und wechselnde Koalitionen bindenden Syrienkrieg scheint die Lage verfahrener denn je. Und umso unübersichtlicher — wer verfolgt in diesem Krieg welche Interessen, wer rächt welche vergangenen Taten, ist die Türkei nun gegen den Diktator Assad oder bekämpft sie aus Angst vor dem kurdischen Separatismus die Rebellen? Und welche Rolle spielt eigentlich der Iran? Warum trauen sich Salafisten und Muslimbrüder nicht über den Weg, obwohl sie doch beide als sunnitisch-islamistische Bewegungen gelten, und was ist der Unterschied zwischen den dschihadistischen Zielen Al-Qaidas und dem verbrecherischen Konstrukt des „Islamischen Staats“?

Gilles Kepel, französischer Arabist und Politikwissenschaftler, versucht in seinem neuen Buch Chaos — Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen Ordnung in diese wirklich äußerst komplexe Lage zu bringen, und das gelingt ihm ganz schön gut. Ich habe bei der Lektüre seiner über 400 Seiten starken Analyse jedenfalls ziemlich oft innerlich „Aha!“ gerufen und das Buch mit dem — angesichts der sehr beunruhigenden gesellschaftspolitischen Situation freilich getrübten — Gefühl intellektueller Befriedigung geschlossen, einige für das Verständnis des Nahen Ostens unabdingliche Erkenntnisse gewonnen zu haben.

Dass der Autor die Komplexität dieser Konflikte so gut durchdringen kann, liegt nicht zuletzt daran, dass er seit langem in intensivem Kontakt mit der Region steht. Gilles Kepel lernte den Nahen Osten in den 1970er Jahren kennen, u.a. als Stipendiat am Institut Français in Damaskus, und schloss weitere Forschungsaufenthalte an, die bis heute andauern. Seine Doktorarbeit, in der er lokale islamistische Bewegungen untersuchte, schrieb er in Ägypten. Seitdem hat er zahlreiche Reisen in den Nahen Osten und nach Nordafrika unternommen und führte viele Gespräche vor Ort, die auch in das aktuelle Buch mit einfließen. Er ist somit zugleich Augenzeuge und Wissenschaftler, und diese doppelte Perspektive wirkt sich sehr positiv auf die Tiefe und detailreiche Anschaulichkeit seiner Analyse aus. Sein fundiertes Wissen und die akribische Recherche stellt Kepel seinen Lesern in einem darüber hinaus auch sehr gut lesbaren Text zur Verfügung, indem er nämlich kulturelle, gesellschaftliche und historische Hintergründe in seine Argumentation integriert und wichtige Fakten oder Zusammenhänge auch auf die Gefahr der Wiederholung hin mehrfach in Erinnerung ruft, was meines Erachtens für jeden Leser, der kein absoluter Kenner des Nahen Ostens ist, sehr angebracht ist.

Dennoch erfordert die Lektüre Konzentration, was bei der Fülle der Akteure, der Länder und Regionen, der religiösen und politischen Strömungen, ihrer unterschiedlichen und konkurrierenden Antriebe und Ziele, nicht Wunder nimmt. Trotz der guten Gliederung des Stoffes, die es einem erleichtert, sich Zusammenhänge zu erschließen und einen Überblick zu erhalten, ist Chaos auf keinen Fall ein Buch, das man einfach so nebenbei konsumieren kann. Der Autor nimmt dem Leser das Denken — zum Glück — nicht ab, aber er erleichtert es einem, er bahnt uns gewissermaßen einen freilich steilen Weg in eine Region, in der wir sonst verloren wären.

Kepels Text ist eine ausgewogene Kombination aus detailreichem Nachzeichnen der zahlreichen einzelnen Konflikte und dem Aufzeigen großer Linien und Tendenzen. So leuchtet er die gesamte Region aus, die den Nahen Osten und Nordafrika umschließt, beschreibt den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Hintergrund jedes einzelnen Landes und die Art und Weise, wie es in den großen Konflikt involviert ist. Dabei analysiert er aufs genaueste die verschiedenen religiösen Strömungen, porträtiert die einflussreichsten dschihadistischen Wortführer und ihre Ideologien ebenso wie politische Führungsfiguren, Parteien oder Bewegungen. Dieses horizontal-regional aufbereitete Material ergänzt er durch eine vertikal-chronologische Achse, auf der er einen Überblick über die zentralen Etappen und Entwicklungslinien in einem Zeitraum von fast einem halben Jahrhundert herstellt. So verfolgt er insbesondere die wachsende Islamisierung der Politik im Nahen Osten und hebt die Bedeutung der iranischen Revolution hervor: 1979, der Beginn der Islamischen Republik, ist für ihn ein Schlüsseljahr, da von nun an der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten die regionalen Konflikte antreibt und verschärft; der religiös stigmatisierte Feind ist nicht mehr (nur) Israel, sondern auch die Anhänger der Schia (und umgekehrt), bevor auch der Westen zum ideologisch-religiös aufgeladenen Feindbild wird. Sehr anschaulich und nachvollziehbar beschreibt Kepel vor diesem Hintergrund auch die drei Phasen des Dschihadismus, der in der ersten Phase, als Spielfigur im Kalten Krieg, von den USA instrumentalisiert und angeheizt wurde, in der zweiten Phase mit Al-Qaida eine hierarchische Terrorstruktur errichten konnte, mit welcher der Konflikt sichtbar und spürbar auch in den Westen übertragen wurde, und in der dritten Phase schließlich, die im so genannten „Islamischen Staat“ kulminierte, die hierarchischen Strukturen durch ein System internationaler und virtueller Vernetzung ersetzte, das mittels ungebundener, lokaler Einzeltäter überall auf der Welt und längst auch in Europa den islamistischen Terror explodieren lässt.

Einen großen Raum in Kepels Text nimmt weiterhin seine Analyse der unterschiedlichen Ausprägungen und der gravierenden Folgen des „Arabischen Frühlings“ ein, den er als Euphemismus bezeichnet, da sich außer in Tunesien die Hoffnung auf eine Demokratisierung der Region nicht erfüllt hat. Schließlich richtet der Autor einen besonderen Fokus auf den noch andauernden Krieg in Syrien, für ihn ein Kernkonflikt, an dessen Ausgang sich die Weichen für die Zukunft der Region stellen werden.

Kepel macht keinen Hehl aus seinem Misstrauen in den politischen Islam, den er für das zentrale Problem der Dauerkonflikte im Nahen Osten hält. Deshalb legt er in seinem Text immer wieder den Finger in die Wunde und hebt die religiös motivierten Zwiste und Aufspaltungen sowie die gefährliche Konstruktion religiöser Feindbilder hervor, die auch alle politischen und gesellschaftlichen Konflikte ideologisch aufladen und in Verbindung mit geopolitischen Machtkämpfen ein besonders explosives Potential haben. Gleichwohl durchdringt der Autor ebenso die eine eigene Dynamik auslösende Verwicklung weltpolitischer Akteure in den Konflikt sowie die strukturellen und historischen Ursachen. Der zweite Unruhestifter neben der Religion ist für Kepel das Öl, mit dem sich nicht nur autoritäre Regime und lokale Eliten auf Kosten einer verarmenden, unter hoher Jugendarbeitslosigkeit leidenden Bevölkerung bereichert haben, sondern das im Laufe der Geschichte auch oftmals zu wirtschaftlich motivierten internationalen Eingriffen oder eben Nicht-Eingriffen geführt hat. Dass der Nahostkonflikt durch die sich überkreuzenden Interessen der internationalen Akteure stark beeinflusst wird, ist Gilles Kepel absolut bewusst. Immer wieder verfolgen diese ihre eigenen (sicherheitspolitischen oder wirtschaftlichen) Interessen in der Region, wie es der von russischer und amerikanischer Seite angetriebene Kampf um Afghanistan im Kalten Krieg ebenso veranschaulicht wie die Anti-Terror-Ideologie der hart intervenierenden amerikanischen Neokonservativen nach dem 11. September. Auch im gegenwärtigen Syrienkonflikt treten die Rivalitäten verschiedenster Akteure zutage, die zum Teil egoistisch, zum Teil zögerlich und ungeschickt taktieren, was die Unübersichtlichkeit der Situation weiter verschärft.

Aus dem Text geht auch hervor, wie verhängnisvoll schlechte Diplomatie sein kann und wie essentiell das Durchschauen der unterschiedlichen Motive für eine Beruhigung des Chaos sein wird. Kepel sieht die Region als eine große Herausforderung für Europa und macht mehr als deutlich, dass wir in diesen Konflikt — durch die Terroranschläge, die massenhafte Flucht, die wirtschaftlichen Vernetzungen — längst zu sehr verwickelt sind, um keine Verantwortung zu übernehmen.

Bibliographische Angaben
Gilles Kepel: Chaos — Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen, Kunstmann (2019)
Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Jörn Pinnow, Originaltitel: Sortir du chaos — Les crises en Méditerranée et au Moyen-Orient, Gallimard (2018)
ISBN: 9783956143205

Bildquelle
Gilles Kepel, Chaos — Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen
© 2019 Verlag Antje Kunstmann GmbH

bookmark_borderEva Illouz: Warum Liebe endet — Eine Soziologie negativer Beziehungen

Eigentlich wollte ich ja unbedingt den gerade auch im deutschen Buchhandel erschienenen Roman Faux départ (dt. Fehlstart) der jungen französischen Autorin Marion Messina lesen, um die als neuer, weiblicher Houellebecq viel Wirbel gemacht wird. Doch dann kam mir die Soziologin Eva Illouz dazwischen, deren spannende Thesen seit einiger Zeit immer wieder auftauchen — und ich bin neugierig geworden. Vor allem, weil ihre genauen Beobachtungen über die verwandelten sexuellen und romantischen Beziehungsmuster in unserer vernetzten Gesellschaft ein ziemlich gutes Hintergrundpanorama für eine Lektüre von Faux départ darstellen könnten.

Eva Illouz, die schon in einigen richtungsweisenden Publikationen die Veränderung der romantischen Beziehungen im Kontext von Kapitalismus, Massenmedien und Konsumgesellschaft analysiert hat, setzt sich in Warum Liebe endet mit der Kehrseite der sexuellen Freiheit auseinander, untersucht das als marktlogische Konsequenz der gestiegenen Wahlfreiheit entstandene Spannungsverhältnis von Autonomie und Bindung und deckt mit scharfem Blick tradierte und neue Machtstrukturen auf, die die allseits postulierte Autonomie des modernen Menschen unterlaufen und eine tiefe emotionale Unsicherheit hervorrufen.

Die Argumentation des Textes ist dabei explizit soziologisch: Die Autorin, Professorin für Soziologie in Jerusalem und Paris, betont diesen auf die Gesamtgesellschaft gerichteten Blickwinkel und hält ihn für eine notwendige Ergänzung der psychologischen Disziplin, zumal sie deren therapeutische Herangehensweise an das emotional verunsicherte Selbst in der Moderne als dem vom Kapitalismus nicht zu trennenden Autonomiestreben inhärente und damit systemimmanente Methodik betrachtet; und schon gar nicht will sie das Feld den Optimierungs- und Lifestyle-Ratgebern überlassen, selbst Ausdruck einer technisierten Konsumlogik, die diese eher verschleiern als aufarbeiten. Eine soziologisch motivierte Analyse der Liebesbeziehungen kann im Gegensatz dazu und über Einzelfälle hinaus Aufschluss geben über das Wesen sozialer Interaktion in unserer heutigen Gesellschaft.

Aus dieser Perspektive beschreibt Eva Illouz auf absolut überzeugende, nachvollziehbare, kritische, aber keinesfalls moralisierende Weise, wie die zunehmende Sexualisierung und Technologisierung die Struktur der Beziehungen und Nicht-Beziehungen (also der scheiternden oder vermiedenen oder einseitigen oder unklaren „Beziehungen“) tiefgreifend verändern, wie die Kategorie der sozialen Klasse durch den allgemeinen und vor allem auf visuellem Feld ausgetragenen kapitalistischen Wettbewerb ersetzt worden ist („skopischer Kapitalismus“), wie die Inszenierung von „Sexyness“ Liebende in Konsumenten verwandelt, wie Wahlfreiheit und Überangebot zu unterschwelliger Machtausübung und Unverbindlichkeit führen und wie dadurch letztlich eine ontologische Ungewissheit entsteht (das Ich fühlt sich in seiner Autonomie bedroht und ist sich selbst der eigenen Gefühle und Wünsche nicht mehr sicher), die ihrerseits instabile Beziehungen begünstigt.

Für ihre wahrlich komplexe Analyse, die sich jeder Simplifizierung und voreiliger Schlüsse enthält und dennoch erstaunlich flüssig zu lesen ist, zieht die Autorin soziologische, psychologische, philosophische, aber auch wirtschaftliche Forschungsliteratur ebenso heran wie Filme, Werke der Literaturgeschichte von Trollope bis Houellebecq und technologische Anwendungen und Phänomene (Tinder, Sexting). Ein plastisches, realitätsbezogenes, differenziertes Bild heutiger (Nicht-)Beziehungen entsteht auch durch die Integration zahlreicher aufschlussreicher und vielfältiger Interviews mit Männern und Frauen verschiedenen Alters und unterschiedlicher sexueller Ausrichtung über ihre Erfahrungen und Einstellungen sexueller und emotionaler Art. Diese Kombination von konkreten, aus dem Leben gegriffenen Beispielen und der Herausarbeitung überindividueller Strukturen gesellschaftlicher Interaktion sorgt für einen großen Erkenntnisgewinn. So gelingt es der Autorin, Widersprüchliches in unseren Gefühlen und Beziehungen aufzudecken, unsichtbare Kräfte und verdeckte Asymmetrien (insbesondere in Bezug auf die Geschlechterrollen) in unserer scheinbar emanzipierten Gesellschaft zu entlarven.

Ein absolut lesenswertes Buch, das in klarer Sprache formuliert, was man so oder so ähnlich vielleicht unbewusst auch schon empfunden, aber selten so umfassend, hellsichtig und nuanciert gelesen hat.

Eva Illouz: Warum Liebe endet — Eine Soziologie negativer Beziehungen, Suhrkamp (2018)
Aus dem Englischen von Michael Adrian
ISBN: 9783518587232

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner